Leiterin der Pfarrei St. Leodegar im Gespräch

Sobald klar ist, wann mögliche Missbräuche geschahen, zeigt sich, wer es war

Claudia Nuber leitet die Pfarrei St. Leodegar seit 1. August als erste Frau. (Bild: kok)

Eine neue Studie über Missbräuche in der katholischen Kirche erschüttert die Schweiz. Zum Bettag trifft zentralplus die Leiterin der Pfarrei St. Leodegar in Luzern. Zeitgleich werden neue Vorwürfe über den Bischof publik.

«Wir kommen zu Gott, genau so, wie wir sind: fragend, zornig, erschüttert, gleichgültig, trotzig, bittend, suchend.» Die Worte von Claudia Nuber hallen durch die Hofkirche.

«Worte werden dem allem nicht gerecht», sagt die Leiterin von St. Leodegar. Einiges habe man geahnt, anderes gewusst. Dann bittet sie die rund 250 Menschen, die am Sonntag zum Bettag in die kühle Kirche gekommen sind, um einen Moment der Stille.

Den Gottesdienst zum Bettag richten die drei Luzerner Landeskirchen gemeinsam aus. (Bild: kok)

Erst vor zwei Wochen wurde die 49-jährige Theologin im Gottesdienst feierlich in ihr neues Amt gehoben. Sie ist die erste Frau, die der prestigeträchtigen Luzerner Pfarrei St. Leodegar vorsteht. Doch ein ruhiges Kennenlernen ihres neuen Amtes war der gebürtigen Deutschen aus Heidelberg nicht vergönnt.

Die Studie spricht von über 1000 Fällen

Denn vergangene Woche geriet die katholische Kirche der Schweiz ins Wanken. Grund dafür ist eine Schweizer Pilotstudie der Universität Zürich zu sexuellen Übergriffen. Erstmals wurden dafür die Archive der Bistümer und Orden in der ganzen Schweiz untersucht.

Das erschütternde Ergebnis: Die Untersuchung konnte von 1950 bis heute 1002 Missbrauchsfälle identifizieren. Drei Viertel der Übergriffe geschahen an Minderjährigen. Die Studie wurde im Auftrag der römisch-katholischen Kirche durchgeführt. Für die Jahre 2024 bis 2026 ist bereits weitere Forschung zugesagt.

Grosse Betroffenheit in St. Leodegar

«Die Studie ist im Kern nichts Neues», sagt Claudia Nuber nach dem ökumenischen Gottesdienst am Sonntag zu zentralplus. «Vieles haben wir schon geahnt, anderes gewusst.» Was sie besonders beschäftigt: Die Zahl scheint nur die Spitze des Eisbergs zu sein.

Die Leiterin entschuldigt sich im Namen der Kirche. (Bild: kok)
Die Eingangstür der Hofkirche. (Bild: kok)
Ein Grossteil der Missbräuche geschah an Minderjährigen. (Bild: kok)

«Meine Heimat, die Kirche, hat anderen ihre Heimat genommen. Das macht mich betroffen», sagt Nuber. Auch in ihrer Gemeinde nehme sie eine grosse Betroffenheit wahr. Das Thema im Gottesdienst anzusprechen, sei daher unverzichtbar gewesen.

Die Leiterin vertraut dem Bischof

Zu den Skandalen rund um den Basler Bischof Felix Gmür will die Leiterin nicht viel sagen. Auch, weil sie nicht alles medial verfolgt habe. «Wenn er Fehler gemacht hat, muss er dafür geradestehen.» Straftaten müssen konsequent vor einem weltlichen Gericht verfolgt werden, so ihre Haltung. Prinzipiell vertraue sie ihm aber. «Felix Gmür kann gut auf Menschen zugehen. Ich glaube, dass er wirklich versucht, etwas zu ändern.»

Der Basler Bischof Felix Gmür ist auch für Luzern zuständig. (Bild: les)

Erst im August hatte der «Beobachter» publik gemacht, dass Gmür mutmasslich einen Priester geschützt hat, der über mehrere Jahre hinweg eine Minderjährige missbraucht hatte (zentralplus berichtete). Der Bischof räumte später gegenüber der Zeitung ein, gewisse Fehler gemacht zu haben.

Diesen Sonntag dann die nächste Schlagzeile: Der «SonntagsBlick» berichtet, im Jahr 2011 habe sich Felix Gmür geweigert, einen Missbrauchsfall nach Rom zu melden. Er habe sich dabei auf die Verjährung berufen. Die Pressestelle des Bischofs dementiert die Vorwürfe. Gmür habe gemäss den kirchenrechtlichen Vorschriften gehandelt.

Kirchgänger fordern Neubeginn

Die Nachrichtenwelle der vergangenen Woche ist auch an den Kirchgängern nicht spurlos vorbeigegangen. «Ich war schockiert, als ich davon erfahren habe», sagt Fredy Kohler. Der 79-Jährige bereitet nach dem Gottesdienst am Sonntag den Apéro vor.

«Man muss jetzt alles aufarbeiten und einen Neubeginn wagen», sagt Kobler, der selbst 20 Jahre im Luzerner Kirchenparlament sass. Viele seien mit der Kirche nicht mehr einverstanden. Das Zölibat und die Rolle der Frau müssten hinterfragt werden, meint der frühere Drogist.

Anders ging es Beatrice Bütler. «Ich war ehrlich gesagt nicht so erschrocken, als ich von der Studie erfahren habe. Es war einfach eine weitere Erkenntnis», sagt die 55-jährige Luzernerin. Was ihr helfe, sei Glauben und Kirche getrennt zu betrachten.

Die Kirche hat Fehler gemacht

Für Claudia Nuber ist das nicht möglich, denn sie ist Teil der Kirche. «Ich gehöre zu dem System katholische Kirche. Und das System hat Fehler gemacht. Also muss auch ich mich entschuldigen.»

Sie fürchtet, dass auch in Luzerner Gemeinden Missbräuche geschehen seien könnten. «Die Wahrscheinlichkeit ist wahnsinnig hoch, dass es hier im näheren Umkreis Betroffene gibt», ist sich Claudia Nuber sicher.

«Falls klar wird, dass es Missbräuche in Luzern gab und wann sie geschahen, erinnern sich die Menschen, wer damals Seelsorger war.»

Claudia Nuber

Wenn im Jahr 2026 weitere Ergebnisse der Studie erscheinen, könnte das publik werden. Und sich womöglich zeigen, wer dafür verantwortlich war. «Falls klar wird, dass es Missbräuche in Luzern gab und wann sie geschahen, erinnern sich die Menschen, wer damals Seelsorger war.»

Sich trauen, die Dinge anzusprechen

Dass das Zölibat zu Missbräuchen in der Kirche beiträgt, weist die Leiterin allerdings von sich. Sexuelle Übergriffe gäbe es auch ausserhalb des Zölibats. Trotzdem könnten Männer mit pädophilen Neigungen das Priesteramt missbrauchen. «Wir müssen darauf achten, dass sie sich nicht in der Kirche verstecken können.»

Daher sei Prävention zentral, sagt Nuber. Sowohl bei der Anstellung von kirchlichem Personal als auch innerhalb des Teams. «Schon bei der Bewerbung und später einmal pro Jahr thematisieren wir mit den Mitarbeitenden das Thema Nähe und Distanz.»

Wieder glaubwürdig werden

Zudem wünscht sich die Theologin, dass in der Kirche künftig besser hingeschaut wird. «Wir müssen lernen, Dinge, die uns komisch vorkommen, wahrzunehmen und anzusprechen. Ohne sich dabei kleinkariert vorzukommen.»

Denn die jetzige Situation sei auch für den Auftrag der Kirche nicht förderlich, meint sie. Eigentlich solle die Kirche dort hinschauen, wo es Ungerechtigkeiten gibt. «Momentan klingt das recht scheinheilig», gibt die Leiterin der Pfarrei St. Leodegar zu. Um wieder glaubwürdig zu werden, brauche es daher umfassende Aufklärung.

Verwendete Quellen
  • Artikel auf «SRF»
  • Artikel im «Beobachter»
  • Artikel im «Blick»
  • Medienmitteilung des Bistums Basel
  • Besuch in der Hofkirche St. Leodegar
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3 Kommentare
  • Profilfoto von Hanswurst
    Hanswurst, 18.09.2023, 13:42 Uhr

    „Dass das Zölibat zu Missbräuchen in der Kirche beiträgt, weist die Leiterin allerdings von sich.“ Und wieso hat die reformierte Kirche diesbezüglich anscheinend kein derartiges Problem? Weil es von Luther, Zwingli und Calvin angegangen wurde?!

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  • Profilfoto von Jerome Halter
    Jerome Halter, 18.09.2023, 09:49 Uhr

    Stille? Nein, genau das Gegenteil wäre hier angebracht! Ich frage mich warum es hier keine Demos gibt. In anderen Ländern würden wohl die Kirchen brennen. Aber scheinbar stehen noch viele Leute hier hinter der Kirche und finden das halb so schlimm. Widerlich!

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  • Profilfoto von LD
    LD, 18.09.2023, 09:17 Uhr

    Wieder glaubwürdig werden? Das dürfte dauern, wenn es überhaupt je gelingt. Wir reden hier von Kindesmissbrauch, die andern unfassbaren Verbrechen über Jahrhunderte sind kaum thematisiert, wissenschaftlich aufgearbeitet von Karlheinz Deschner. Die Kirche ist und war wichtiger Teil der Machtysteme, die die Menschen beherrschten und ausrichteten. Das Jahrtausend der vatikanischen Unterdrückung geht nun zu Ende, aber ein neues ist mit BigTech bereits installiert.

    Inzwischen geht der Exodus der Gläubigen in schnellen Schritten weiter. Unaufhaltsam.

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