«Wo sollen wir hin?»: Das sagen Menschen auf der Gasse
Die Szene der sucht- und armutsbetroffenen Menschen ist zersplittert. Am Kasernenplatz in Luzern werden Drogen konsumiert – im Aldi vor der Bruchstrasse wird in Ruhe ein Prosecco getrunken. Doch wie wohl und willkommen fühlt sich die Szene in dieser Stadt? Wir haben uns dazu gesetzt.
«Hallo zäme», sagt eine Frau, die mit einem Tragetuch ein Baby auf ihren Bauch gewickelt hat. Das Baby guckt in die Gesichter der Menschen, die schon vor der grossen Fensterfront des Aldi an der Bruchstrasse stehen, die Frau lächelt. Es wird die einzige Person bleiben, die die Gruppe an diesem Abend grüssen wird.
Immer grössere Regentropfen fallen vom Himmel, mit mehr Tempo. Ein Mann im Rollstuhl überquert die Strasse, gesellt sich zu den anderen. Um seinen Hals trägt er einen dicken, rot-gold-gelben Schal. Schliesslich spielen die Spanier an diesem Abend gegen Costa Rica. «Sender chli am omechöngele?», fragt er in die Runde.
Roland und Marion sind noch nicht eingetroffen. Tags zuvor traf ich die beiden hier an. Roland sass am Boden, war in ein Gespräch mit Marion vertieft. «Darf ich euch etwas fragen», sprach ich sie an, als ich mich traute. «Natürlich», sagte Roland, seine freundlichen, blauen Augen, die er mit schwarzem Kajal umrandet hat, blickten mir entgegen. Ich will wissen: Wie wohl und willkommen fühlen sie sich in dieser Stadt – oder werden sie überall vertrieben?
Kasernenplatz und Aldi: Szene sucht- und armutsbetroffener Menschen hat sich verlagert
Die Szene der sucht- und armutbetroffenen Menschen hat sich in den letzten Monaten in der Stadt zersplittert. Insbesondere der Kasernenplatz wurde zum beliebten Treffpunkt. Es wird konsumiert und gedealt – und das am helllichten Tag.
Bahnt sich in Luzern eine offene Drogenszene an? Die Frage beschäftigt viele – von der Gassenarbeiterin bis hin zum städtischen Sicherheitsmanager und zur Polizei (zentralplus berichtete).
«Gassechuchi», «Schliifi» & Co. – die Öffnungszeiten sind begrenzt
Nur Minuten nach meiner Ankunft beim Aldi eilt Marion um die Ecke, mit Mütze und Schal bekleidet. Sie entschuldigt sich und fragt, ob ich schon lange warte. Roland würde erst später dazustossen, erklärt sie mir.
Da der Regen stärker wird, sucht sich die Truppe Unterschlupf, ein paar Schritte weiter links, vor dem Eingang zu einem modernen und sterilen Wohnungsblock. Nach einer kurzen Umfrage innerhalb der Gruppe decke ich mich im Aldi mit Energy Drinks und ein paar Prosecco-Dosen ein. Marion trinkt kein Bier, sondern «Stösschen». Sehr sympathisch, das habe ich bereits gestern gedacht, als ich Roland mit dem «Stösschen» in der Hand angetroffen habe.
Die Gruppe – mittlerweile sind sie etwa zu fünft – hat sich unter die breiten Säulen zurückgezogen. Marion zündet sich eine Zigarette an und beginnt zu erzählen. «Es fehlt einfach ein Platz für uns», sagt Marion. Zwar gibt's in der Stadt viele Institutionen, die für Menschen, die eher am Rande stehen, da sind. Wie die «Gassechuchi», die «Schliifi» (Notfallstelle) und die «Wärchstatt» des Vereins Jobdach.
Das Problem: Die Gassechuchi schliesst um 16:30 – die Schliifi öffnet erst um 20 Uhr. Und das Drop-in – der Drogenberatungsstelle oder der «Klub», wie sie hier in der Szene sagen – ist nicht als Aufenthaltsraum gedacht.
Nirgends sind sie gern gesehen
Früher hielten sich Marion und die anderen oft vor dem Coop am Kasernenplatz auf (zentralplus berichtete). Doch irgendwie sei es immer ein Spiel, sagt Marion. Ein Spiel, bis sie wieder vertrieben werden, die Gruppe am Ort zu gross wird – oder eben gedealt und konsumiert wird, was nicht allen in den Kram passt. Am Kasernenplatz an der Reuss führe die Polizei täglich Razzien durch, auf dem Perron 2 beim Bahnhof werde man nicht geduldet.
«Wo sollen wir denn hin?», fragt Marion und nimmt einen grossen Zug ihrer Zigarette. «Nirgends sind wir gern gesehen.» Oftmals würden sie sich deswegen auch in eine Tiefgarage verziehen. Da werden sie quasi wieder unsichtbar – niemand kann sich darüber stören. Und gerade bei strömenden Regen oder im Winter finden sie da einen Ort, an dem sie trocken bleiben. «Es gibt in Luzern einfach keinen Ort, an dem wir die Zeit überbrücken könnten», so Marion.
«Alkohol, Drogen, Party. Was ist los?»
Marco, der neben uns steht und sich zuvor darüber gefreut hat, dass ich ihm keinen 50-Rappen-Energy-Drink, sondern ein Red-Bull in die Hand gedrückt habe, geht zwei Schritte zurück, um Platz zu machen. Eine junge Frau, ihre Haare streng nach hinten gebunden, schreitet an uns vorbei, ein junges Mädchen an ihrer Hand. «Jeden Abend ist es dasselbe», sagt sie. «Alkohol, Drogen, Party. Was ist los?»
Sie ist ganz aufgebracht, spricht aufgeregt und schnell. Marion erklärt ihr, dass sie hier in diesem Eingang zum ersten Mal stehe. Und dass sie hier stünde, um mir ihre Geschichte zu erzählen. Schliesslich regnet es ja. Doch die Frau scheint gar nicht wirklich zuzuhören. «Jeden Abend …», sagt sie, öffnet die Glastür mit ihrem Schlüssel, um sie demonstrativ wieder zuzudrücken, sobald sie hineingehuscht ist.
Marco versteht den Unmut der Frau nicht. Er habe ihr doch extra Platz gemacht. «Aber das kennen wir doch langsam», sagt er auf die Frage, ob sie oft so angefeindet werden. «Und es tut weh, wenn wir alle in denselben Topf geworfen werden. Weil hier längst nicht alle konsumieren.» Und weil sie auch bemüht darum seien, keinen Dreck liegenzulassen.
«Aber diese Feindseligkeit sind wir uns ja gewohnt», sagt auch Marion. Sie guckt mich an, ist sichtbar betroffen. Die Worte scheinen ihr nahe gegangen zu sein. Weil sie sie fast täglich zu hören bekommt. Das erlebe ich auch so, in der einen Stunde, die ich hier vor dem Aldi mit Marion verbringe.
Konsumieren im Versteckten
«Das Problem ist», erzählt Marion weiter, «dass unsere Gruppe immer grösser wird. Zu Beginn waren wir zu viert. Doch je mehr Leute dazu stossen, desto eher hat einer geklaut, ein anderer die Pfeife rausgeholt und konsumiert oder was rausgelassen. Logisch gibt es dann ein Geläufe.» Was «rauslassen» – damit meint sie Drogen vertickt. Sobald so etwas passiere, «sei es passiert». Dabei wollen einige in der Gruppe ihre Treffpunkte wahren und schauen, dass er nicht zu einer offenen Drogenszene verkommt.
«Drogen konsumieren, so etwas macht man doch im Versteckten.»
Klar, brauche die Szene ihren Platz, findet Marion. Sie hat selbst Drogen konsumiert, ist heute im Methadonporgramm. «Aber Drogen konsumieren, so etwas macht man doch im Versteckten. Bei sich Zuhause, in der Tiefgarage, auf dem Klo. Aber doch nicht hier.» Marion schüttelt den Kopf. Sie fände es auch falsch, wenn im Vögeligärtli konsumiert werde, nicht unweit des Spielplatzes, wo sich Kinder austoben. Kinder sollen das nicht sehen, findet sie.
Und sie würde als Mutter auch die Fassung verlieren, wenn sie gar noch Spritzen im Sandkasten finden würde. Manche seien einfach zu «gierig». Vielleicht ist auch einfach der Drang nach den Drogen, nach dem Kick, zu gross. Das Jagen nach dem nächsten Zug.
Pfeife in der Jackentasche
Kaum gesagt, kramt neben uns ein Mann in der Jackentasche seines olivfarbenen Mantels, bis er gefunden hat, nach was er gesucht hat. Ich erkenne durch die bereits angebrochene Dunkelheit und den Regen nicht, was. «Siehst du», sagt Marion. «Das ist jetzt genau so einer.»
Jetzt erkenne ich die Pfeife, die der Mann in seiner rechten Hand hält und an seinen Mund führt. Vermutlich Freebase – Kokain, das meistens mit Ammoniak aufgekocht wird und noch intensiver kickt. Eine Droge, die in Luzern vor Jahren aufgekommen ist. Und schwer abhängig machen kann, wie mir eine Gassenarbeiterin erzählt hat. Der Rauchende steht denn auch teilnahmslos im Regen, starrt mit glasigem Blick auf die Strasse.
Szene darf sichtbar sein
«Irgendwo muss es ja abends eine Szene geben», sagt Marion. «Sie ist in Luzern klein – aber eben da. Wir dürfen sichtbar sein», sagt sie. Ob sie sich eher einen Platz wünscht, an dem die Gruppe unter sich sei, unter einem geschützten Dach – oder ob sie eben auch ihren Platz hier draussen in der Stadt haben dürfen, kann sie nicht abschliessend sagen. Hauptsache ein Ort, an dem sie sein dürfen – und nicht vertrieben werden.
«Könnt ihr euch nicht einen anderen Platz suchen?»
Ein junger Mann mit kurzgeschorenem Haar und in eine dicke Daunenjacke eingepackt steht vor uns. Eine junge Frau steht hinter ihm. «Könnt ihr euch nicht einen anderen Platz suchen?», fragt er gehässig. Für ein «Hoi» hat's nicht gereicht. Er massregelt die Anwesenden, dass sie «ihren Dreck nicht liegenlassen» sollen. Er gestikuliert mit seinen Händen in der Luft herum, schenkt den Anwesenden einen letzten bösen Blick – und verschwindet hinter der Glastür. Es ist nicht das letzte Mal, dass wir den jungen Mann sehen.
Denn nur Minuten später kreuzt er wieder auf. «Das hier ist kein öffentlicher Platz, imfall», sagt er. «Wenn ihr nicht weggeht, rufe ich die Polizei!» Unter den Säulen ertönt ein Grummeln, Menschen sprechen durcheinander. Marion erklärt den anderen, dass der Mann ja hier wohne. Er zahle Miete und sei somit völlig im Recht. Sie dreht sich wieder um und erklärt dem Mann: «Mer göhnd ja grad.» Marion guckt betreten zu Boden.
«Sicherlich gibt es auch die Menschen, die lieb zu uns sind», sagt Marion. Menschen, die sie «einfach sein lassen». Menschen, die sich mal zu ihnen setzen, ihnen zuhören. Oder eine Dose Bier in die Hand drücken. Doch Begegnungen wie diese, wie ich sie an diesem Abend, in dieser einen Stunde, erlebt habe, gibt es eben auch. «Leider», sagt Marion. Wir haben das «Stösschen» mittlerweile ausgetrunken und umarmen uns zum Abschied.
Ich werde sicherlich wiedermal mit «Stösschen» beim Aldi vorbeischauen.
- Augenschein vor Ort
- Persönliche Gespräche vor Ort – unter anderem mit Marion