9160 Versuchstiere

Sprunghafter Anstieg: So steht es um Tierversuche in Luzern

Die Maus ist es, an der schweizweit am meisten experimentiert wird. Anders als in Luzern. (Bild: Symbolbild: Adobe Stock)

Lebten 2020 noch 643 Versuchstiere im Kanton Luzern, waren es vergangenes Jahr 9160. Kantonstierarzt Martin Brügger erklärt die Hintergründe, Tierschützerinnen machen sich für ein (Teil-)Verbot stark.

Schweizweit sind Tierversuche im vergangenen Jahr um zwei Prozent gestiegen. So wurde an über einer halben Million Tiere experimentiert, insgesamt waren es rund 585’991. Das teilte das Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen (BLV) kürzlich mit. Es gibt mehr Tierversuche, obwohl das Gesetz vorschreibt, diese möglichst zu vermeiden.

Auffällig ist: Fast in keinem anderen Kanton ist die Anzahl der Versuchstiere 2022 prozentual so stark angestiegen wie im Kanton Luzern. So mussten 2020 im Kanton Luzern 643 Tiere als Versuchstiere hinhalten. 2021 waren es 3246 Tiere. 2022 dann 9160 Versuchstiere. Das ist eine Zunahme zum Vorjahr in Höhe von 182 Prozent. Nur im Kanton Neuenburg ist die Anzahl prozentual noch mehr in die Höhe geschnellt. Der Kanton hat ein sattes Plus von 1191 Prozent verzeichnet.

2010 gab es in Luzern einen Ausreisser, damals stieg die Anzahl über 70’000 Versuchstiere an. Grund war ein grosser Praxisversuch mit fast Zehntausenden Hühnern. In den Jahren davor bewegte sich die Anzahl seit der Jahrtausendwende zwischen knapp 100 und 10’700 Versuchstieren.

Im schweizweiten Vergleich liegt der Kanton Luzern vergangenes Jahr mit seinen 9160 Versuchstieren im mittleren Bereich. Er belegt Platz 9 aller 26 Kantone. Massiv mehr Versuchstiere gab es in Zürich (125’928), Basel-Stadt (107’492) und Waadt (100’173). In Zürich gibt es also rund 14-mal mehr Versuchstiere als in Luzern.

Ein einziger Tierversuch führt zu Anstieg in Luzern

Doch warum der klare Anstieg in Luzern? Antwort darauf gibt der Luzerner Kantonstierarzt Martin Brügger. «Seit dem Jahr 2022 läuft ein Versuch mit Fischen, in welchem eine grössere Anzahl Fische involviert ist. Ein einziger, zusätzlicher Tierversuch ist somit für eine vorübergehende – starke – Erhöhung der Tierzahlen verantwortlich. Dies führt bei grundsätzlich tiefen Zahlen zu einer schlagartigen und ausserordentlichen Erhöhung», erklärt er auf Anfrage.

In diesem Tierversuch sind 6808 Fische involviert, ein grosser Teil davon Fischlarven. Ohne diesen Versuch wäre die Gesamtzahl der Versuchstiere im Kanton Luzern unter dem Wert des Vorjahrs.

2022 liefen elf bewilligte Tierversuche

Jeder einzelne Tierversuch muss in der Schweiz bewilligt werden. In einem entsprechenden Gesuch ans kantonale Veterinäramt müssen Forscher darlegen, weshalb der Tierversuch nötig ist, was der Nutzen des Versuchs ist und in welchem Mass sie die Tiere belasten. Sie müssen auch aufzeigen, wie sie die Versuchstiere halten. Eine kantonale Tierversuchskommission beurteilt dieses Gesuch im Anschluss. Die Bewilligung erteilt dann das kantonale Veterinäramt. Die Betriebe würden regelmässig kontrolliert, so Brügger weiter. Laut dem Kantonstierarzt ist es in den vergangenen Monaten zu keinen Beanstandungen bei den Betrieben bekommen.

«Falls die Notwendigkeit nicht gegeben oder Alternativen vorhanden gewesen wären, dann wären die Tierversuche nicht bewilligt worden.»

Martin Brügger, Luzerner Kantonstierarzt

Ein Tierversuch werde nur dann bewilligt, wenn er nicht vermieden werden könne. «Falls die Notwendigkeit nicht gegeben oder Alternativen vorhanden gewesen wären, dann wären die Tierversuche nicht bewilligt worden.» Seiner persönlichen Meinung nach sind Tierversuche nicht vollständig zu ersetzen, wenn es beispielsweise ums Erforschen neuer Medikamente oder Krankheiten geht.

Im Kanton Luzern haben vier Institute und Organisationen eine Bewilligung. Doch auch diese müssen jeden neuen Tierversuch erst bewilligen lassen. «Per Ende 2022 gab es elf laufende, bewilligte Tierversuche. Davon ist eine Bewilligung 2022 neu erteilt worden», sagt Brügger. Er erklärt weiter, dass Tierversuche länger als ein Jahr laufen könnten. Die konkreten Namen der Institute und Organisationen kann Brügger aus Datenschutzgründen nicht bekannt geben. Es handle sich jedoch ausschliesslich um Forschungsinstitute.

Fisch, Kuh und Schaf: Die Versuchstiere in Luzern

Die Maus ist es, die schweizweit am öftesten in den Händen von Forscherinnen gelangt. So wurden vergangenes Jahr über 350’000 Mäuse als Versuchstiere eingesetzt. Mit knapp 80’000 Tieren folgen Fische und mit rund 65’000 Vögel.

Anders sieht es in Luzern aus. Hier landete in den vergangenen Jahren keine einzige Maus in der Hand eines Forschers. Es wurden hauptsächlich Fische als Versuchstiere eingesetzt. Rund 75 Prozent machten diese im Jahr 2022 aus. 15 Prozent waren verschiedene Rinderarten, 5,5 Prozent Amphibien und Reptilien, 2 Prozent Schafe und Ziegen und 1,5 Prozent Vögel. Das restliche Prozent teilte sich auf Hunde und Schweine auf.

(Bild: Piktochart/ida)

Die verschiedenen Schweregrade

Je nachdem, wie schwer ein Tier belastet wird oder gar leidet, gibt es verschiedene Schweregrade. Davon gibt es vier. Schweregrad 0 bedeutet keine Belastung. Darunter fallen Beobachtungsstudien. Zum Schweregrad 1 gehören beispielsweise Blutentnahmen oder das Beringen, bei denen Tiere kurzfristig leichte Schmerzen oder Stress haben. Schweregrad 3 bedeutet schwere Schmerzen, die mittel- und langfristig bleiben. Darunter fallen Eingriffe, wie etwa das Verpflanzen von aggressiven Tumoren.

Schweizweit kommen immer häufiger Tiere für Schweregrad 3 zum Einsatz. In zehn Jahren stieg die Zahl von 11’699 im Jahr 2012 auf 27’030 im 2022 an.

In Luzern werden an keinen Tieren Kosmetika getestet oder Tumore eingepflanzt. Die Versuchstiere in Luzern wurden im vergangenen Jahr ausnahmslos in den Schweregraden 0 und 1 eingesetzt. Seit 1997 gab es nur zwei Versuchstiere im Schweregrad 3, im Schweregrad 2 war es laut Zahlen des BLV kein einziges.

Gemäss Kantonstierarzt Brügger werden aktuell die meisten Tiere – nämlich 75 Prozent – für die Grundlagenforschung eingesetzt, 10 Prozent für die Krankheitsdiagnostik.

Beispielsweise wurde in einem Luzerner Versuch der Frage nachgegangen, wie ein bestimmtes Tier, das an Kälte gewohnt ist, mit wärmeren Temperaturen umgeht. Im Versuch hat man die Tiere beobachtet, mit einem Ring gekennzeichnet und Blut entnommen. Das fällt in Schweregrad 1. Nach solchen Tierversuchen könnten die meisten Tiere auch weiterleben. Je nachdem würden diese wieder ausgesetzt werden.

Mäuse mit CO2 getötet

Über wesentlich heftigere Tierversuche berichtete der «Tages-Anzeiger» kürzlich. Dieser konnte gestützt auf das Öffentlichkeitsgesetz Anträge des Jahres 2021 aus verschiedenen Kantonen einsehen. Diese zeigten mehrere Missstände auf.

So schreiben die Forscherinnen eines Versuchs in Zürich, bei dem 92 Schafe kardiologisch operiert werden, dass die Tiere «unweigerlich leiden» würden. In einem anderen Versuch, bei toxikologischen Tests in Zürich, könnten die eingesetzten Substanzen bei den Fischen «bis zum Tod führen».

Weiter zeigte die Zeitung auf, dass Forscher die meisten Versuchstiere gruppenweise mit CO₂ töten würden. Dieses reize die Schleimhäute und führe zur Atemnot. Das fühle sich gleich an, wie wenn man unter Wasser sei und Luft holen müsse. «Es ist am Ende ein psychologisches Leiden par excellence. Es ist kein schöner Tod», hielt Hanno Würbel, Leiter der Abteilung Tierschutz an der Universität Bern und Präsident der nationalen Kommission für Tierversuchsethik, gegenüber dem «Tages-Anzeiger» fest. Insbesondere Labormäuse und Ratten würden auf diese Weise ihr Leben lassen müssen. Und bei der Haltung der Versuchstiere gebe es teils «prekäre Platzverhältnisse». Mitunter hätten die Tiere weniger Platz, als das Tierschutzgesetz vorschreibe.

Schwer belastende Tierversuche würden verboten gehören, so die Tierschützerin

Kritisch mit Tierversuchen setzt sich auch Julika Fitzi-Rathgen auseinander. Fitzi ist Tierärztin und Leiterin Tierversuche beim Schweizer Tierschutz (STS). «Dass schweizweit die Zahlen der sehr belastenden Tierversuche steigen, ist sehr bedenklich und auch beängstigend», sagt sie auf Anfrage.

Bedenklich sei zudem, dass viel mehr Versuchstiere gezüchtet und gehalten würden, als tatsächlich nachher zum Einsatz kämen. Das sind sogenannte «Überschusstiere». Fitzi erklärt, dass diese für die Forschung nutzlos seien. Mehrheitlich müssten diese getötet werden. Gemäss Angaben des BLV wurden 2022 rund 1,25 Millionen Versuchstiere in der Schweiz geboren oder importiert. Eingesetzt wurden davon jedoch nur 585’000 Tiere.

«Ein Tier, das leidet, kann kein guter Parameter sein für wissenschaftlich fundierte Ergebnisse.»

Julika Fitzi-Rathgen, Schweizer Tierschutz STS

Für ein komplettes Tierversuchsverbot ist sie nicht. «Tierversuche gänzlich zu verbieten, ginge zu weit. Es gibt sinnvolle und kaum belastende Tierversuche, die das Wohl von Heim- und Nutztieren verbessern wollen.» Wenn es also ums Erforschen von Therapien und Medikamenten für Tiere geht, ist Fitzi der Praktik nicht abgeneigt. «Tierversuche, insbesondere schwer belastende, die heute für die Gesundheitsforschung des Menschen durchgeführt werden, müssten jedoch verboten sein.»

Ihrer Meinung nach kommt man nicht weiter, wenn man Medikamente für Menschen an Tieren testet. «Ein Tier, das leidet, kann kein guter Parameter sein für wissenschaftlich fundierte Ergebnisse. Der Organismus eines Tieres, dem schwere Schmerzen zugefügt werden oder das sich in Todesangst befindet, spielt kurz vor dem Ableben verrückt. Daraus kann man nur unseriöse wissenschaftliche Ergebnisse ableiten.»

Viele Versuche seien faktisch wertlos, weil sie bei gleichen Tests zu unterschiedlichen Resultaten führen würden und deswegen nicht reproduzierbar seien. Es müssten humanbasierte Ansätze her – also etwa mit menschlichem Gewebe.

3R: Tierversuche möglichst reduzieren und verbessern

Auch die Tierschutzorganisation Peta Schweiz fordert, dass man tierversuchsfreie Methoden gründlicher prüfen müsste. Für Forschungsprojekte müssten auch 3R-Experten hinzugezogen werden, sagt Sabrina Engel. Sie ist studierte Biotechnologin und arbeitet als Fachreferentin im Bereich Tierversuche bei Peta Schweiz.

Die 3R-Strategie verfolgt die drei Ansätze: Replacement (ersetzen), Reduction (verringern) und Refinement (verbessern). Ziel ist es also, Tierversuche durch andere Methoden zu ersetzen, sie zu verringern, sodass Forscherinnen weniger Versuchstiere involvieren, und Tierversuche zu verbessern. Das heisst, Schmerz, Leid und Ängste auf ein Minimum zu reduzieren. Forscher in der Schweiz müssen sich an diese Strategie halten.

2018 wurde das 3R-Kompetenzzentrum gegründet, das der Bund unterhält. 2022 hat der Bundesrat zudem ein Forschungsprogramm lanciert, das die Strategie vorwärtstreiben soll.

Gemäss Engel und Fitzi zeigen die Zahlen aus den Jahren 2018 bis 2022 jedoch, dass sich die Bemühungen, die 3R-Strategie zu stärken, bisher nicht auf die Reduktion der Tierversuchszahlen und Schweregrade ausgewirkt haben.

Tier ≠ Mensch

Die Stimmen sind so laut, dass die Forderung eines Verbots von Tierversuchen immer wieder auf die politische Agenda kommt. Zuletzt scheiterte ein solches im Februar 2022. Damals schmetterten die Schweizer mit wuchtigen 79 Prozent die Tierversuchsverbotsinitiative ab.

Derzeit läuft die Unterschriftensammlung für eine eidgenössische Volksinitiative, welche eine «tierversuchsfreie Zukunft» anpeilt. Die Initianten wollen Tierversuche verbieten, mit Ausnahme jener, die «im Interesse des betroffenen Tieres vorgenommen werden müssen».

Peta Schweiz unterstützt diese Forderung. Auch diese Tierschutzorganisation kritisiert die momentane Entwicklung in der Schweiz, die seit Ende der 90er-Jahre nicht positiv sei. Biologische Unterschiede zwischen den Tieren und den Menschen seien schlicht zu gross, sagt Sabrina Engel.

Die Ergebnisse des Tierversuchs könnte man nicht einfach so auf den Menschen übertragen. «Selbst bei Mäusen und Ratten wirken Substanzen oftmals komplett unterschiedlich.» Sie weist wie Fitzi darauf hin, dass einige Tests sogar bei Wiederholungen mit denselben Chemikalien in lediglich 57 Prozent der Fälle das gleiche Ergebnis liefern würden. «Das ist kaum besser als ein Münzwurf.»

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1 Kommentar
  • Profilfoto von Urs Eggler
    Urs Eggler, 30.10.2023, 14:12 Uhr

    Merci für diesen interessanten Artikel.

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