Nach Kritik am Luzerner Stadtrat

Kartonsammlung: Die Tragödie, das Urteil, die Folgen – und die Zukunft

In Luzern wird über die Sicherheit bei der Kartonsammlung diskutiert. (Bild: Adobe Stock)

Der Luzerner Stadtrat hat aus juristischen und Sicherheitsbedenken entschieden, dass die Kartonsammlung nicht mehr durch die städtischen Jugendvereine durchgeführt werden darf. Um die aktuelle Kontroverse zu verstehen, muss man auf eine schmerzhafte Vergangenheit zurückblicken.

Die städtischen Jugendvereine standen plötzlich vor vollendeten Tatsachen. Der Stadtrat hat beschlossen, dass sie keine Kartonsammlung mehr durchführen dürfen. Die betroffenen Pfadi-Abteilungen und Jungwacht-Blauring-Scharen sehen sich nun – praktisch ohne Vorwarnung – mit massiven Löchern in der Vereinskasse konfrontiert (zentralplus berichtete).

In der Folge wurden zunächst die Jungparteien aktiv (zentralplus berichtete), danach auch jene im Grossen Stadtrat (zentralplus berichtete). Die daraus resultierenden Vorstösse werden demnächst im Stadtparlament behandelt werden müssen. Der Stadtrat wird sich dann wohl massiver Kritik stellen müssen.

Um zu verstehen, wie es zu dieser Ausgangslage gekommen ist – und wohin ein konstruktiver Weg in die Zukunft führen könnte – muss man bis ins Jahr 2007 zurückblicken.

Sechs Kinder auf dem Trittbrett

Am 10. Mai 2007 fand in Buchrain die Papiersammlung statt. An dieser beteiligte sich auch eine Primarklasse der Gemeinde. Das Unglück geschah, als ein Kehrichtlastwagen rückwärts in eine Sackgasse fuhr. Auf den Trittbrettern am Lastwagenende standen zu diesem Zeitpunkt sechs Buben – erlaubt wären nur drei Personen gewesen.

Ein 13-jähriger Knabe verlor beim Rückwärtsmanöver des Lastwagens den Halt, geriet unter die Hinterachse des Sammellastwagens und verstarb noch vor Ort.

Unternehmer erhielt Geldstrafe

Die Tragödie führte 2010 zu einer Verurteilung vor Gericht: Der Lastwagenunternehmer wurde zu einer Geldstrafe von 42'000 Franken verurteilt. Dem damals 57-Jährigen sei bekannt gewesen, dass beim Papiersammeln jeweils sechs Schüler auf den Trittbrettern mitfuhren.

Indem er die geltende Vorschrift – nicht mehr als drei Personen auf den Trittbrettern – nicht durchgesetzt habe, sei er pflichtwidrig untätig geblieben, begründete das Gericht das Urteil. Der damals ebenfalls beschuldigte Lehrer wurde hingegen vom Amtsgericht freigesprochen.

Jurist kritisierte Gemeinden

Die Tragödie von Buchrain und dessen strafrechtlichen Konsequenzen führten bei manchen Schweizer Gemeinden zum Entscheid, solche Sammlungen nicht mehr von Schülern durchführen zu lassen. Andere Gemeinden setzten jedoch weiterhin auf Sammlungen durch Kinder und Jugendliche.

Dies führte zu einem vielbeachteten Artikel mit dem Titel «Papiersammlung: Ein Risiko zu viel für die Schule!», der im Fachmagazin «Bildung Schweiz» erschien. Darin kritisiert der Jurist und Pädagoge Peter Hofmann die Praxis, Schüler einzusetzen, scharf.

Im Artikel ist unter anderem folgende Passage zu lesen: «Billigend nehmen die Verantwortlichen der Gemeinde einen Unfall als mögliche Nebenwirkung von Papiersammlungen in Kauf. Oft scheint diesen Behörden nicht bewusst zu sein, dass ihnen seitens der Gerichte und Versicherungen bei einem Unfall Eventualvorsatz vorgeworfen werden könnte.»

Diverse Massnahmen zur Sicherheit

Der 2014 erschienene Artikel ist auch für die heutige Diskussion in Luzern noch relevant. In dem von den Stadtluzerner Grünen, SP und CVP gemeinsam eingereichten Postulat wird explizit auf den Artikel verwiesen. Demnach stütze sich die Stadt Luzern bei ihrem Entschluss auf ebendiesen.

Der Dachverband der städtischen Jugendorganisationen (DSJO) spricht in einer Medienmitteilung ebenfalls die Sicherheitsbedenken der Stadt an und kann deren Bestehen nachvollziehen. Der Verband weist aber auch darauf hin, dass in den vergangenen Jahren diverse Massnahmen umgesetzt wurden, um die Sicherheit zu erhöhen. Darunter etwa folgende:

  • Bei der Einfahrt in den Werkhof wurde eine Barriere errichtet, sodass die Ein- und Ausfahrten der Sammelfahrzeuge besser kontrolliert werden können.
  • Auf dem Werkhof wurde zudem ein Kran eingebaut, sodass auf den Einsatz eines grossen Radbaggers während des Ausladens des Kartons werden konnte.
  • Neue Merkblätter für Verhaltensregeln wurden eingeführt, welche jeweils vor der Sammlung an die Sammelgruppen verteilt werden.
  • Aufgrund des Gefahrenpotenzials des Strassenverkehrs führen in der Regel Jugendliche und junge Erwachsene ab zirka 15 Jahren die Sammlungen durch.

Artikel weist auf Alternativen hin

Bleibt die Frage, wie es nun weiter gehen soll. Dass der Stadtrat auf seinen Entscheid zurückkommen wird, erscheint eher unwahrscheinlich. Die Politik fordert alternative Betätigungen, spezifische Vorschläge sind jedoch noch keine gefallen.

Vielleicht lohnt sich ein weiterer Blick auf den oben erwähnten Artikel. Darin wird das Modell der Gemeinde Rapperswil im Kanton Bern erwähnt. Gemäss dem Artikel stellte die Gemeinde die Papiersammlung durch Kinder und Jugendliche ein und ersetzte sie durch ein Bringsystem.

Die Einwohner bringen ihr Altpapier zu bereitgestellten Containern. Die Oberstufenschüler helfen bei den Sammelstellen mit, das Papier zu ordnen. Für Personen, die keine Möglichkeit haben, das Altpapier selber zu bringen organisiert die Schule einen Holservice.

Kommunikation muss sich verbessern

Ob eine solche – oder eine ähnliche – Alternative auch für Luzern Sinn ergibt und umsetzbar wäre, müsste sich noch zeigen. Klar scheint jedoch, dass dafür eine echte Kommunikation zwischen Stadt und Jugendorganisationen stattfinden müsste – was offensichtlich bisher nicht der Fall war.

Die Jugendorganisationen scheinen aber weiterhin offen für Gespräche: Der Website des DSJO ist zu entnehmen, dass eine Taskforce die Arbeit aufgenommen hat, um möglichst schnell Lösungsvorschläge machen zu können.

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1 Kommentar
  • Profilfoto von Rene Gruber
    Rene Gruber, 31.08.2020, 09:47 Uhr

    Einmal mehr wird hier in meinen Augen weit übers Ziel hinaus geschossen. Ja jeder Unfall ist tragisch und ein tödlicher Unfall natürlich noch viel tragischer. Allerdings muss man ganz einfach auch realistisch sein, Unfälle lassen sich nie zu 100% verhindern und bei tausenden von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen die bei Papiersammlungen in der ganzen Schweiz im Einsatz sind gibt es so gut wie keine schweren Unfälle.
    Heute herrscht leider die Mentalität, dass man alles 100%ig sicher machen muss. Die Folge davon ist, dass das Gefahrenbewusstsein in der Bevölkerung immer kleiner wird. Ganz nach dem Motto «Es ist ja nicht abgesperrt, also ists nicht gefährlich» wird häufig auf eine eigene Gefahrenanalyse verzichtet, respektive die Leute sind eben gar nicht mehr fähig Gefahren zu erkennen. Die Menschen müssen wieder lernen Gefahren zu erkennen, denn selbst wenn wir alles mit Schaumstoff einkleiden und vermeintlich sicher machen, wird es immer wieder zu Unfällen kommen.

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