FC Luzern
Teil 2: FCL-Fan verliert sein linkes Auge

Darum wird die Luzerner Polizei wohl weiter mit Gummischrot auf Fussballfans schiessen

Tim Willmann ist Experte am Institut für Strafrecht und Kriminologie an der Universität Bern. (Bild: Leserreporter / zvg)

Mindestens sechs Schwerverletzte in eineinhalb Jahren, darunter ein FCL-Fan, der auf dem linken Auge erblindet ist: Die Luzerner Polizei steht wegen ihrer Gummischroteinsätze in der Kritik. Ein Experte der Universität Bern erklärt, wieso Schweizer Polizeikorps trotz grosser Verletzungsgefahr wohl auch künftig Gummischrot einsetzen werden.

Vier Wochen lang bangte David Z. um sein linkes Auge. Am Mittwoch wurde der FCL-Fan ein letztes Mal operiert. Ohne Erfolg: Die Ärzte des Luzerner Kantonsspitals hätten das Auge nicht mehr retten können, wie David Z. gegenüber zentralplus sagte (zentralplus berichtete).

Der 34-Jährige wurde nach dem Europapokal-Spiel gegen Djurgårdens IF vor der Swissporarena von einem Gummischrotprojektil auf dem Auge getroffen, was schliesslich zur einseitigen Erblindung führte (zentralplus berichtete). Während sich die Luzerner Polizei für ihren Einsatz am besagten Abend ein gutes Zeugnis ausstellte, geriet sie in Fankreisen in Kritik.

Eine Woche nach den Vorfällen wusste die Luzerner Polizei noch immer nichts von einem schwerverletzten FCL-Fan. David Z. wollte keinen Kontakt mit den Verursachern seiner Augenverletzung. Und das Luzerner Kantonsspital unterlag der Schweigepflicht. Daran hat sich bis heute nichts geändert.

In Luzern führt niemand Statistik

Das heisst: Die Polizei weiss unter Umständen gar nicht, welche Schäden sie bei Gummischroteinsätzen verursacht. Und auch das Luzerner Kantonsspital führt keine entsprechende Statistik. Das ist sinnbildlich für die Datenlage rund um das polizeiliche Zwangsmittel Gummischrot: Weder nationale noch internationale Zahlen geben über Verletzungen Aufschluss. Eine Folge davon: Auch die Anzahl eingesetzter Gummigeschosse wird nur von einzelnen Polizeikorps – zu ihnen gehört die Luzerner Polizei nicht – veröffentlicht.

Das sagt Tim Willmann, Mitarbeiter der Forschungsstelle Gewalt bei Sportveranstaltungen am Institut für Strafrecht und Kriminologie an der Universität Bern. Der Luzerner befasst sich seit längerer Zeit mit Polizeieinsätzen rund um Fussballspiele – primär aus einer juristischen Perspektive. Er bemängelt: «Das Fehlen dieser Daten bedeutet, dass man national betrachtet keine Anhaltspunkte hat, wann, weshalb und wie häufig Gummigeschosse abgefeuert werden und wie häufig daraus Verletzungen resultieren.» Seines Erachtens wären solche Zahlen aber grundlegend für mögliche Vergleiche zwischen den einzelnen polizeilichen Zwangsmitteln beziehungsweise den Einsatztaktiken.

So funktioniert Gummischrot

Tim Willmann kennt den FC Luzern und seine Fans. Der 26-Jährige wuchs in unmittelbarer Nähe zum Stadion Allmend auf, begleitete als Teil der Fanarbeit Luzern junge Fussballfans im Rahmen des Jugendprojekts «Ragazzi Lucerna» an Auswärtsspiele.

«Eine gezielte Schussabgabe auf eine Einzelperson ist sehr schwierig bis unmöglich, da einzelne Projektile links und rechts der Zielperson einschlagen.»

Tim Willmann vom Institut für Strafrecht und Kriminologie der Universität Bern

Tim Willmann kennt sich auch in Sachen Gummischrot aus. Fünf A4-Seiten füllt er mit Antworten auf die Fragen von zentralplus. «Gummischrot ist ein polizeiliches Zwangsmittel, bei dem mehrere Projektile – je nach Munitionsart 28 bis 35 – aus einem Werfer geschossen werden», erklärt Willmann. Kurz nach Austritt aus der Mündung würden die einzelnen Projektile trichterförmig aufstreuen. Die geforderte Minimaldistanz variiere dabei je nach Werfer zwischen 5 und 20 Metern.

Wenig Polizisten für viele Fussballfans

Gummischrot werde eingesetzt, um Personengruppen zurückzudrängen oder auf Distanz zu halten. Dabei sei die horizontale Streuung der Projektile entscheidend. Willmann führt aus: «Gummischrot ist einsatztechnisch sehr effizient, da so relativ wenig Polizisten eine grössere Masse an Personen in Schach halten können», erklärt er.

Ein paar Dutzend Polizisten versuchen in Luzern jeweils, Hunderte Fussballfans auf Abstand zu halten. (Bild: zvg)

Allerdings berge die horizontale Streuung auch die Gefahr, dass nebst den Zielpersonen auch weitere, allenfalls unbeteiligte Personen getroffen werden können. Willmann veranschaulicht: Bei einer Einsatzdistanz von 20 Metern betrage die horizontale Streuung, je nach verwendeter Munition, rund 2 bis 3,2 Meter. «Eine gezielte Schussabgabe auf eine Einzelperson ist bei dieser Einsatzdistanz sehr schwierig bis unmöglich, da einzelne Projektile links und rechts der Zielperson einschlagen.»

Augenspezialisten warnen

Die in der Schweiz verwendete Gummischrotmunition streue jedoch nicht nur horizontal, sondern auch vertikal, fährt Tim Willmann fort. Bei einer Einsatzdistanz von wiederum 20 Metern betrage die vertikale Streuung, ebenfalls abhängig von der verwendeten Munition, zwischen 2 und 2,7 Meter. «In der Konsequenz bedeutet dies, dass ein Projektil unter Umständen ein Auge einer Person treffen kann, obwohl Mindestdistanz und Zielpunkt durch die Polizei eingehalten wurden», so Willmann. Eine zu hohe Zielanvisierung, beispielsweise anweisungswidrig auf Bauch- oder Brusthöhe, erhöhe die Gefahr eines Augentreffers zusätzlich.

Mit anderen Worten: Jedes Mal, wenn die Polizei Gummischrot einsetzt, können die Projektile aufgrund der vertikalen Streuung im Gesicht landen und zu schweren Augenverletzungen führen.

Es gebe ballistische Grenzwerte, so Willmann, die nicht überschritten werden dürften, damit ein Geschoss nicht in den Körper eindringe, sondern davon abpralle. Doch er relativiert: «Selbst wenn sich die Polizei an alle Vorgaben hält, ist gemäss Augenspezialistinnen eine bleibende Verletzung mit bis zu vollständigem Sehverlust möglich. Auch wenn das Geschoss das Auge lediglich prellt und nicht in dieses eindringt.»

Für die UNO ist Gummischrot unverhältnismässig

Aufgrund der horizontalen und vertikalen Streuung weist selbst die UNO die Polizeikorps in zwei juristisch nicht bindenden Dokumenten an, Mehrfachgeschosse wie Gummischrot unter keinen Umständen zu verwenden. Doch bisher ignorierte der Gesetzgeber in der Schweiz diese Warnung. Ob die im Juni lancierte Petition für ein schweizweites Gummischrotverbot daran etwas ändern wird?

«Es gibt aber auch Länder, die Ordnungsdiensteinsätze auch ohne Gummigeschosse mit einer eher niedrigen Anzahl an Polizeikräften durchführen.»

Tim Willmann vom Institut für Strafrecht und Kriminologie der Universität Bern

In Frankreich, Spanien, Portugal oder den Niederlanden kommen Gummigeschosse zum Einsatz, grossmehrheitlich jedoch Einzelschussmunition. In den skandinavischen Ländern, in Deutschland, Österreich oder Italien hingegen nicht. Dies sei in Deutschland und auch andernorts aber nicht etwa auf Verbote zurückzuführen. Vielmehr sei, so Tim Willmann, auf exekutiver Ebene entschieden worden, dass die Polizei im Ordnungsdienst nicht mit Gummigeschossen ausgestattet werde.

Strategische Distanz

Dass die Schweizer Polizeikorps auf Gummischrot setzen würden, habe vor allem strategische Gründe, erklärt Willmann. Priorität habe bei Einsätzen die Distanz zum Gegenüber, also zu Demonstranten oder eben zu Fussballfans. Diese wolle man auf Abstand halten und aus der Ferne in mögliche Konflikte eingreifen.

Anders als beispielsweise in Deutschland. «Dort befinden sich die Polizeiketten sehr nahe an den zu begleitenden Gruppierungen und setzen bei Konfrontationen Mittel wie Schlagstöcke oder Pfeffersprays ein», sagt Willmann.

Personalmangel in der Schweiz

Der polizeiliche Vorteil der Nähe bestehe unter anderem darin, besser Zugriffe auf einzelne Straftäter vollziehen zu können, also beispielsweise einzelne gewalttätige Fans von der Masse separieren zu können. Der Nachteil sei, dass eine viel grössere Anzahl Polizisten aufgeboten werden müsse.

In Deutschland existiere – anders als in der Schweiz – eine sogenannte Bereitschaftspolizei, die ausschliesslich für die Begleitung von Grossveranstaltungen wie Demonstrationen oder Fussballspielen zuständig sei und die regionalen Polizeistellen unterstütze, so Willmann. «Es gibt aber auch Länder wie beispielsweise Schweden, die Ordnungsdiensteinsätze auch ohne Gummigeschosse mit einer eher niedrigen Anzahl an Polizeikräften durchführen.»

Zwei schwedische Polizisten für 500 Luzerner: Das Polizeiaufgebot vor dem FCL-Auswärtsspiel gegen den Stockholmer Verein Djurgårdens IF war überschaubar (zentralplus berichtete). (Bild: jdi)

Mögliche Gründe dafür seien einerseits sehr stark ausgebaute Dialogkonzepte, andererseits aber auch professionalisierte Abteilungen innerhalb der Polizeikorps, die sich ausschliesslich um die Organisation und die Durchführung von Einsätzen anlässlich von Fussballspielen kümmern würden, sagt Willmann.

Verbot unwahrscheinlich

In der Schweiz argumentiere die Polizei damit, dass durch Distanzmittel wie Gummigeschosse oder Tränengas deutlich weniger Verletzungen aufseiten der Polizei, aber auch aufseiten der Demonstrierenden oder der Fussballfans erfolgen würden, als bei direkter physischer Konfrontation, fährt Willmann fort. Doch er betont: «Dies ist meines Erachtens sehr schwierig nachzuprüfen, da keine entsprechenden Daten vorliegen. Vorschnelle Vergleiche sind grundsätzlich problematisch, da die Grunddispositionen von Land zu Land unterschiedlich sind und verschiedenste Faktoren eine Rolle spielen können.» Das gelte auch für das vermeintliche Vorbild Schweden.

Aufgrund der inexistenten Datenlage geht Tim Willmann auch nicht davon aus, dass in naher Zukunft ein Gummischrotverbot folgen werde. Die Debatte solle denn auch auf dereinst erfassten Daten basieren. Jetzt schon plädiert Willmann aber dafür, Situationen, die einen Mitteleinsatz erfordern könnten, wenn immer möglich zu verhindern.

Einsatz gegen Fans aus Schottland wird untersucht

Etwa durch infrastrukturelle Massnahmen wie zum Beispiel Rollzäune, Sperrfahrzeuge und konsequente Fantrennung. Aber auch durch verstärkte Dialogversuche und gemeinsame Absprachen aller Beteiligten könnten gemäss Willmann etwaige Auseinandersetzungen bereits vor deren Entstehung verhindert werden.

Führe all dies im konkreten Einzelfall zu nichts oder habe man derartige Massnahmen schlicht versäumt zu treffen, bestehe die Frage nach einem geeigneten, erforderlichen und auch zumutbaren Distanzmittel, erläutert Willmann.

«Fraglich ist der Einsatz von Gummischrot insbesondere dann», fährt Willmann fort, «wenn Gummischrot nicht wegen vorliegenden respektive aufkeimenden Gewalttaten, sondern lediglich zur Durchsetzung von Sperraufträgen eingesetzt wird.» So geschehen, als Mitte August Fans des schottischen Vereins Hibernian FC in Luzern zu Gast waren.

Mehrere Augenzeugen schilderten die Situation wie folgt: Die Luzerner Polizei habe vergessen, die Strasse so abzusperren, dass die Schotten Richtung Hubelmatt statt Richtung Allmend marschieren würden. Um sie zurück auf die vorgesehene Route zu bringen, setzte die Polizei auch Gummischrot ein, was gemäss der polizeilichen Medienmitteilung wohl unnötig war und intern analysiert wird (zentralplus berichtete).

Die Ergebnisse dieser Analyse liegen zentralplus nicht vor. Denn die bereits zusammengestellen Antworten auf die Fragen von zentralplus darf die Luzerner Polizei gemäss deren Mediensprecher Christian Bertschi noch nicht herausgeben. Das Ylfete Fanajs Justiz- und Sicherheitsdepartement werde die Stellungnahme voraussichtlich am Montagmorgen freigeben.

Alternativen zu Gummischrot fehlen

Gemäss Tim Willmann besteht nebst Gummigeschossen auch die Möglichkeit zum Gebrauch von Tränengas, das aber eher der Auflösung von Personenansammlungen diene. Der Wasserwerfer habe eine ähnliche Funktion wie Gummigeschosse, sei aber schwer zu manövrieren und je nachdem auch zu sperrig. Das Fazit Willmanns lautet: «Kurzfristig gesehen besteht vermutlich kein adäquates Mittel, das Gummigeschosse ersetzen könnte. Mittel- bis langfristig sollte es das Ziel sein, Polizeieinsätze ohne Gummischrot durchführen zu können.»

Die schwer verletzten Fussballfans aus Basel, St. Gallen und Luzern können derweil auf bestehende Rechtsmittel zurückgreifen. Der FCB-Fan, den die Luzerner Polizei vor eineinhalb Jahren als ersten von seither mindestens sechs Fans mit Gummischrot am Auge getroffen und schwer verletzt hat, sagte gegenüber der «Basler Zeitung», er prüfe eine Strafanzeige gegen unbekannt wegen schwerer Körperverletzung und parallel eine Staatshaftungsklage.

Keine Verurteilungen

Doch derartige Prozesse führten in der Vergangenheit oft zu nichts. Tim Willmann ist keine Verurteilung aufgrund einer Verletzung durch Gummischrot bekannt. Ob die betroffenen Fans dennoch den juristischen Weg einschlagen werden oder dies bereits getan haben, wird allenfalls die Luzerner Polizei in ihrer Stellungnahme bekannt geben.

Verwendete Quellen
  • Artikel in der «Basler Zeitung»
  • Schriftlicher Austausch mit Tilman Pauls, Journalist der «Basler Zeitung»
  • Artikel auf bajour.ch
  • Stellungnahme der St. Galler Fanorganisation Dachverband 1879
  • Telefonat und schriftlicher Austausch mit dem Dachverband 1879
  • Schriftlicher Austausch mit der Fanarbeit St. Gallen
  • Schriftlicher Austausch mit dem FC St. Gallen
  • Telefonat und schriftlicher Austausch mit der Fanarbeit Basel
  • Telefonat und schriftlicher Austausch mit FCL-Fan David Z.
  • Telefonat und schriftlicher Austausch mit der Kommunikationsabteilung des Luzerner Kantonsspitals
  • Schriftlicher Austausch mit der Kommunikationsabteilung der Luzerner Polizei
  • Schriftlicher Austausch mit der Kommunikationsabteilung der Staatsanwaltschaft Luzern
  • Gesundheitsgesetz des Kantons Luzern
  • Petition für ein schweizweites Verbot von Gummischrot
  • Website von fan-fotos.ch
  • Website von Faszination Fankurve
  • Artikel im «Blick»
  • Website des Instituts für Strafrecht und Kriminologie an der Universität Bern
  • Schriftlicher Austausch mit Tim Willmann, Mitarbeiter der Forschungsstelle Gewalt bei Sportveranstaltungen am Institut für Strafrecht und Kriminologie an der Universität Bern
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