Verbrechen der Sozialen Fürsorge in Zug

Je mehr die Kinder schrien, desto mehr wurde geschlagen

Ein Grossteil der Waisenhäuser in Zug wurde durch die katholische Kirche betrieben. Die Schwestern führten ein strenges Regiment. (Bild: zvg)

Jede Woche kommen an dieser Stelle Opfer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen im Kanton Zug zu Wort. Erschienen sind die Berichte im Zuger Forschungsbericht zur sozialen Fürsorge in der Zeit vor 1981. Heute geht es um Julie Roos-Iten, die im Waisenhaus Gewalt und Ausgrenzung erfuhr.

Julie Iten kam gegen Ende der 1920er-Jahre als uneheliches Kind zur Welt und wurde kurz darauf von der Bürgergemeinde im Waisenhaus Unterägerin untergebracht. Der Kindsvater stahl sich davon, und ihre Mutter konnte sie als Alleinerziehende nicht bei sich behalten, da sie niemanden hatte, der ihr half. Die Erinnerungen an das Waisenhaus Unterägeri «lagen lange Zeit wie Alpträume» auf der Seele von Julie Roos-Iten. «Du bist nichts. Du hast nichts. Du bist ein Kind der Sünde», gab man ihr dort zu verstehen.

«Schläge mit dem Prügelstab oder der Rute, mit ausgestreckten Armen auf einem kantigen Holzscheit knien, Wäscheklammern in der Zunge, Einsperren in eine dunkle Kammer, Essensentzug und vieles mehr»

Julie Roos-Iten

Im Heim waren zwei Ingenbohler Schwestern, eine Köchin sowie eine Haushaltshilfe tätig. Letztere war die «einzige Person», zu der sie immer gehen konnte, wenn sie «etwas plagte». «Ich bekam bei ihr immer Schutz und Hilfe», schreibt sie in ihren Erinnerungen, die sie für ihre Enkelkinder festhielt. Angst war ihr «täglicher Begleiter». «Auf jedes kleinste Vergehen folgten Schläge. Diese waren sehr schmerzhaft. Deshalb auch meine Ängste», erinnert sie sich. So wurde gestraft, wenn ein Kind beim Wassertrinken erwischt wurde oder wenn es ein wenig Essen gestohlen hatte. «Hunger hatten wir ja immer.»

Zu den Strafen zählten «Schläge mit dem Prügelstab oder der Rute, mit ausgestreckten Armen auf einem kantigen Holzscheit knien, Wäscheklammern in der Zunge, Einsperren in eine dunkle Kammer, Essensentzug und vieles mehr». Nach «grösseren Vergehen» folgten «harte Züchtigungen», die sie nie vergessen konnte.«Diese waren grausam» und bestanden beispielsweise darin, dass die Kinder
mit einem Stock auf den entblössten Hintern geschlagen wurden, sodass die Wunden noch tagelang schmerzten.

Je mehr die Kinder schrien, desto mehr wurde geschlagen. «Was ging wohl in den Köpfen dieser sogenannten frommen Frauen vor? Wie konnte man zum barmherzigen Gott beten und zugleich
die Menschen, die er ihnen anvertraute, so misshandeln?», fragte sie sich. «Liebe, Zuneigung und Verständnis kannte man offenbar nicht.» Sie beneidete Kinder, die eine Familie hatten, mit der sie sprechen konnten und von der sie geliebt wurden.

Als Bettnässerin erlebte sie besondere Demütigungen. Man gab ihr zu verstehen, dass sie daran schuld war, was sie schliesslich selber glaubte. Sie wurde aus dem grossen Schlafraum verbannt und musste im Flur oder – im Sommer oder wenn «Besuchern eine heile Welt dargestellt» werden sollte – auf dem Dachboden in einer «Gerümpel-Kammer» auf einer dünnen, kaputten Matratze schlafen, auf die eine harte Kautschukunterlage und ein beissender Kartoffelsack gelegt wurden.

«Wenn es dir in den Haaren sässe, könnte ich es auskämmen. Aber es ist dir im Blut, deine Mutter ist ja eine Hure»

Eine Oberin zu Julie Roos-Iten

Jeden Morgen gab es Schelte, meist auch Schläge. Sie wurde von den anderen Kindern ausgelacht und musste den nassen Jutesack im See auswaschen. Manchmal trocknete er nicht bis am Abend oder blieb gar gefroren. Nur die Haushaltshilfe stand ihr öfters bei. Sie bekam wegen der ausgestandenen Kälte und Nässe eine Nieren-Blasen-Entzündung, eine Mittelohrentzündung und schliesslich eine Gelbsucht. Erst dann wurde sie in ärztliche Behandlung geschickt.

Julie war ein «wildes, zu allem Unfug bereites Mädchen», das am liebsten mit den Knaben spielte. Bei der Oberin war sie «nicht gerade beliebt». Ihr blieb diese als «sehr launische Person» in Erinnerung. Auch die Mitschwestern mussten nach deren Pfeife tanzen. Julie wurde von ihr auch wegen ihrer un-ehelichen Herkunft diffamiert. «Wenn es dir in den Haaren sässe, könnte ich es auskämmen. Aber es ist dir im Blut, deine Mutter ist ja eine Hure», herrschte sie die Oberin einmal an. Die meisten Kinder im Heim waren ausserehelich geboren, erinnert sich Julie Roos-Iten. Sie galten als «Kinder der Sünde» und mussten dafür büssen. Die Kinder von verheirateten Eltern wurden «besser behandelt».

Der Tagesablauf war streng geregelt

Der klösterlich anmutende Tagesablauf war streng geregelt und begann um 6 Uhr früh. Die Kinder mussten schweigend aufstehen, sich waschen und ankleiden. Nach dem Morgengebet folgte das Frühstück. Die Religion nahm breiten Raum ein. Der tägliche Kirchgang war Pflicht und hatte schweigend zu erfolgen. An den einheitlichen Kleidern erkannte man in der Dorfkirche von weitem, dass sie Kinder aus dem Waisenhaus waren, was für «alle immer sehr, sehr demütigend» war. Sie wurden als «Waisenhüsler» gehänselt, was oft zu Streit mit den anderen Kindern führte.

Die Liebfrauenschwestern waren eine von vielen Gruppierungen der katholischen Kirche, die in der Fürsorge tätig waren. Julien Iten war nicht bei diesen Schwestern in Obhut. (Bild: zvg)

Nach der Schule mussten die Waisenhauskinder immer gleich zurück ins Heim, wo sie Hausaufgaben machen mussten und «Ämtli» in Haushalt oder Garten zu verrichten hatten. Das Heim war ärmlich eingerichtet. Spielsachen gab es fast keine. Am Abend folgte das Rosenkranzgebet, und bereits um 7 Uhr war Bettruhe. Eine Nonne sass draussen im Gang und horchte, ob sich alle ans Schweigegebot hielten. Am Sonntag gab es drei Kirchbesuche sowie meist einen Spaziergang zur nächsten Kapelle, bei dem die Kinder Hand in Hand gehen und wieder beten mussten

«Der Brief, den ich unterschreiben musste, war eine Verzichtserklärung auf meine Mutter.»

Julie Roos-Iten

Julie war eine sehr gute Schülerin, erhielt dafür aber nie Lob oder Anerkennung. Weil sie gut auswendig lernen konnte, durfte sie vor Besuchern Gedichte vortragen und in der Kirche die Ministranten anlernen. Beim weihnächtlichen Theaterstück erhielt sie meist eine Hauptrolle, einmal sogar im Dorftheater. «Das waren die kleinen Freuden», die ihr den Aufenthalt im Heim «erträglicher machten».

Im letzten Jahr vor ihrem Austritt aus der Anstalt wurde sie plötzlich ganz anders behandelt. Sie erhielt keine Schläge mehr und durfte mit den anderen Kindern im Zimmer «in einem richtigen Bett» schlafen. Gesundheitlich ging es ihr nun rasch besser – und das Bettnässen hörte von allein auf. Jahre später erst erfuhr sie bei einer Klassenzusammenkunft, dass sich Aussenstehende und der Anstaltsarzt für sie eingesetzt hatten. Bei der Oberin war sie jedoch weiterhin nicht beliebt und wurde von ihr schikaniert, «wo sie nur konnte».

Die Vormundschaftsbehörde verhinderte, dass sich Mutter und Tochter treffen

Trotz ihrer hervorragenden Noten durfte sie die Sekundarschule nicht besuchen. Sie wäre sehr gerne Krankenpflegerin geworden, nur fragte niemand danach. Nach der obligatorischen Schulzeit musste sie für einige Monate einer Familie im Haushalt helfen, bevor sie aus der Anstalt entlassen und in einer Bauernfamilie platziert wurde. Von ihrer Entlassung erfuhr sie durch den Pfarrer, der sich von ihr verabschiedete und erstaunt war, dass sie selbst nichts von ihrem Heimaustritt wusste. Die Oberin brachte sie mit dem Zug fort, ohne ein Wort darüber zu verlieren, wohin es ging. Es war ihr auch egal, «nur fort, fort von hier».

«Im Heim hatte ich nur Beten, Putzen und Handarbeit gelernt.»

Julie Roos-Iten

Zuerst musste sie beim «Sozialvorsteher» ein zusammengefaltetes Formular unterschreiben, ohne zu wissen, was darin stand. Jahre später zeigte ihr ihre Mutter das Schreiben: «Der Brief, den ich unterschreiben musste, war eine Verzichtserklärung auf meine Mutter.» Diese hätte sie gerne zu sich genommen, damit sie einen Beruf hätte erlernen können. Die zuständige Vormundschaftsbehörde ihrer Bürgergemeinde vereitelte jedoch dieses Vorhaben.

Einer der vielen Gründe war, dass ihre Mutter kein Kreuz in der Wohnung hatte, wie die Behörden bei einer «Wohnungsbegutachtung» registrierten. Ihr waren schon vorher Besuche im Heim untersagt worden, und es wurde seitens der Heimleitung alles unternommen, um eine Kontaktaufnahme mit ihrem Kind zu verhindern. Verheimlicht wurde ihr dann auch, wohin Julie nach dem Heimaustritt kam, sodass diese ihre Mutter erst einige Jahre später zum ersten Mal in ihrem Leben sah. Ihr begegnete eine gut aussehende jugendliche Frau, «für meinen Geschmack – eine Dame».

Julie lernt Liebe kennen

In der Bauernfamilie, in die Julie Iten nach dem Heimaustritt kam, realisierte sie rasch, dass man es gut mit ihr meinte. Hier wurde «die Liebe gelebt». Als sie ankam, gab es gleich ein Mittagessen: Suppe, Salzkartoffeln und Schweinsbraten mit Bohnen, dazu Most. Sie hatte Mühe, das Fleisch zu zerschneiden, hatte sie im Waisenhaus doch nie ein solches Mahl gegessen. Auch die verwendeten
Teller waren für sie neu, sie kannte nur solche aus Blech. Sie half bei der Bauernfamilie im Haushalt und musste sich zunächst das Kochen aneignen.

«Ich war froh, nun einen Menschen zu kennen, der auch allein war.»

Julie Roos-Iten

Im Heim hatte sie «nur Beten, Putzen und Handarbeit» gelernt. Vieles war ihr unbekannt, Spiegeleier ebenso wie der Schwangerschaftsbauch der jungen Bäuerin, den sie mangels Aufklärung nicht einordnen konnte. Nach etwa drei Wochen getraute sie sich zu fragen, wo sie hier eigentlich sei, und erntete Erstaunen über ihr Unwissen. Die Bauernfamilie wurde zu ihrem Daheim.

Sie blieb viele Jahre und lernte einige junge Bauernsöhne kennen, deren Eltern jedoch von ihr als einfacher Magd ohne Familie nichts wissen wollten. Schliesslich heiratete sie den Melker, der als neue Arbeitskraft auf den Hof kam, und gründete mit ihm eine Familie. Er war ein Verdingbub, der es wie sie nicht einfach gehabt hatte. Sie war froh, nun «einen Menschen zu kennen, der auch allein war».

Ab jetzt jede Woche eine weitere Geschichte

zentralplus hat sich entschieden, die Geschichten der mutigen Betroffenen zu veröffentlichen. Wir wollen dafür sensibilisieren, was im vergangenen Jahrhundert im Namen der Fürsorge geschah und welche Verbrechen begangen wurden. In diesem Winter veröffentlichen wir daher jede Woche ein weiteres Kapitel aus dem Zuger Forschungsbericht «Fürsorgen, vorsorgen, versorgen». Wir danken der Beratungsstelle für Landesgeschichte und der Regierung des Kantons Zug für die Erstellung des Berichts.

Verwendete Quellen
  • Forschungsbericht «Fürsorgen, vorsorgen, versorgen» des Kantons Zug
  • Artikel zur Pressekonferenz der Veröffentlichung des Berichts auf zentralplus
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