Teil 1: FCL-Fan verliert sein linkes Auge

Gummischrot in Luzern – eine Chronologie des Schreckens

«Jede hätts chönne träffe»: FCL-Fans fordern ein Gummischrotverbot. (Bild: fcl.fan-fotos.ch)

Für den FCL-Fan, der Anfang August von Gummischrot im Gesicht getroffen wurde, können die Ärzte nichts mehr tun. Er ist auf dem linken Auge erblindet – und bei Weitem kein Einzelfall. In Luzern wurden in den letzten eineinhalb Jahren mindestens fünf weitere Fussballfans durch Gummischrot schwer verletzt.

«Ich kann mich nicht an eine Warnung erinnern, ich habe nichts gehört», erinnert sich ein FCB-Fan in der «Basler Zeitung» an den Abend vom 30. Januar 2022 zurück. Ohne Vorwarnung habe die Luzerner Polizei vor dem Auswärtssektor der Swissporarena mit Gummischrot in die Menge geschossen. Ein Projektil traf den Basler gemäss dem Bericht mitten ins Auge.

Nach mehreren Operationen unter Vollnarkose und zweimonatiger Arbeitsunfähigkeit lautete die Diagnose: um 30 Prozent vermindertes Sehvermögen auf dem rechten Auge, eingeschränktes Blickfeld am rechten Rand. Das räumliche Sehen bereite ihm nach wie vor Mühe, sagte er dem Basler Journalisten.

Daran habe sich nichts geändert, teilt die Fanarbeit Basel auf Anfrage mit. Der betroffene FCB-Fan müsse regelmässig in die Augenkontrolle, es gehe ihm aber einigermassen gut.

Löschte Luzerner Polizei Einsatzvideos?

Der besagte Polizeieinsatz löste kontroverse Diskussionen aus (zentralplus berichtete). Während die Luzerner Polizei den Gummischroteinsatz rechtfertigte, warfen ihr die Fussballfans aus Basel im Onlinemagazin «Bajour» willkürlichen Mitteleinsatz vor. In einem Video ist zu sehen, wie mehrere Polizisten ohne erkennbare Bedrängnis das Feuer eröffnen.

Erst neun Monate später kam es nach mehrfachem Insistieren der Fanarbeit Basel zu einem wenig aufschlussreichen Debriefing. Die Luzerner Polizei hatte, so die Fanarbeit Basel, fast alle Einsatzvideos gelöscht. Die Polizei hingegen bestritt die Löschung (zentralplus berichtete).

Kein Einzelfall

Das Schicksal des FCB-Fans ist bei Weitem kein Einzelfall. Als es nach dem Gastspiel des FC St. Gallen vom 20. Mai 2023 zu massiven Ausschreitungen am Bundesplatz und an der Zentralstrasse kam, wurden mehrere Fans aus der Ostschweiz durch Gummischrot verletzt (zentralplus berichtete). Beinahe sei es infolgedessen zu einer Massenpanik gekommen, berichteten zahlreiche FCSG-Fans übereinstimmend, während die Luzerner Polizei den Mitteleinsatz als «verhältnismässig» bewertete (zentralplus berichtete).

Die Luzerner Polizei in Vollmontur im Einsatz rund um ein Heimspiel des FC Luzern. (Bild: jdi)

Fünf Personen mussten ins Spital, weil sie mit Gummischrot im Gesicht – auch am Auge – getroffen worden seien, wie die St. Galler Fanorganisation Dachverband 1879 mitteilte. Dies bestätigte die Luzerner Polizei, sie wusste aber vorerst «nur» von vier durch ihren Mitteleinsatz Verletzten (zentralplus berichtete).

Zum aktuellen gesundheitlichen Zustand dieser Fans konnten weder der Fussballclub noch die Fanarbeit St. Gallen Auskunft geben. Der Dachverband 1879 war für eine erneute Stellungnahme nicht zu erreichen.

FCL-Fan verliert sein linkes Auge

Von Gummischrot mit voller Wucht auf dem Auge getroffen wurde auch FCL-Fan David Z.*, wie eine Diagnose des Luzerner Kantonsspitals (Luks) zeigt (zentralplus berichtete). Nach dem FCL-Europapokalspiel gegen den schwedischen Club Djurgårdens IF vom 3. August 2023 entwischten rund 30 Stockholmer Fans der Luzerner Polizei und griffen die FCL-Fans direkt vor dem Stadion an. Als die Polizei eintraf, versuchte sie die Fans zu trennen – mit Gummischrot. Später stellten sich die Ordnungshüter ein ordentliches Zeugnis aus (zentralplus berichtete).

Der Screenshot einer ersten Diagnose des Luzerner Kantonsspitals. David Z. wurde am Tag nach dem Match gegen Djurgårdens IF mehr als fünf Stunden lang operiert.

Am Luks musste sich David Z. mehreren Operationen unterziehen. Nach einer letzten OP am vergangenen Mittwoch teilte ihm ein Facharzt mit, dass sein linkes Auge zu schwer beschädigt sei, um noch gerettet werden zu können, wie der FCL-Fan gegenüber zentralplus sagt:

«Ich bin auf dem linken Auge erblindet.»

Kantonsspital musste schweigen

Während David Z. noch immer im Spital war, hatte die Luzerner Polizei eine Woche nach dem Einsatz vor der Swissporarena keine Kenntnis von einem schwerverletzten FCL-Fan (zentralplus berichtete). Auch, weil das Luzerner Kantonspital zum Schweigen verpflichtet ist. «Unsere Mitarbeitenden unterstehen hinsichtlich der Patienteninformationen dem strafrechtlichen Berufsgeheimnis sowie den Vorgaben des Datenschutzes», erklärt die Kommunikationsabteilung des Luks gegenüber zentralpus. «Diese Geheimhaltungspflichten gelten grundsätzlich auch gegenüber der Polizei und den Staatsanwaltschaften.»

In gewissen Fällen habe das Luks gestützt auf Paragraf 27 des Luzerner Gesundheitsgesetzes gesetzliche Melderechte oder gar Meldepflichten. Zum Beispiel bei unklaren Todesfällen. Doch eine solche Ausnahme liege im Fall von David Z. nicht vor, sodass der FCL-Fan das Spital mittels schriftlicher Vollmacht explizit zur Auskunftserteilung hätte autorisieren müssen.

Justiz- und Sicherheitsdepartement schaltet sich ein

Am Mittwochabend kontaktierte zentralplus die Luzerner Polizei erneut und wollte von ihr unter anderem wissen, ob sie vom Fall David Z. Kenntnis erlangt habe und wisse, wie es dem Basler und den St. Galler Fans inzwischen gehe. Die Antwort lieferte Simon Kopp, Informationsbeauftragter der Staatsanwaltschaft Luzern: «Wir werden uns nächste Woche Ihren Fragen annehmen und melden uns.»

Bei zentralplus ist bis Redaktionsschluss trotz zweitägiger Frist keine Stellungnahme eingegangen. Gemäss Polizeisprecher Christian Bertschi liegen die Antworten der Polizei beim Justiz- und Sicherheitsdepartement der neuen Regierungsrätin Ylfete Fanaj zur Freigabe. Diese werde voraussichtlich aber erst am Montagmorgen erteilt.

Über 6000 Unterschriften für Gummischrot-Petition

Die Luzerner Polizei wird trotz der Schweigepflicht der Kantonsspitalmitarbeiter um das Schicksal des FCL-Fans wissen. Denn der entsprechende Artikel von zentralplus schlug hohe Wellen und wurde nicht nur in der lokalen und nationalen Presse, sondern auch im Ausland zitiert.

Am FCL-Heimspiel gegen YB protestierten zudem Fans beider Lager mit gehässigen Schmähgesängen gegen die Luzerner Polizei und machten mit Spruchbändern auf das Schicksal von David Z. aufmerksam. «Kämpfe», lautete die Durchhalteparole.

Doch den Kampf um sein linkes Auge hat David Z. verloren. Hingegen hat ein anderer Kampf erst begonnen: Eine nationale Petition setzt sich für ein Verbot von Gummischrot ein. 6000 Unterschriften wurden bis dato gesammelt – und es dürften noch mehr werden.

*Name der Redaktion bekannt

Der zweite Teil dieses Artikels erscheint am Sonntagmorgen. Ein Experte der Universität Bern erklärt darin, wieso Schweizer Polizeikorps trotz der vielen Verletzten wohl auch künftig mit Gummischrot auf Fussballfans schiessen werden.

Verwendete Quellen
  • Artikel in der «Basler Zeitung»
  • Schriftlicher Austausch mit Tilman Pauls, Journalist der «Basler Zeitung»
  • Artikel auf Bajour.ch
  • Telefonat und schriftlicher Austausch mit der Fanarbeit Basel
  • Stellungnahme der St. Galler Fanorganisation Dachverband 1879
  • Telefonat und schriftlicher Austausch mit dem Dachverband 1879
  • Schriftlicher Austausch mit der Fanarbeit St. Gallen
  • Schriftlicher Austausch mit dem FC St. Gallen
  • Telefonat und schriftlicher Austausch mit FCL-Fan David Z.
  • Telefonat und schriftlicher Austausch mit der Kommunikationsabteilung des Luzerner Kantonsspitals
  • Schriftlicher Austausch mit der Kommunikationsabteilung der Luzerner Polizei
  • Schriftlicher Austausch mit der Kommunikationsabteilung der Staatsanwaltschaft Luzern
  • Gesundheitsgesetz des Kantons Luzern
  • Petition für ein schweizweites Verbot von Gummischrot
  • Webseite von Fan-fotos.ch
  • Webseite von Faszination Fankurve
  • Artikel im «Blick»
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