Suchtkranke klagen über zu viel Polizeipräsenz in Luzern
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«Das esch wie Fangis»: Die Frage nach dem richtigen Mass an Repression gibt immer wieder zu reden. Auch derzeit wieder. Suchtbetroffene beschweren sich. Warum zu viel Polizeipräsenz zu einem Problem werden kann.
Er habe kein Problem mit der Polizei – solange sie keins mit ihm habe. Das sagt der Mann mit einem Schmunzeln, bevor er einen grossen Bissen seines Chicken-Curry-Sandwiches nimmt. Aber am Kasernenplatz, wo sich in den letzten Monaten Suchtbetroffene trafen, konsumierten und dealten (zentralplus berichtete), da habe bis zu drei Mal täglich eine Razzia stattgefunden.
All zu sehr ins Detail wollen viele nicht gehen. Manche haben Angst, noch mehr ins Visier der Polizei zu rücken, andere haben ganz andere Sorgen im Kopf.
Doch eins ist klar: Sucht- und armutsbetroffene Menschen begegnen in ihrem Alltag immer wieder den «Blauen», wie die Szene sagt – also den Gesetzeshüterinnen.
Die Begegnungen zwischen ihnen und der Polizei war in der letzten Ausgabe der «Gasseziitig Lozärn» Thema. Auf einer Doppelseite berichten mehrere Besucherinnen der Gassechuchi – Kontakt und Anlaufstelle, kurz: K+A, von ihren Erfahrungen mit der Polizei. Positiven wie negativen.
«Ich erlebe die Polizei insgesamt freundlich und zuvorkommend», schreibt etwa jemand. Doch in anderen Statements prangern Besucher die Polizeipräsenz an. «Die auffällig hohe Polizeipräsenz macht Stress, es macht keinen Sinn», schreibt etwa jemand. Jemand anderes hält fest, dass der Kontakt mit der Polizei schwierig sei. «Das esch wie Fangis.» Jemand drittes schreibt: «Manche laufen einen riesigen Umweg zur Gassechuchi – K+A oder laufen extra langsam, um nicht kontrolliert zu werden.»
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Polizeipräsenz unterliegt starken Schwankungen
Franziska Reist ist die Geschäftsleiterin der Luzerner Gassenarbeit. «Die Polizeipräsenz unterliegt starken Schwankungen», erklärt sie auf Anfrage. Und das ist schon seit Jahren so. Das zeigt auch ein Blick in frühere Ausgaben der «Gasseziitig», die kürzlich ihr 25-Jahr-Jubiläum feierte. Bereits 1995 war in Luzern eine Gassenzeitung in Umlauf, die «Tips für den Umgang mit der Polizei» enthielt.
«Wenn die Polizeipräsenz rund um die Gassechuchi – K+A höher ist, so ist die Wahrscheinlichkeit höher, dass Suchtbetroffene einfach anderswo hingehen, um ihre Drogen zu konsumieren.»
Franziska Reist, Geschäftsleiterin Gassenarbeit Luzern
Reist sagt weiter: «Es gibt Tage, an denen die Polizei mehrmals täglich vor der Gassechuchi – K+A mit einer Patrouille erscheint. Und dann gibt es Tage, an denen man kaum einmal einen Streifenwagen sieht.»
Teilweise gibt es dafür erklärbare Gründe. Etwa, wenn die Polizei jemanden sucht, weil sie einen Brief der Behörde – sprich Bussen – nicht ausstellen konnte und deswegen Empfängerinnen dieser Bussen in der Gassenküche sucht. Finden grössere Anlässe in Luzern statt, so sei die Polizeipräsenz tiefer.
Gassechuchi – K+A wirkt Bildung einer offenen Szene entgegen
Patrouilliert die Polizei oft vor der Gassechuchi – K+A, so kann das problematisch sein. Aus Angst vor Konsequenzen könnten Suchtbetroffene den Ort meiden, um nicht an einem Streifenwagen vorbeilaufen zu müssen. «Wenn die Polizeipräsenz rund um die Gassechuchi – K+A höher ist, so ist die Wahrscheinlichkeit höher, dass Suchtbetroffene einfach anderswo hingehen, um ihre Drogen zu konsumieren.»
Damit wird das eigentliche Ziel der Gassechuchi – K+A verfehlt. Denn Sinn und Zweck dieser ist, dass Suchtbetroffene hier in einem sauberen und geschützten Rahmen ihre mitgebrachten Drogen konsumieren können. Sie können zur Ruhe kommen, bekommen eine ausgewogene Mahlzeit und können Beratungen in Anspruch nehmen. Betrieben wird die Gassechuchi – K+A, die seit 2002 am Geissensteinring existiert, von der Gassenarbeit Luzern (zentralplus berichtete). Sie ist im Bereich der Schadensminderung tätig. Das ist einer von vier Pfeilern der Schweizer Drogenpolitik. Diese basiert auf den vier Grundsätzen: Prävention, Therapie, Schadensminderung und Repression.
«Letztlich wirkt die Gassechuchi – K+A auch der Bildung einer offenen Drogenszene entgegen», so Reist. Schliessen sie die Pforten der Gassechuchi – K+A um 16.30 Uhr, so sind Suchtbetroffene auch eher in der Stadt sichtbar (zentralplus berichtete). Die «Schliifi» – die Notschlafstelle – öffnet erst um 20 Uhr.
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Mündliche Vereinbarung
«Es ist wichtig, dass Suchtbetroffene auf dem Weg zur Gassechuchi – K+A ungestört bleiben», so Reist weiter. Statements in der letzten «Gasseziitig» zeigen, dass Suchtbetroffene aber rund um die Gassechuchi von der Polizei kontrolliert werden. So schreibt jemand: «Ich kam nicht sehr weit, denn ich wurde grundlos gefilzt (von der Polizei kontrolliert, Anm. d. Red.). Anschliessend musste ich erneut mischle (betteln) und nochmals Stoff organisieren.»
«Leider ist es so, dass im genannten Gebiet Drogenhandel an der Tagesordnung ist.»
Urs Wigger, Luzerner Polizei
Reist erklärt, dass es zwischen der Gassenarbeit und der Luzerner Polizei eine mündliche Vereinbarung gibt. Diese lautet, dass Suchtbetroffene auf dem Weg zur Gassenküche nicht kontrolliert werden. Es sei denn, die Polizei verdächtigt sie, mit Drogen zu handeln. Oder wenn sie Polizistinnen auf dem Weg in die Gassechuchi – K+A beim Drogenkonsum im öffentlichen Raum erwischen.
Wenn Betroffene den Eindruck haben, dass gegen diese mündliche Abmachung verstossen wurde oder sie die Polizei ohne für sie erklärbaren Grund kontrolliert hat, so melde die Gassenarbeit das der Polizei zurück. Hin und wieder würde sich jemand bei ihnen über die Polizei beschweren. «Wir haben einen gewissen Einfluss, aber keinen grossen», so Reist.
Polizei toleriert keine «rechtsfreien Räume»
Auftrag und Interessen unterscheiden sich. Die Polizei will Konsum und Dealen unterbinden, wo das Betäubungsmittel verletzt wird. Und der Verein kirchliche Gassenarbeit versucht Menschen in ihrer Sucht zu akzeptieren, zu begleiten und so gut es geht zu stabilisieren.
Repression und Schadensminderung im Einklang zu halten, ist nicht immer einfach. «Die Suche nach dem gesellschaftlich akzeptablen Gleichgewicht zwischen Repression und Schadensminderung ist ein schwieriger Seiltanz», schreibt Daniela Boog, Mitarbeiterin der Gassechuchi – K+A in der letzten «Gasseziitig». Denn auch die Polizei weiss: Drogenkonsum gibt es nicht ohne Betteln, ohne Geld – und ohne Deal.
«Manche Polizisten und Polizistinnen nehmen die Kontrollen Suchtbetroffener ernster, manche ein wenig entspannter.»
Franziska Reist
Stellt die Polizei strafbare Handlungen fest, ahndet sie diese. Und der Konsum von Drogen ist nun mal kriminalisiert. Urs Wigger, Mediensprecher bei der Luzerner Polizei betont, dass die Gassenküche bei weitem nicht der einzige Ort ist, an dem Drogen konsumiert werden. Vermutlich sei es aber der sichtbarste. «Leider ist es so, dass im genannten Gebiet Drogenhandel an der Tagesordnung ist», so Wigger. Das würden auch die regelmässigen Reklamationen aus der Bevölkerung zeigen. «Rechtsfreie Räume werden nicht toleriert. Die Szene ist immer in Bewegung. Dies hat unter anderem auch mit der entsprechenden Polizeipräsenz zu tun.»
Die Polizei macht laufend Lagebeurteilungen und passt ihre Präsenz an. Nicht nur im Bereich der Gassenküche, sondern auch an allen anderen Brennpunkten. Manchmal werde die Polizei auch zur Gassenküche gerufen. Etwa dann, wenn sich Personen vor dem Gebäude aufhalten, die keinen Zutritt erhalten. «Diese werden durch uns weggewiesen», so Wigger.
Polizei ahndet da, wo das Gesetz verletzt wird
Die Polizei beurteilt den Austausch mit der Gassenarbeit als «konstruktiv», auch Reist von der Gassenarbeit betont, dass der Austausch insgesamt positiv sei.
Sie betont auch, dass Polizistinnen einen gewissen Ermessensspielraum haben. «Es ist sehr personenabhängig. Manche Polizisten und Polizistinnen nehmen die Kontrollen Suchtbetroffener ernster, manche ein wenig entspannter.» Kürzlich habe ein Streifenwagen beispielsweise einen Klienten zur Gassechuchi – K+A gefahren, weil dieser nicht mehr so gut zu Fuss unterwegs sei.
Reist begrüsst es sehr, dass Jungpolizistinnen bei einem Rundgang schadensmindernde Angebote in Luzern kennenlernen, wie die Gassechuchi – K+A, das Drop-in und Jobdach. Sie appelliert auch an einen gewissen Menschenverstand. Nehmen Polizisten Suchtbetroffenen ihre Drogen weg, so müssen diese wieder Geld beschaffen, um an ihre Substanzen zu kommen. «Das ist bei Suchtbetroffenen immer auch mit einem gewissen Stress verbunden.»
Gemäss Urs Wigger von der Luzerner Polizei müsse die Situation im Einzelfall beurteilt werden. «Dealertätigkeiten oder offener Konsum werden nicht toleriert», hält er fest. «Personenkontrollen dienen dazu, um beispielsweise festzustellen, ob jemand polizeilich gesucht wird oder offene Geschäfte – wie Zuführungen, Zustellungen – vorhanden sind.»
Die Frage nach dem richtigen Mass
Schon die Vergangenheit hat gezeigt, dass Suchtbetroffene an ihren Treffpunkten häufig vertrieben werden. Nachdem die Polizei beispielsweise einen Posten am Luzerner Bahnhof eingerichtet hat, zersplitterte sich die Szene Suchtbetroffener, die sich zuvor vor allem am Perron 2 oder bei der Kante B getroffen hat. Oftmals sei es ein Spiel, bis sie wieder vertrieben werden, sagte eine Betroffene zu zentralplus. Bis die Gruppe an einem Treffpunkt in der Stadt zu gross wird – oder gedealt oder konsumiert wird (zentralplus berichtete).
Das richtige Mass an Repression wird Suchtkranke vermutlich immer beschäftigen, solange der Besitz und Konsum von Drogen illegal ist. Reist dazu: «Die vier Säulen der Schweizer Drogenpolitik funktionieren nur, wenn das Zusammenspiel von Repression und Schadensminderung stimmt. Und es wäre sehr schade, wenn das Modell zusammenbricht.»
- Augenschein und Gespräche vor Ort
- Aktuelle Ausgabe der «Gasseziitig Lozärn»
- Onlinearchiv der Lozärner «Gasseziitig»
- Telefonat mit Franziska Reist, Geschäftsleitung Gassenarbeit Luzern
- Schriftlicher Austausch mit Urs Wigger von der Luzerner Polizei