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Sepp Riedener und die Luzerner Drogenszene

Wie die Luzerner Gassenküche entstand

Sepp Riedener stellte die Weichen für eine erfolgreiche Gassenarbeit in Luzern (Bild: Jutta Vogel: https://www.lukath.ch/blog/sepp-riedener-weihnachten-nicht-in-der-gemuetlichkeit-versinken-lassen/)

Sepp Riedener gilt als Pionier der Gassenarbeit in Luzern. Während der aufkommenden Drogenkrise in Luzern in den 70er-Jahren war seine Arbeit von grosser Bedeutung. Mit Spritzen im Rucksack ging er in die Gassen und half den Menschen in Not vor Ort. Er legte die ersten Grundsteine für die heutige «Gassechuchi».

Die 70er-Jahre in Luzern waren eine Zeit, in der drogenkranke Menschen in Luzern keine Hilfsangebote vorfanden. Krankheiten wie Aids, welche durch Spritzentausch verursacht wurden und weitere untragbare hygienische Bedingungen, führten zu vielen Toten und zu einer grossen Belastung insbesondere für Anwohner nahe der Drogenhotspots, aber auch für die allgemeine Bevölkerung. Seine Überzeugung, dass jeder Mensch das Recht auf Hilfe hat, sind bis heute wegweisend für die Arbeit in diesem Bereich.

Sepp Riedeners Überzeugung

Erst, als der Seelsorger Sepp Riedener 1976 nach Luzern kam und bei der Jugend- und Telefonseelsorge der Kirche zu arbeiten begann, schien erstmals etwas Hoffnung für in Not geratene, abhängige Menschen aufzukommen. Riedeners grosse Motivation, Menschen zu helfen, entsprang seinem Glauben und der Überzeugung, dass dies der Auftrag des Evangeliums sei.

Drogenhotspot in den 70er Jahren: die Eisengasse in der Luzerner Altstadt
Drogenhotspot in den 70er-Jahren: die Eisengasse in der Luzerner Altstadt (Bild: Stadtarchiv; Roberto Topatigh)

Insbesondere setzte er es sich zum Ziel, sich für Suchtkranke starkzumachen. Bevor er sich für die Drogenszene einsetzte, nahm er als Seelsorger auch immer wieder Menschen bei sich in der Wohnung auf, wie Mütter mit Kindern auf der Flucht vor gewalttätigen Männern. So wurde er in Luzern kurzer Zeit zur Hauptansprechperson für Randständige. Mit viel Leidenschaft und dem Glauben, dass jeder Mensch das Recht auf Hilfe hat, begann er die ersten Bausteine der Gassenarbeit in Luzern zu legen.

Der Beginn der Gassenarbeit in Luzern

Lediglich mit einem Rucksack voll mit sauberen Spritzen, Präservativen und einer beeindruckenden Mentalität ging Riedener zusammen mit jeweils zwei weiteren Gassenarbeitenden direkt in die Gassen Luzerns, um den Menschen zu helfen. Es gab damals noch keine speziellen Einrichtungen für Drogenabhängige, keine «Gassechuchi», Anlaufstellen oder Vereine.

Tag für Tag ging er so zu den Drogenhotspots. Diese waren zum Beispiel die Eisengasse in der Altstadt, welche sich damals langsam zur offenen Drogenszene Luzerns entwickelte. Auch unter der Egg, in den öffentlichen WC oder am Reussufer wurde viel konsumiert. Die öffentlichen WC hatten sich nach und nach zu «Fixerräumen» entwickelt. Über 1000 Drogenabhängige hatte der Kanton auf dem Schirm. Auch aus umliegenden Kantonen wie Nid- und Obwalden kamen Menschen nach Luzern, um an Drogen zu kommen.

Mit den Betroffenen, nicht für sie

Wo Riedener Abhängige antraf, begann seine Arbeit. Sein kleines Team und er suchten den Kontakt mit den Leuten, um ihnen saubere Spritzen zu verteilen und für ein Mindestmass an Hygiene und Würde zu sorgen. Stets mit dem Ziel und dem Leitsatz: «Mit ihnen, und nicht für sie», wie er in dem 2016 erschienen Buch «Kirchliche Gassenarbeit Luzern», an welchem er mitwirkte, beschreibt.

«Es lässt ihm Angstschweiss über den Rücken laufen», wenn er daran denkt, wie er vor 30 Jahren die Gassenarbeit auf die Beine stellte. Ohne Räumlichkeiten, nur mit einem Rucksack, arbeitete er mit seinem Team «selbstausbeuterisch», zum Teil über 60 Stunden pro Woche bis spät nach Mitternacht.

Die herausfordernde Arbeit wurde durch das harte Vorgehen der Polizei noch schwieriger. Drogenabhängige waren damals öffentlich starken Repressionen ausgesetzt. Besonders in den kalten Wintern waren sie gesundheitlich stark gefährdet. Der Stadtpolizeipräsident hatte Riedener beauftragt, sicherzustellen, dass niemand in der Stadt erfriert. So setzte Riedener es sich zum Ziel, Orte zu finden, an denen drogenabhängige Menschen essen, arbeiten, wohnen und medizinisch betreut werden konnten.

Erste Strukturen – viele Probleme

1986 wurde der Verein «Chuchi» gegründet. Dieser rief die erste Gassechuchi Luzerns ins Leben. Ihre Bleibe fand sie zunächst im «Regenbogenhaus» an der Zürichstrasse. Dank vielen Menschen, welche freiwillig oder zu sehr tiefen Löhnen für das Projekt arbeiteten, konnte die Gassechuchi am Leben gehalten werden.

Während in den späten 80ern also erste Hilfsangebote entstanden, verschlechtere sich die Situation der drogenabhängigen Menschen insgesamt zunehmend. Die Polizei verstärkte die repressiven Massnahmen im Kampf gegen die Drogen. Die heutzutage immer noch aktuelle Wohnungsnot war damals ebenfalls ein grosses Problem. Zeitweise standen nur 0,2 Prozent aller Wohnungen in Luzern leer und viele Menschen waren in Luzern obdachlos.

Riedener und sein Team versuchten, zusätzliche Orte zur Unterbringung von Obdachlosen und Abhängigen zu finden. In der Allmend wurde eine Notschlafstelle und in Kriens ein Abbruchhaus für rund 30 Personen zur Verfügung gestellt. Weiter wurde auch der erste offizielle «Fixerraum» eröffnet. Im Lebensraumprojekt Ibach konnte trotz «grösstem Widerstand» (O-Ton Riedener) eine Bleibe gebaut werden. Brückenbauer war hier Polizeipräsident Kurt Fehlmann, der regelmässige Kontrollen durchführen sollte. Im selben Jahr erhielt Sepp Riedener den Preis «die Goldene Nadel der Stadt Luzern», für seinen langjährigen Einsatz für Menschen am Rand der Gesellschaft.

Ziel von Anfeindungen

Obwohl er von 1976 bis 1990 mitgeholfen hatte, aus dem Nichts ein ansehbares Hilfsangebot auf die Beine zu stellen, entwickelte sich die Situation in Luzern nicht zum Besseren. Zur selben Zeit, als der Platzspitz und der Letten in Zürich ihre grösste Ausdehnung erlebten, erlebte auch Luzern eine grössere offene Drogenszene. Es wurde in der Eisengasse gedealt, unter der Egg und am Reussufer konsumiert. Als in Zürich der Platzspitz und der Letten geräumt wurden, wurden auch sonst schweizweit alle offenen Drogenszenen verboten.

Dies machte die Arbeit für Gassenarbeiter nicht einfacher. In Luzern wurde die offene Szene in der Eisengasse aufgelöst und die Bildung «neuer, offener Drogenszenen» verhindert.

Ab diesem Zeitpunkt begann die Vertreibungstaktik. Verbote und Repression folgten, Drogensüchtige erhielten ein Zutrittsverbot zur Altstadt. Es kam zu einer Kundgebung vor der Jesuitenkirche, an der Riedener selbst die Verantwortung übernehmen musste. Er selbst beschreibt diese Zeit als die schlimmste in seiner langjährigen Arbeit in Luzern. Die Menschen aus der Szene, aber auch die Gassenarbeit, erhielt zu der Zeit viel Aufmerksamkeit – und er war ihr Sprachrohr geworden. Damit wurde er auch zum Ziel von Anfeindungen durch die Bevölkerung, sei es in Leserbriefen oder in beleidigenden anonymen Briefen.

«Gasseziitig» als neue Stimme

Die Repression nahm zwar zu, gleichzeitig wurden auch die Hilfsangebote immer strukturierter. 1993 schlossen sich viele Vereine der Gassenarbeit zusammen, was zu einer erheblichen Verbesserung der Organisation und Budgetierung führte. Dies ermöglichte eine effektivere Verteilung der Gelder aus öffentlicher Hand. Langsam begannen die Gesellschaft und die Politik von der harten repressiven Linie abzurücken.

Sicherlich hatte dies auch mit der Lancierung der berühmten «Gasseziitig» zu tun. Es war die erste Zeitung, welche den Menschen aus der Drogenszene eine Stimme gab. «Von Randständigen für Anständige» lautet das selbstironische Motto der Zeitung. Bis heute stellt der Verkauf der Zeitung einen sehr willkommenen Nebenverdienst für viele dar. Die Zeitung erscheint alle vier Monate und wird jeweils bis zu 15’000-mal verkauft.

«Gassechuchi» im Geissensteinring eröffnet

Der damalige Wandel, wie die Drogenszene wahrgenommen wurde, zeigt sich bei den klaren Nein-Mehrheiten für die Initiativen «Droleg» und «Jugend ohne Drogen». Diese kamen aus rechtsbürgerlichen Kreisen und wollten eine restriktive und repressive Drogenpolitik verfolgen.

Im Jahr 2002 wurde schliesslich die Gassechuchi im Geissensteinring errichtet, welche man heute kennt. Die Drogenszene erhielt so einen fortschrittlichen Neubau für Suchtkranke. Die Politik mit Drogenkranken in Luzern hatte in den 20 Jahren bis zur Jahrtausendwende einen grossen Wandel erlebt. Die Zahl der Hilfsangebote war in den letzten Jahren stark angewachsen. Unermüdlich hatte sich Riedener für Menschen in Not eingesetzt, bis er 2008 schliesslich pensioniert wurde und sein Vermächtnis an Fridolin Wyss übergab – sein Engagement führte er aber auch danach weiter.

Verwendete Quellen
  • Sepp Riedener: «Fundament der Kirchlichen Gassenarbeit», in: Adrian Loretan, Ueli Mäder, Sepp Riedener, Fridolin Wyss (Hg.): «Kirchliche Gassenarbeit Luzern, eine 30-jährige Zusammenarbeit von Kirchen und staatlichen Institutionen zugunsten von suchtbetroffenen Personen», ReligionsRecht im Dialog, Band 22, Zürich, 2016. 
  • Robert Knobel: Vom puren Elend zum vorbildlichen «Luzerner Modell», Neue Luzerner Zeitung, 25.08.2016
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3 Kommentare
  • Profilfoto von Ahmed
    Ahmed, 01.07.2023, 22:33 Uhr

    Die Gassenküche muss weg aus dem Geissensteinring, es ist ein Schandfleck und die Drögeler torkeln ständig wie Zombis auf dem Trottoir rum und leider ist die Polizei nur sehr selten vor Ort.

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  • Profilfoto von oliver.heeb
    oliver.heeb, 29.06.2023, 20:48 Uhr

    Absolut bewundernswert und wichtig. Beim Engagement von Sepp Riedener und seinen Mitstreiterinnen handelt es sich um mehr, als eine lokale Erscheinung. Die Schweizer Drogenpolitik – mit ihrem 4-Säulen-Prinzip – verbindet Pragmatismus mit Menschlichkeit. Dank diesen lebens- und praxisorientierten Ansätzen ist die Schweiz weltweit zu einem Vorbild geworden. Ein weiterer Pionier, der nicht vergessen werden darf: Ambros Uchtenhagen (sel.) aus Zürich.

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  • Profilfoto von Graziella Bättig
    Graziella Bättig, 29.06.2023, 12:05 Uhr

    Eine sehr beeindruckende Persönlichkeit.

    Danke für die wertvolle Arbeit.

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