Scharfe Kritik an Moratorium

Der Kanton Luzern irrlichtert durch den Tempo-30-Streit

Auf der Luzerner Baselstrasse und vielen weiteren Hauptstrassen im Kanton Luzern gibt es vorerst keine Tempo-30-Zonen. (Bild: ewi)

Der Kanton legt vorübergehend sämtliche hängigen Tempo-30-Projekte auf Eis. Von Quartiervereinen bis zum Rechtsprofessor sorgt das für Unverständnis.

Tempo 30 polarisiert. Das ist hinlänglich bekannt. Doch in Luzern hat sich die Situation in den vergangenen Wochen und Monaten deutlich zugespitzt. Der Kanton gibt dabei keine gute Figur ab. Doch der Reihe nach.

Lanciert wurde die Debatte im vergangenen November, als der Kantonsrat im kantonalen Strassenbauprogramm eine Bemerkung festhielt, dass auf Hauptverkehrsachsen innerorts grundsätzlich Tempo 50 gelten soll (zentralplus berichtete). Und bereits zwei Monate später doppelte die SVP nach.

Gemeinsam mit den Verkehrsverbänden TCS, ACS und Astag lancierte die Partei eine Initiative, um Tempo 50 auf Hauptstrassen innerorts gar per Gesetz festzulegen (zentralplus berichtete). Die Initiative steht als Gegenbewegung zum Anliegen zahlreicher Gemeinden, die beim Kanton Luzern eine Temporeduktion von 50 auf 30 auf ihren Durchgangsstrassen beantragt haben (zentralplus berichtete). Mit dem Slogan «Stopp Verkehrsschikane» wirbt die SVP für ihre Initiative.

Luzerner Regierung widerspricht sich selbst

Im März dieses Jahres folgte bereits der nächste Tempo-30-Vorstoss der Partei. Mit einem dringlichen Postulat forderte sie die Regierung auf, sämtliche Tempo-30-Projekte auf Eis zu legen, bis die Bevölkerung über die Initiative abgestimmt hat. So will die Partei verhindern, dass der Kanton in der Zwischenzeit zusätzliche Temporeduktionen auf Hauptstrassen innerorts bewilligt.

Doch dieses Anliegen fand im Kantonsrat kein Gehör. Das Parlament lehnte die Dringlichkeit des Postulats an der Kantonsratssitzung vom 20. März deutlich ab und verschob die entsprechende Diskussion somit auf den Herbst. Auch Baudirektor Fabian Peter erachtete das Postulat als kritisch und meinte in seinem Votum vor dem Kantonsrat: «Es wäre ein schlechtes Präjudiz, wenn jetzt ein Moratorium der aktuellen Gesetzgebung und des Vollzugs umgesetzt würde für eine Initiative, die erst in der Sammelfrist ist. Deshalb lehnt die Regierung die Dringlichkeit ab.»

«Wir machen Sie darauf aufmerksam, dass aufgrund verschiedener politischer Aktivitäten zurzeit keine weiteren Tempo-30-Zonen genehmigt werden.»

Luzerner Regierung in einem Schreiben an Quartiervereine

Was Peter hingegen verschwieg: Die Forderung der SVP war zu diesem Zeitpunkt bereits erfüllt. So haben die Luzerner Quartiervereine Bernstrasse und Neustadt sowie die Quartierentwicklung Babel, die sich für mehr Lärmschutz und darum für eine Temporeduktion auf der Bern-, Bundes- und Zentralstrasse einsetzen, am 9. März Post vom Kanton erhalten. Im Brief schrieb der Kanton: «Mit Verständnis gegenüber Ihrem Anliegen machen wir Sie darauf aufmerksam, dass aufgrund verschiedener politischer Aktivitäten zurzeit keine weiteren Tempo-30-Zonen genehmigt werden.»

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Die Kommunikation von Baudirektor Fabian Peter wirft Fragen auf. (Bild: ewi)

Der Kanton hat also stillschweigend ein Tempo-30-Moratorium verhängt. Die Quartiervereine sind ausser sich und bezeichnen die Haltung der Regierung als inakzeptabel.

Regierung will wissen, was das Parlament meint

Gefragt nach den Gründen für das Moratorium, antwortet Joana Büchler, Mediensprecherin des Baudepartements, mit einem allgemeinen Statement: «Es ist die Absicht des Regierungsrats, zur Haltung des Parlaments in Bezug auf Tempo 30 auf Kantonsstrassen Klarheit zu schaffen. Mit Blick auf die in den parlamentarischen Vorstössen aufgeworfenen Fragen gilt es, den Umgang mit der Festlegung von Tempo 30 auf Kantonsstrassen vertiefter zu klären.» Diese Abklärungen laufen demnach unabhängig zur Tempo-50-Initiative.

«Ein Moratorium bezüglich der Umsetzung dieser Verpflichtung verstösst demnach gegen Bundesrecht und stellt eine Rechtsverzögerung dar.»

Alain Griffel, Professor für Bau- und Umweltrecht, Uni Zürich

Gegenüber der «Luzerner Zeitung» heisst es beim Baudepartement zudem, dass der Planungsstopp zu keiner Verzögerung bei den hängigen Tempo-30-Projekten führen würde. Auf die Frage, ob denn seit März und bis zur Debatte im Herbst nicht an diesen Projekten gearbeitet worden wäre, erhält zentralplus keine Rückmeldung. Ebenso wenig antwortet der Kanton auf die Frage, ob er sich mit dem verhängten Moratorium von der Rechtsprechung des Bundesgerichts abwendet.

Rechtsprofessor kann Moratorium nicht nachvollziehen

Denn das Bundesgericht hat im März dieses Jahres ein womöglich wegweisendes Urteil gefällt (zentralplus berichtete). Die Lärmsanierung der Luzernerstrasse in Kriens sei nicht mehr gültig, weil sie auf alten Standards und Annahmen beruht. Der Kanton ist deshalb verpflichtet, den Lärmschutz an der Luzernerstrasse nochmals zu prüfen. Dabei anerkennt das Bundesgericht Tempo 30 als wirksame Massnahme.

Beim Lärmschutz an der Luzernerstrasse in Kriens muss der Kanton Luzern nochmals über die Bücher. (Bild: Google Street View)

Rechtsprofessor Alain Griffel von der Universität Zürich beschäftigt sich vertieft mit dem Bau- und Umweltrecht. Er hält auf Anfrage fest: «Spätestens seit dem Urteil Kriens ist klar, dass diese Massnahme nicht nur bei erstmaligen Lärmsanierungen von Strassen geprüft werden muss, sondern auch bei Strassen, die bereits zu einem früheren Zeitpunkt lärmsaniert worden sind. Strassenlärmsanierungen sind also zu einer Daueraufgabe geworden.» Lärmsanierungen sollen in der Regel an der Quelle – sprich auf der Strasse – erfolgen. Die entsprechenden Massnahmen sind lärmarme Beläge und eben auch Tempo 30.

«Es ist absolut stossend, dass der Kanton diese Projekte ein weiteres Mal mit diesem Moratorium verzögert.»

Michael Töngi, Präsident VCS-Luzern und Grüne-Nationalrat

Das Vorgehen der Luzerner Regierung kann Griffel deshalb nicht nachvollziehen. Der Kanton sei bundesrechtlich dazu verpflichtet, Tempo 30 als Lärmschutzmassnahme zu prüfen. Griffel sagt: «Ein Moratorium bezüglich der Umsetzung dieser Verpflichtung verstösst demnach gegen Bundesrecht und stellt eine Rechtsverzögerung dar, die sich – wenn sie lange Zeit andauern sollte – sogar zu einer Rechtsverweigerung entwickeln kann.» Auch eine kantonale Initiative ändere nichts an dieser Tatsache. Bundesrecht stehe immer über kantonalem Recht.

VCS übt starke Kritik an der Regierung

Starke Kritik am Vorgehen des Kantons übt auch Michael Töngi, Präsident des VCS-Luzern und Nationalrat der Grünen. Der Kanton habe es sich in den vergangenen Jahren beim Lärmschutz viel zu einfach gemacht und Massnahmen an der Quelle wie Tempo 30 nicht ausreichend geprüft. «Es ist absolut stossend, dass der Kanton diese Projekte ein weiteres Mal mit diesem Moratorium verzögert», sagt Töngi.

Der VCS-Präsident bezeichnet das Vorgehen des Regierungsrats darum als «fatales Signal» gegenüber der Initiative: «Wer bereits zur Einreichung einer Initiative deren Forderungen umsetzt, hat nachher schlechte Karten, die Initiative zu bekämpfen.» Der VCS erwarte von der Regierung, dass diese sich gegen die Initiative positioniere, da sie den kantonalen Mobilitätszielen widerspreche.

Genugtuung bei der SVP

Gelassen blickt hingegen Daniel Keller auf die jüngsten Ereignisse. Der alt SVP-Kantonsrat und Vorstandsmitglied des TCS ist eine treibende Kraft hinter der Tempo-50-Initiative. Das von der Regierung verhängte Moratorium begrüsst Keller: «Selbstverständlich freuen wir uns über diesen Entscheid», sagt er auf Anfrage.

«In der Praxis sind die Unterschiede zwischen Tempo 30 und 50 beim Lärm bekanntlich marginal.»

Daniel Keller, Komitee Tempo-50-Initiative

Vor wenigen Tagen haben er und das Initiativkomitee die benötigten Unterschriften für die Initiative übergeben. Die Unterschriften seien in Rekordzeit gesammelt worden, sagt Keller und ist darum zuversichtlich: «Wir rechnen aufgrund diverser aktueller Umfragen zu diesem Thema mit der Annahme unserer kantonalen Volksinitiative.»

Das Urteil des Bundesgerichts beunruhigt ihn nicht. Anders als Griffel und Töngi sieht Keller darin keinen Anlass, das Urteil auf andere Strassen im Kanton Luzern abzuleiten. «In der Praxis sind die Unterschiede zwischen Tempo 30 und 50 beim Lärm bekanntlich marginal», sagt Keller. «Für weniger Emissionen eignen sich daher Flüsterbeläge und Schallschutzfenster weit besser als ein rigides Tempodiktat.»

Eine Liste mit Beispielen von Temporeduktionen des Bundes zeigt aber: Auf mehreren Luzerner Strassen brachte Tempo 30 eine deutliche Lärmreduktion mit sich. So sank der Lärmpegel auf der Kantonsstrasse in Horw mit der Temporeduktion um drei Dezibel. Auch auf der Spital-, der Moos- und der Würzenbachstrasse sank der Lärm mit Tempo 30 um zwei Dezibel (zentralplus berichtete).

Nach der Sommerpause der Luzerner Verkehrspolitik steht ein heisser Herbst bevor. Derweil warten die Anwohnerinnen der Luzerner Hauptverkehrsachsen auf ruhigere Zeiten. Bestes Beispiel dafür ist die Baselstrasse in Luzern. Obwohl bei sämtlichen Gebäuden entlang der Strasse die Alarmwerte überschritten werden, hat sich die im Frühjahr 2022 angekündigte Temporeduktion immer wieder verzögert. Aktuell ist sie durch Beschwerden blockiert – und eine baldige Umsetzung darum nicht in Sicht (zentralplus berichtete).

Verwendete Quellen
  • Schriftlicher Austausch mit Joana Büchler
  • Artikel in der «Luzerner Zeitung»
  • Schriftlicher Austausch mit Alain Griffel
  • Website der Tempo-50-Initiative
  • Schriftlicher Austausch mit Michael Töngi
  • Postulat 1069
  • Schriftlicher Austausch mit Daniel Keller
  • Best-Practice-Liste des Bundes
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