FC Luzern
Teil 2: St. Galler Fans kritisieren Luzerner Polizei

Knapp an Massenpanik vorbei: Zuspitzung an der Zentralstrasse

«Hinten die Polizei mit Gummischrot und Wasserwerfer, links die Häusergruppe, rechts ein ‹Speerspitzenzaun› und vorne die Menschenmasse»: Ein St. Galler Fan schildert die scheinbar dramatische Situation an der Zentralstrasse. (Bild: ida)

Im Nachgang des FCL-Heimspiels vom 20. Mai kam es am Bundesplatz und an der Zentralstrasse zu heftigen Ausschreitungen. Aus Sicht der Gästefans aus St. Gallen trägt die Luzerner Polizei eine Mitschuld am Ausmass der Eskalation. Die Polizei weist die Kritik zurück. Teil 1 spielt sich am Bundesplatz ab. Im zweiten Teil werden die Ereignisse in der Zentralstrasse erneut aus mehreren Perspektiven geschildert.

Als der Fanmarsch mit 1600 St. Gallern am Bundesplatz auf die Polizei und die sich vor dem Fanlokal Zone 5 befindenden FCL-Fans traf, eskalierte die Situation nach Fackelwürfen der FCSG-Fans. Die Polizei versuchte, die Fanlager mit Gummischrot, Tränengas und einem Wasserwerfer zu trennen. Gleichzeitig wurde sie von den Fans mit Flaschen, Steinen und Pyros beschossen.

Während die Luzerner Polizei den Einsatz als verhältnismässig bezeichnet, kritisieren die St. Galler Fanorganisation «Dachverband 1879» und weitere St. Galler Augenzeugen den übermässigen Einsatz von Gummischrot. Familien und Kinder hätten keine Möglichkeit gehabt, sich in Schutz zu bringen. Die Polizei habe sie mitten in den Brennpunkt der Eskalation getrieben (zentralplus berichtete).

Teil 2.1: Situation in der Zentralstrasse aus Sicht des «Dachverbands 1879»

Nachdem sich die Situation am Bundesplatz allmählich beruhigt und sich dieser geleert hatte, sollten die Fans des FC St. Gallen Luzern via Bahnhof Luzern verlassen. Der «Dachverband 1879» erklärt die Ausgangslage wie folgt: Die FCSG-Fans seien mit zwei Extrazügen angereist. Auf dem Rückweg hätten sie versucht, den ersten Extrazug mit Familien zu befüllen. Diese seien in der Zentralstrasse vorgelassen worden. Danach, so der Plan, sollte der zweite Zug befüllt werden. Die stehende Menge, die auf den zweiten Zug wollte, sollte draussen in der Zentralstrasse warten. Denn: «Es ist völlig klar, dass nicht alle 1600 Personen ans Perron stehen können.» Die draussen wartende Menge sei dann aber direkt wieder von der Polizei beschossen worden.

«Man konnte weder nach vorne noch nach hinten. Auf beiden Seiten wurde man von der Polizei beschossen.»

Vertreter der St. Galler Fanorganisation «Dachverband 1879»

Sollte sich die Lage in der Zentralstrasse derart zugespitzt haben, wie es der Vertreter des «Dachverbands 1879» am Telefon schildert, schlitterte Luzern nur knapp an einer Tragödie vorbei. «Es hätte eine Massenpanik geben können. Vor allem, weil die Ausweichmöglichkeiten fehlten. Man konnte weder nach vorne noch nach hinten. Auf beiden Seiten wurde man von der Polizei beschossen», so der «Dachverband 1879».

Teil 2.2: Situation an der Zentralstrasse aus Sicht von St. Galler Augenzeugen

«Ich war selbst mittendrin und musste miterleben, wie Unbeteiligte versuchten zu flüchten. Sie hatten keine Chance», schreibt ein St. Galler Fan. Er verurteile Gewalt – erst recht im Zusammenhang mit sportlichen Ereignissen. Ein anderer Fan, der die St. Galler Aggressoren als «Chaoten» bezeichnet und sich ausdrücklich von Gewalt gegen Sicherheitskräfte und von Vandalismus distanziert, stützt die Aussagen des «Dachverbands 1879».

«Von hinten schoss die Polizei mit Gummischrot und Wasserwerfern in die Menge, links war die Häusergruppe, rechts ein ‹Speerspitzenzaun› und vorne die Menschenmasse.»

St. Galler Fan beschreibt die Situation an der Zentralstrasse

Die Kurvenregulierung habe gegriffen, als der Dachverband die Masse angewiesen habe, sich zum Bahnhof zu begeben und sich aus der Gefahrensituation zu entfernen. Doch dann seien plötzlich mehrere Reihen Polizisten und ein Wasserwerfer in die Zentralstrasse eingebogen, schreibt der Fan. «Erst dachte ich, sie versuchten Ausreisser von uns und Luzerner Fans auseinander zu halten.» Doch solche Ausreisser habe es nicht gegeben. «Die Polizei attackierte stattdessen den hinteren Bereich des Fanmarsches, wo sich gemässigte Fans und vereinzelt auch Kinder befanden.»

Führte Notruf zu Entlastung?

Das Risiko einer Massenpanik sei «immens» gewesen, schreibt der Fan. «Von hinten schoss die Polizei mit Gummischrot und Wasserwerfern in die Menge, links war die Häusergruppe, rechts ein ‹Speerspitzenzaun› und vorne die Menschenmasse.» Die St. Galler Fans seien sehr eng zusammengedrängt worden. Während sich die Masse schlicht nicht schneller vorwärts bewegen konnte, habe die Polizei von hinten weiter Druck ausgeübt.

«Die Zahl der durch einen Mitteleinsatz verletzten Fans übersteigt jedes bisher bekannte Mass um ein Vielfaches.»

Fabienne Fernandes, Sozialarbeiterin der Fanarbeit St. Gallen

Versuche mehrerer Personen, der Polizei mitzuteilen, dass sich die Situation in der Masse dramatisch zuspitze, seien mit Gummischrot und Wasserwerfer beantwortet worden. Der erzählende Fan habe in seiner Verzweiflung den Notruf gewählt und bat die Person in der Zentrale, die Einsatzleitung zu kontaktieren.

«Wir können leider nichts tun», sei ihm mitgeteilt worden. Trotzdem sei die Polizei irgendwann auf Abstand gegangen. «Es wurde jedoch pausenlos mit Gummischrot geschossen und mit dem Wasserwerfer herumgespritzt», fährt der Fan fort.

Vier verletzte Fans landeten im Spital

Abschliessend erklärt der St. Galler seine Motivation zur Stellungnahme: «Mir geht es einzig darum, die Polizei, Vereine und Medien auf die gefährliche Situation in der Zentralstrasse aufmerksam zu machen.» Die Polizei sei aufgrund ihres unverhältnismässigen Einsatzes nur mit sehr viel Glück und haarscharf an einer grösseren Katastrophe vorbeigeschlittert.

«Der Zwangsmitteleinsatz der Polizei war eine Reaktion auf das ungebührliche Verhalten gewisser St.‑Gallen-Anhänger – und erfolgte erst nach mehrfacher mündlicher Abmahnung.»

Christian Bertschi, Kommunikationschef der Luzerner Polizei

Die Bilanz: Vier durch Gummischrot verletzte St. Galler Fans landeten im Spital. Den Augenzeugenberichten zufolge dürfte die Dunkelziffer deutlich höher sein. Die Fanarbeit St. Gallen schreibt in ihrer Stellungnahme zu den Ausschreitungen in Luzern: «Die Zahl der durch einen Mitteleinsatz verletzten Fans übersteigt jedes bisher bekannte Mass um ein Vielfaches.» Wie viel Munition die Polizei am 20. Mai eingesetzt hat, beantwortet sie auf Anfrage von zentralplus nicht. Ein Augenzeuge, dessen Kollege die Nacht im Spital verbrachte, schliesst zynisch: «In Luzern muss man neu mit Schutzbrille und Helm herumlaufen, will man nicht das Augenlicht riskieren. Oder sich direkt um eine alternative Anreise kümmern.»

Teil 2.3: Situation an der Zentralstrasse aus Sicht der Luzerner Polizei

Christian Bertschi, Kommunikationschef der Luzerner Polizei, gibt dem Fan teilweise recht, indem er sagt: «Es wurde kein St. Galler Fan dazu gezwungen, sich dem Fanmarsch mit teilweise sehr aggressiven und gewalttätigen Personen anzuschliessen.» Die randalierenden St. Galler Fans hätten in der Zentralstrasse die Masse explizit genutzt, um daraus Angriffe zu starten. «Der Zwangsmitteleinsatz der Polizei war eine Reaktion auf das ungebührliche Verhalten gewisser St.‑Gallen-Anhänger – und erfolgte erst nach mehrfacher mündlicher Abmahnung.»

Es wird nicht das letzte Mal gewesen sein, dass Polizei und Fussballfans aneinandergeraten. Grund genug für die Mitte-Partei, per Initiative eine härtere Gangart seitens der Behörden zu fordern (zentralplus berichtete). Vorher verabschieden sich jedoch sowohl die Politik als auch der Fussball in die Sommerpause.

Verwendete Quellen
  • Augenzeugenberichte zahlreicher Fans des FC St. Gallen
  • Telefonat und schriftlicher Austausch mit einem Mitglied der St. Galler Fanorganisation Dachverband 1879
  • Telefonat und schriftlicher Austausch mit Fabienne Fernandes, Sozialarbeiterin der Fanarbeit St. Gallen
  • Schriftlicher Austausch mit Christian Bertschi, Chef Kommunikation und Prävention der Luzerner Polizei
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