Luzerner Pfarreileiter im Oster-Interview

«Die Kirche darf nicht mehr so sein wie früher»

Lukas Briellmann ist Pfarreileiter in Root. (Bild: ida)

An Ostern zieht es auch Gläubige in die Kirche, die ihr sonst eher fernbleiben. Lukas Briellmann, Leiter der Pfarrei Root, hat sich für einen kirchlichen Beruf entschieden. Trotz eines erlebten sexuellen Übergriffs.

Ostern ist für Christinnen viel mehr als Eiertütschen. Es ist eine Zeit, in der Freude und Trauer nahe beieinanderliegen. Am Karfreitag starb Jesus am Kreuz. Am dritten Tage fanden zwei Frauen sein Grab jedoch leer vor. Jesus war auferstanden – so der Glaube.

In Luzern finden zahlreiche Gottesdienste statt. So auch in der Kirche Dierikon. Lukas Briellmann (63), der seit bald 15 Jahren Pfarreileiter der katholischen Kirche in Root ist, lädt zum Gottesdienst um 6 Uhr. Frühmorgens, wie auch die zwei Frauen aus dem Neuen Testament, die am Grabe nach dem Rechten sehen wollten. Im Gespräch mit zentralplus spricht Briellmann über Ostern, die Austrittswelle – und warum sein Grundvertrauen in die Kirche kaum zu erschüttern ist.

zentralplus: Ostern steht für Hoffnung und Erlösung. Lukas Briellmann, was gibt Ihnen Hoffnung – gerade in Zeiten, die von Krieg und Unsicherheiten geprägt sind?

Lukas Briellmann: Die christliche Botschaft, die viel auf Hoffnung ausgelegt ist. Die Osterzeit ist wie eine Kurzfassung dessen, was das menschliche Leben beinhaltet: vom Feiern des Miteinanders am Gründonnerstag über die völlige Katastrophe am Karfreitag und der anschliessenden Leere am Karsamstag bis hin zum Osterfest, das neue Perspektiven eröffnet. Das Gefühl, von allem rundum vergessen und verlassen zu sein und mitten in einer Sackgasse zu stecken, kennt wohl jede und jeder. Ostern will aus dieser Erfahrung heraus einen Weg zu neuer Lebendigkeit zeigen.

zentralplus: Ostern gilt als das wichtigste Fest der Christen. Doch immer weniger scheinen es zu feiern. In den vergangenen Jahren kehrten über 30’000 Personen in der Schweiz der römisch-katholischen Kirche den Rücken. Was löst das in Ihnen aus?

Briellmann: Das macht mich sehr betroffen. Besonders drastisch war es nach Veröffentlichung der Missbrauchsstudie im September 2023 (zentralplus berichtete). Auf unserem Tisch lagen jeden Tag mehrere Austritte. Der Zerfall wurde sichtbar. Besonders nahe gehen mir Kirchenaustritte von Weggefährten oder Familienmitglieder von mir.

«Dieses Aufarbeiten ist eine wichtige Aufgabe – aber im ersten Moment ist man ein Verlierer.»

zentralplus: Haben Sie mit den Austretenden das Gespräch gesucht?

Briellmann: Die meisten Austritte gelangen mit vorgefertigten Formularen an uns. In diesen steht, dass die Betroffenen nicht mehr kontaktiert werden wollen. Das respektieren wir. Mit jenen, die ich kannte, habe ich teilweise das Gespräch gesucht. Nicht, um sie vom Gegenteil zu überzeugen, sondern weil ich mich für die Gründe interessierte. Um zu erfahren, was die Kirche verändern müsste, damit die Menschen blieben.

zentralplus: Wie war das für Sie?

Briellmann: Diese Gespräche waren nicht immer einfach. Die meisten hatten schon länger keinen Bezug mehr zur Kirche, die Missbrauchsstudie war Auslöser für den endgültigen Schritt. Für mich ist es hart, das schlechte Image der Kirche zu verarbeiten. Ich werde immer wieder gefragt, wie ich für so eine Kirche arbeiten könne.

zentralplus: Was antworten Sie darauf?

Briellmann: Die Kirche ermöglicht viel. Nur wird das momentan nicht so gesehen. Die Kirche schafft Räume, bringt Menschen zusammen, begleitet sie in Freude und Trauer. Die Kirche engagiert sich sozial. So spendete die Kirchgemeinde Root vergangenes Jahr 100’000 Franken an karitative Institutionen im In- und Ausland. Jeden Tag sehe ich, wie Menschen innerhalb der Kirche ihr Bestmögliches geben. Zudem möchte ich betonen: Die Kirche hat die Studie selbst in Auftrag gegeben und wollte das Geschehene aufarbeiten. Dieses Aufarbeiten ist eine wichtige Aufgabe – aber im ersten Moment ist man ein Verlierer.

«Besonders heftig finde ich, dass der Priester zuvor mit einem Paar das Fest der Liebe feierte und sich unmittelbar darauf an dem nächsten jungen Mann vergriff.»

zentralplus: Sie selbst haben einen sexuellen Übergriff erlebt. Mögen Sie davon erzählen?

Briellmann: Ja, das war in den 80er-Jahren. Mit einem Kollegen reiste ich während des Studiums nach Südfrankreich. Er war bereits wieder heimgefahren, als ich eine Kathedrale mit einem bekannten romanischen Kreuzgang besichtigte. Ein Hochzeitspaar trat aus der Kirche, ein Priester, in voller Priesterkleidung, folgte ihm. Er suchte mit mir das Gespräch, zog mich immer näher zu sich, legte seine Hand um meinen Nacken. Schliesslich fasste er mir in den Schritt. Ich stiess ihn von mir und ging so schnell ich konnte weg. Ich sehe immer noch seinen Blick und sein Lächeln vor mir, als er sich an mich herangemacht hat. Besonders heftig finde ich, dass der Priester zuvor mit einem Paar das Fest der Liebe feierte und sich unmittelbar darauf an dem nächsten jungen Mann vergriff.

zentralplus: Viele Opfer brauchen Zeit, bis sie den Mut fassen können, darüber zu reden. Wie war das bei Ihnen?

Briellmann: Ich weiss nicht mehr, wem ich es als Erstes anvertraut habe. Zu schweigen bringt jedoch nichts. Die Wahrheit macht einen frei. Wenn etwas ans Licht kommt, so kann man sich selbst davon befreien. Heute tut es gut, wenn ich davon spreche. Aber ich muss auch sagen, dass das, was ich erlebte, eher mild war im Vergleich zu anderen Missbrauchsopfern. In vielen Fällen braucht es professionelle Begleitung, bevor die Opfer wieder eine gewisse Freiheit finden.

zentralplus: Ein solches Ereignis kann Auslöser sein, mit der Kirche nichts mehr zu tun haben wollen. Warum kehrten Sie der Kirche nicht den Rücken?

Briellmann: Ich habe ein Grundvertrauen in die Kirche, das nicht so einfach zu erschüttern ist. Ich verbinde seit meiner Kindheit unzählige gute, stimmige und auch hoffnungsvolle Erlebnisse mit der Kirche, insbesondere das Zutrauen, das mir die Jesuiten entgegenbrachten.

Schätzt insbesondere, als Pfarreileiter Menschen begleiten zu können: Lukas Briellmann. (Bild: ida)

zentralplus: Was meinen Sie damit?

Briellmann: Mein Selbstvertrauen war am Boden, nachdem ich am Gymnasium zweimal eine Klasse wiederholen musste und mich ein Lehrer ständig kleinmachte. Schliesslich wechselte ich die Schule, wo ein Jesuitenlehrer auf mich zukam und mich fragte, ob ich Lust hätte, mich in der Jugendarbeit zu engagieren. In einer Zeit, als ich mich klein fühlte, hat er mir etwas zugetraut.

zentralplus: Was haben Sie da gemacht?

Briellmann: Es handelte sich um eine Liturgie-Gruppe, eine Gruppe Jugendlicher, die für andere Jugendliche Gottesdienste vorbereitete. Wir machten aber noch viel mehr als das. Wir führten Nachtwanderungen durch, kochten gemeinsam, reisten nach Rom oder veranstalteten eine der damals grössten Diskotheken in Basel. Es war jenes Ereignis mit der Kirche, das mich auf den Weg brachte, Theologie zu studieren.

zentralplus: Welche Rolle spielte die Kirche in Ihrer Kindheit?

Briellmann: Es war mein Vater, der mich in die Kirche mitgenommen hat. Ich weiss noch, wie er immer schnellen Schrittes zur Kirche lief und ich fast nicht nachgekommen bin. Den Gottesdienst besuchten wir in der Kirche Bruder Klaus in Basel – einem modernen Rundbau. Die Kirche faszinierte mich, nur schon von der Architektur her. Man sah einander auch von der Seite, der Priester war nahe bei den Leuten. Es war ein Miteinander.

zentralplus: Ihr Vater war auch im ersten Pfarreirat der Stadt Basel.

Briellmann: Genau, das war anfangs der 70er-Jahre. Schon damals hat sich der Pfarreirat intensiv mit der Frage auseinandergesetzt, was für eine Kirche sie überhaupt wollten. Auch ich sage heute: Die Kirche darf nicht mehr so sein wie früher. Mit früher meine ich auch: wie vor 10, 20 Jahren. Deswegen müssen wir ebenfalls jüngere Generationen einladen, Entscheidungen für die Zukunft mitzutragen.

«Wir Älteren müssen loslassen und nicht mehr allein darüber bestimmen, wie es mit der Kirche künftig weitergeht.»

zentralplus: Wie meinen Sie das?

Briellmann: Auch in der Katholischen Kirche Rontal stehen viele Pensionierungen bevor. Ich bin klar der Meinung: Wir Älteren müssen loslassen und nicht mehr allein darüber bestimmen, wie es mit der Kirche künftig weitergeht.

zentralplus: Also sind Sie für ein Frauenpriestertum und ein Ende des Zölibats, wie es oft gefordert wird?

Briellmann: Für mich führt kein Weg daran vorbei. Die Kirche humpelt in vielen Dingen nach, was die Stellung von Frauen oder Verheirateten anbelangt. Auch diese strikte Trennung von Laien und Klerus und dass Priester als etwas Höheres, Unerreichbares angesehen werden, halte ich für falsch. Heute zählt der Mensch und seine Glaubhaftigkeit.

zentralplus: Hat die Kirche als sinnstiftende Institution im 21. Jahrhundert ausgedient, wenn sie Werte vertritt, an die viele nicht (mehr) glauben?

Briellmann: Eine schwierige Frage. Ich glaube nicht, dass die Kirche als sinnstiftende Grösse ausgedient hat. Insbesondere wenn ich die Bereiche sehe, in denen sie einen riesigen Erfahrungsschatz zu bieten hat, gerade was das Begleiten von Menschen anbelangt. Etwa bei einer Familiengründung, beim Erwachsenwerden der Kinder, bei Krankheiten, beim Sterben, Tod und Trauern. Weiter kann die Kirche ethische Denkanstösse dazu geben, ob alles medizinisch und technologisch Machbare auch getan werden sollte. Alles in allem glaube ich: Die Kirche wird weiterhin als sinnstiftende Institution für viele Menschen da sein – den Anspruch aber, dass sie flächendeckend die ganze Gesellschaft repräsentiert, müssen wir jedoch vergessen.

zentralplus: Wie wollen Sie junge Menschen für die Kirche begeistern?

Briellmann: Ich bezweifle ein wenig, dass man gerade für die aktuelle Kirche junge Menschen begeistern kann. Junge suchen heutzutage nicht unbedingt die Kirche. Ich glaube, wir müssten eher bei Glauben oder Spiritualität ansetzen. Und auch Räume zur Verfügung stellen, in denen eine Auseinandersetzung mit Sinnfragen möglich ist. Vielleicht führt das mit der Zeit wieder zu einer kirchlichen Erfahrung.

zentralplus: Wenn Sie unseren Leserinnen eine Bibelstelle mit auf den Weg geben könnten, welche wäre es?

Briellmann: Es wäre die Geschichte, wie zwei Jünger am Tag der Auferstehung Jesu nach Emmaus laufen. Jesu begegnet ihnen, doch sie erkennen ihn nicht. Sie kommen ins Gespräch – ein offener Austausch über ihre Verzweiflung und ihre Hoffnung –, fast in eine Art Seelsorgegespräch. Sie erzählen, wie Jesus ans Kreuz genagelt wurde. Aber sie erkennen ihn erst, als er das Brot und den Wein nimmt und das Segensgebet spricht. Diese Begegnung hat das Leben der beiden Jünger total verändert. Zuvor waren sie niedergeschlagen und traurig – die Begegnung mit Jesus jedoch liess sie später sagen: «Brannte da nicht ein Feuer in unseren Herzen.» Durch den Glauben fanden sie wieder Hoffnung, Kraft und Visionen – neues Leben.

Verwendete Quellen
  • Persönliches Gespräch mit Lukas Briellmann
  • Kirchenstatistik des Schweizerischen Pastoralsoziologischen Instituts
  • Beitrag im «Kantonalen Pfarreiblatt Luzern»
  • Website und Infos der Pfarrei Root
Deine Ideefür das Community-Voting

Die Redaktion sichtet die Ideen regelmässig und erstellt daraus monatliche Votings. Mehr zu unseren Regeln, wenn du dich an unseren Redaktionstisch setzt.

Deine Meinung ist gefragt
Deine E-Mailadresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert. Bitte beachte unsere Netiquette.
Zeichenanzahl: 0 / 1500.


4 Kommentare
  • Profilfoto von Dolfino
    Dolfino, 01.04.2024, 18:49 Uhr

    Was muss noch alles an die Öffentlichkeit kommen bis diese Taten der kirchlichen Oberen endlich an öffentliche Gerichte kommen. Es wird immer nur geredet und keiner wird endlich vor Gericht gestellt. Eine Schande für die Kirche, darum bin ich schon viele Jahre aus diesem verlogenen Verein ausgetreten und es werden immer mehr austreten, wenn wundert es noch.

    👍0Gefällt mir👏0Applaus🤔0Nachdenklich👎0Daumen runter
  • Profilfoto von Karl-Heinz Rubin
    Karl-Heinz Rubin, 01.04.2024, 07:09 Uhr

    Man sollte der Kirche das Recht auf ein eigenes Recht wegnehmen.
    Wer eine Straftat begeht, sollte auch verurteilt werden können.

    👍0Gefällt mir👏0Applaus🤔0Nachdenklich👎0Daumen runter
  • Profilfoto von Bubu
    Bubu, 31.03.2024, 16:24 Uhr

    Da wird sich nie was ändern. Rom, Vatikan muss verschwinden, das ganze verstaubte Theater … Ich bin schon lange ausgetreten. Nein Danke.

    👍0Gefällt mir👏0Applaus🤔0Nachdenklich👎0Daumen runter
  • Profilfoto von Lienard D.
    Lienard D., 31.03.2024, 14:18 Uhr

    Die Kirche spricht das Problem endlich offen an. Derart können die grundsätzlichen Schwierigkeiten mal bei Seite geschoben werden, denn die Abwendung von den Kirchen liegt nicht nur an den sexuellen Übergriffen. In drastischem Widerspruch zur eigenen christlichen Ethik, als Grundprinzip der christlichen Theologie des moralisch Guten, war die Kirche immer Teil der bösartigen Machtsysteme, die auf jede erdenkliche Weise die Menschen kontrolliert und ausgebeut hat und war an sämtlichen Schweinereien und Genoziden direkt beteiligt. Als moralische Instanz hat sie nicht nur völlig versagt, sondern war lange Zeit nichts weiter, als eine theokratische Konkurrenz zum Adels. Sie hat dazu die Spiritualität okkupiert und in ein Leben "danach" verschoben. Die christliche Religion hat die Kontrolle über das Denken der Menschen als eine frühe Form von Totalüberwachung durch strengste Ideologie ausgeübt.

    👍1Gefällt mir👏0Applaus🤔0Nachdenklich👎0Daumen runter
Apple Store IconGoogle Play Store Icon