Bibliothek Menzingen engagiert einen Lesehund

Dieser Hund hilft Kindern mit einer Leseschwäche

Lesehund Raja lauscht der Geschichte, die ein Mädchen ihr vorliest. (Bild: wia)

In der Bibliothek Menzingen ist neuerdings ein Lesehund «angestellt». Selbst lesen kann dieser zwar nicht, seine Geduld, leseschwachen Schülern beim Vorlesen zuzuhören, ist jedoch unendlich.

Raja schmiegt sich an die Kinder, die um sie herumstehen, fordert diese auf, sie zu streicheln. Was wie eine verschmuste Katze klingt, ist in Wirklichkeit ein verschmuster Hund. Einer, der sich beinahe nicht einkriegt vor Freude. Dass von diesem grossen hellbraunen Hund nichts zu befürchten ist, scheinen die Kinder sofort zu merken. Nur zwei Mädchen halten sich im Hintergrund, um dem Treiben rund um den schwanzwedelnden Vierbeiner aus sicherer Distanz zuzuschauen.

All die Schulkinder, die meisten von ihnen Mädchen, sind an diesem Tag in die Bibliothek Menzingen gekommen, um Raja kennenzulernen. Diese wälzt sich mittlerweile vor Freude auf dem Teppich und streckt alle Viere in die Höhe. Die Kinder kichern. Eine grosse Gaudi.

Eine Mitarbeiterin auf vier Pfoten

Die Hündin ist jedoch nicht hier, um den Clown zu spielen und herzig auszusehen. Nein, sie hat hier einen Job zu erfüllen. Raja ist nämlich ein Lesehund. Ab November wird sie regelmässig am Mittwochnachmittag zu Gast in dieser Bibliothek sein. Die Kinder können sich einen Termin buchen lassen, ihr Lieblingsbuch mitnehmen und Raja während 20 bis 30 Minuten daraus vorlesen.

Livia Müller und ihr Hund Raja. (Bild: wia)

Das klingt zunächst banal, macht aber durchaus Sinn, wie die Bibliotheksleiterin Brigitta von Holzen erklärt: «Wir merken immer wieder, dass viele Kinder schlecht lesen können. Wenn sie das in der Unterstufe jedoch gut lernen, erleichtert ihnen das später das Leben.» Würden sie sich in ihrer Muttersprache daheim fühlen, helfe ihnen das beispielsweise später im Umgang mit Fremdsprachen.

«Gerade die Kinder ab der 5. und 6. Klasse verlieren wir. Viele finden Lesen plötzlich doof.»

Brigitta von Holzen, Bibliotheksleiterin von Menzingen

Die Bibliotheksmitarbeiterinnen merken, dass Kinder heute weniger Bücher ausleihen würden. «Gerade die Kinder ab der 5. und 6. Klasse verlieren wir. Viele finden Lesen plötzlich doof.» Das liege unter anderem daran, dass sie zum Teil schlecht lesen könnten. «Für mich persönlich ist das nachvollziehbar: Klar finde ich etwas doof, was ich selbst schlecht kann», sagt von Holzen.

Der Hund soll die Kinder zum Vorlesen motivieren

Und hier kommt nun die neunjährige Raja ins Spiel. Der Lesehund soll die Kinder zum Lesen und Lernen motivieren, indem er einfach da ist, mit unendlicher Geduld zuhört und garantiert keine unnötigen Kommentare von sich gibt.

Zeit für eine Kostprobe: Raja ruht mittlerweile, umgeben von einer Schar Kinder, auf dem grünen Teppich. Den Kopf hat sie zu einem Mädchen gewandt, das sich freiwillig gemeldet hat, der Hündin etwas vorzulesen. Fiona will zu lesen beginnen, hält inne. «Diesen Buchstaben kenne ich noch nicht», sagt sie scheu zu Livia Müller, der Halterin von Raja, die neben ihr auf dem Boden sitzt. Nachdem diese ihr verrät, wie der Buchstabe ausgesprochen wird, beginnt Fiona halblaut zu lesen.

Raja blickt das Mädchen einige Sekunden lang interessiert an und legt dann den Kopf auf den Boden. Sie scheint zu merken, dass hier extra für sie gelesen wird und wirkt einigermassen aufmerksam.

Umzingelt zu sein von Kindern, macht Raja überhaupt nichts aus. (Bild: wia)

Beinahe wäre Raja eingeschläfert worden

Dass diese hübsche Hündin mit ihrer besonderen Präsenz heute hier sei und nicht nur ihre Familie, sondern auch fremde Kinder glücklich mache, sei nicht selbstverständlich, wie Livia Müller erzählt. Die Tiermedizinische Praxisassistentin begegnete der ehemaligen italienischen Strassenhündin per Zufall in der Praxis, in der sie vor sechs Jahren arbeitete.

Sie erzählt: «Raja hätte eigentlich eingeschläfert werden sollen. Einer der Hauptgründe: Sie könne schlecht mit Kindern umgehen.» Während sie das sagt, lässt sich Raja gerade von mehreren Kinderhänden streicheln und geniesst es sichtlich. Was man nicht sieht: die viele Arbeit und Liebe, die Müller in Raja investiert hat und welche die Hündin heute zu einer entspannten, souveränen Begleiterin macht.

Seit vier Jahren hat Müller selbst eine Tochter. «Wir beobachteten die Situation aufgrund Rajas Vorgeschichte natürlich genau.» Doch anfangs habe sich Raja kaum für das Kind interessiert. «Als aber dann vermehrt Essen vom Teller meiner Tochter flog, wurden die beiden sehr schnell beste Freundinnen. Raja ist bestechlich», lacht Müller.

Über den Hund hinwegklettern als Teil der Ausbildung

Im März dieses Jahres schloss Müller respektive Raja die Ausbildung zum Lesehund ab. Es handelt sich dabei um ein neueres Ausbildungsangebot, das vom Therapie Hunde Zentrum Schweiz angeboten wird. Müller erzählt: «Meine Mutter arbeitet sowohl in Knonau als auch in Menzingen in der Bibliothek. In Knonau gibt es das Lesehundangebot bereits seit Längerem und mit grossem Erfolg.»

«Primär wird in der Lesehundausbildung getestet, wie sich der Hund im Umgang mit Kindern verhält.»

Livia Müller, Tiermedizinische Praxisassistentin

Müller betont: «Die Ausbildung zum Lesehund ist, anders als jene zum Therapiehund, überschaubar von der Länge. Primär wird dort getestet, wie sich der Hund im Umgang mit Kindern verhält.» Die Hunde müssen es aushalten können, unkontrolliert an Mund und Füssen berührt zu werden. «Bei der Ausbildung kletterten Kinder über und unter Raja hindurch, um zu sehen, wie souverän sie solche Situationen meistert.» Fazit: sehr! Den Test bestand die Hündin problemlos.

Fiona liest, Raja lauscht. (Bild: wia)

Die Arbeit als Lesehund ist für Raja anstrengend

Livias Mutter Catherine Müller, die an diesem Kennenlernnachmittag in Menzingen dabei ist, sagt: «In Berührung mit dem Konzept Lesehund kam ich zuerst durch dieses Buch», sagt die Bibliothekarin. Sie hält ein Bilderbuch mit dem Titel «Annika und der Lesehund» hoch. «Als wir den Kindern dieses vorlasen, wurde es sehr ruhig, die Kinder waren ungewöhnlich aufmerksam. Ein Phänomen, dass wir bei den meisten anderen Büchern nicht erleben.»

Nicht nur sie, sondern auch alle anderen Bibliotheksmitarbeiterinnen freuen sich nun darüber, dass das Lesehundprogramm bald zum Fliegen kommt. Bereits jetzt sind zehn Anmeldungen eingegangen.

Livia Müller erzählt: «Wichtig ist, dass ich Raja zwischen den Leseetappen genügend Pausen lasse. Ich merke, dass ihr die Aufgabe als Lesehündin viel abverlangt. Auch wenn sie ‹nur› danebenliegt und gestreichelt wird.» Ebenso an diesem Abend, nachdem sie ein Dutzend neue Menschen kennenlernen durfte, wird Raja garantiert gut schlafen.

Verwendete Quellen
  • Besuch des Kennenlernnachmittags in Menzingen
  • Interviews vor Ort
  • Website Therapie Hunde Zentrum Schweiz zu Lesehunden
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1 Kommentar
  • Profilfoto von Dorine Walker
    Dorine Walker, 27.10.2023, 12:56 Uhr

    Guten Tag
    Ich biete den Lesehund seit kurzem im Schulhaus Herti in Zug an. Es braucht mehr Engagement, damit Kinder Freude am Lesen haben. Toll dass Sie einen so positiven Artikel geschrieben haben

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