Blick in düstere Vergangenheit von Zug

So schlimm waren die Missstände in der sozialen Fürsorge

Die Liebfrauenschwestern waren eine von vielen Gruppierungen der katholischen Kirche, die in der Fürsorge tätig waren.

Der Kanton Zug veröffentlichte kürzlich einen Forschungsbericht zur sozialen Fürsorge in der Zeit vor 1981. In ihm kommen Opfer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen zu Wort. Wie Rita Z., die als junges Mädchen in die Hände sadistischer Klosterschwestern geriet.

In den 1960er-Jahren kam die Primarschülerin Rita Z. für einige Monate ins Kindersanatorium Theresiaheim nach Unterägeri. Warum Rita zur Kur geschickt wurde, weiss sie bis heute nicht. Sie litt einige Jahre zuvor an einer Hirnhautentzündung, aber ansonsten war sie kein kränkliches Kind.

Auf Veranlassung ihres damaligen Primarlehrers schickten ihre Eltern sie zur schulpsychologischen Abklärung. Kurz danach – ohne dass sie die Diagnose kannte – wurde sie ins Theresiaheim eingewiesen. «Ich wurde durch einen Lehrer dorthin verbannt», ist sich Rita Z. sicher, und er hatte «Eltern erwischt, die das mitgemacht haben».

Das lebhafte und aufgeweckte Mädchen, das aus einer intakten Familie stammte, traf dort auf eine Umgebung, die ihm völlig fremd war. Der Alltag der Kinder im Haus, das von den Chamer Heiligkreuzschwestern geleitet wurde, war stark religiös geprägt, klar strukturiert und eintönig. Noch vor dem Frühstück erfolgte der tägliche Messebesuch. «Dann gab es einen Ämtliplan, ein paar mussten in die Küche, das Frühstücksgeschirr abwaschen oder rüsten.»

«Man wurde von den anderen Kindern gehänselt und die Klosterfrau stand daneben und genoss es.»

Rita Z.

Während ihres halbjährigen Aufenthalts im Theresiaheim wurde Rita Z. nie von einem Arzt untersucht. Für die Umsetzung des Kurprogramms waren die Klosterfrauen zuständig. Zur Behandlung der Kinder gehörten tägliche Liegekuren an der frischen Luft auf der Terrasse des Heims. Dazu wickelten die Klosterfrauen sie in Wolldecken ein und setzten ihnen Augenbinden auf. Die Kinder mussten nach dem Mittagessen während etwa zwei Stunden still liegen bleiben, zudem war es ihnen untersagt, miteinander zu reden.

Die Nonnen registrierten jede kleine Bewegung und griffen bei Zuwiderhandeln umgehend ein. Rita Z. erinnert sich: «Ich habe einmal ein bisschen meine Hand bewegt, und dann ist die Wolldecke herausgefallen bei der Liege.» Die Klosterfrau bestrafte sie sofort, indem sie ihr die Augenbinde so stark zuzog, dass diese einen Abdruck auf dem ganzen Gesicht hinterliess. Dieser Abdruck war ein Zeichen, «dass man nicht gehorcht hatte». Deswegen wurde man von den anderen Kindern «gehänselt» – und die Klosterfrau stand daneben und genoss es sichtlich, so erinnert sich Rita Z. an dieses prägende Erlebnis.

Zum Kurprogramm gehörte neben der Liegekur auch ein täglicher Morgenspaziergang, der immer der gleichen Wegstrecke folgte. Dabei mussten die Kinder in Zweierreihen nebeneinander hergehen. Sie durften weder rennen noch miteinander sprechen. Nachmittags besuchten die Kinder für wenige Stunden den Schulunterricht im Heim. Rita Z. bemängelt im Nachhinein dessen Niveau. Es gab nur eine einzige Gesamtklasse, «ein bisschen Rechnen und Deutsch, es ist sehr einfach gewesen».

Deswegen musste sie nach dem Aufenthalt das Schuljahr wiederholen. «Aber», räumt sie ein, «es war ein bisschen eine Ablenkung und etwas anderes.» Bei den Hausarbeiten und in der Küche durften sich die Kinder nicht miteinander unterhalten. Rita Z. vergleicht das Kinderkurheim mit einem Kloster, in dem während vieler Tätigkeiten ein strenges Schweigegebot herrschte sowie rigorose Disziplin und unbedingter Gehorsam verlangt wurde. Zeit zum Spielen gab es keine.

«Die Klosterfrau stand neben mir und drückte mein Gesicht gegen den Suppenteller.»

Rita Z.

Umso erfreuter war sie, als sie bei einer Klosterfrau im Verborgenen Bücher anschauen durfte. «Sie war noch eine Nette», urteilt sie. Mit ihr teilte Rita Z. zeitweise das Zimmer, nachdem sie beim Tuscheln mit ihrer Zimmernachbarin erwischt worden war. Ansonsten aber blieben die Klosterfrauen nicht in guter Erinnerung: Man «hatte immer einen Drachen im Rücken – eine Klosterfrau». Ihr sind insbesondere drei sehr dominante Ordensschwestern in Erinnerung geblieben. Wer beim morgendlichen Messebesuch in Ohnmacht fiel, wurde ebenso bestraft wie Kinder, die sich «dumm anstellten beim Rüsten».

Das einschneidendste Erlebnis hatte Rita Z. bei einem Mittagessen. Sie mochte die Suppe nicht und wollte sie nicht essen: «Die Klosterfrau stand neben mir und drückte mein Gesicht gegen den Suppenteller.» Daraufhin erbrach sie sich auf den Boden. Während sie diesen reinigen musste, drückte die Klosterfrau sie «immer mit dem Fuss in das Erbrochene hinunter», bis sie alles aufgeputzt hatte.

Rita kehrte «verschlossen und misstrauisch» nach Hause zurück

Sie durfte sich niemandem anvertrauen, nicht einmal den Eltern. Die Ordensschwestern brachten die Kinder mit Einschüchterungen und Drohungen zum Schweigen. Vor den wöchentlichen Anrufen von zu Hause, bei denen immer eine Nonne mithörte, und den sonntäglichen Besuchen der Eltern nahm die Klosterfrau Rita Z. jeweils zur Seite und warnte sie: «Eine Reklamation, eine Träne, dann ist das dein letzter Besuch gewesen.»

Die Ereignisse im Theresiaheim führten dazu, dass das ehemals lebhafte Mädchen «verschlossen und misstrauisch» nach Hause zurückkehrte. In der Schule versuchte Rita Z., möglichst nicht aufzufallen; sie hatte Angst, «dass wieder etwas passieren könnte». Nur Schritt für Schritt erholte sie sich und gewann ihr Selbstvertrauen zurück. Als sie einige Jahre später erneut bei dem Lehrer, der sie «in dieses Kinderheim gejagt hatte», die Schule besuchen musste, versuchten ihre Eltern, sich dagegen zu wehren.

Aber Rita wollte sich nicht einschüchtern lassen. «Zur Verarbeitung» des Geschehenen wollte sie es «durchziehen», erinnert sich Rita Z., und schloss das Schuljahr erfolgreich ab. Ihre Erfahrungen mit den Klosterfrauen verfolgten Rita Z. lange Zeit. Noch als erwachsene Frau ging sie ihnen aus dem Weg. Eine Stelle schlug sie aus, weil dort eine Klosterfrau als Oberin tätig war: «Ich dachte, so eine muss mich nicht noch einmal fertigmachen.»

Ab jetzt jede Woche eine weitere Geschichte

zentralplus hat sich entschieden, die Geschichten der mutigen Betroffenen zu veröffentlichen. Wir wollen dafür sensibilisieren, was im vergangenen Jahrhundert im Namen der Fürsorge geschah und welche Verbrechen begangen wurden. In diesem Winter veröffentlichen wir daher jede Woche ein weiteres Kapitel aus dem Zuger Forschungsbericht «Fürsorgen, vorsorgen, versorgen». Wir danken der Beratungsstelle für Landesgeschichte und der Regierung des Kantons Zug für die Erstellung des Berichts.

Verwendete Quellen
  • Forschungsbericht «Fürsorgen, vorsorgen, versorgen» des Kantons Zug
  • Artikel zur Pressekonferenz der Veröffentlichung des Berichts auf zentralplus
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7 Kommentare
  • Profilfoto von Peter Hartmann
    Peter Hartmann, 02.01.2024, 18:41 Uhr

    Habe im Kinderheim in Unterägeri Ähnliches erlebt. Wusste nicht, dass das aufgearbeitet wurde. Hätte Einiges dazu zu sagen. Es war grauenhaft, wurde zweimal auf der Flucht davon gefasst und so wurde es zur Qual.

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  • Profilfoto von Hannes Estermann
    Hannes Estermann, 27.11.2022, 23:37 Uhr

    Das solch negative Ereignisse vorgekommen waren,glaube ich sofort.Anderseits sollte man stets in Betracht ziehen,es war in der ganzen damaligen Gesellschaft ein allgemein ein viel härterer Umgangston.
    Pers.Beispiel- mein drei Jahre älterer Bruder und ich mussten infolge schwerster Erkrankung der Mutter mit einander für ein Jahr in ein ,von Nonnen geführtes luz.Kinderheim.
    In seiner Erinnerung,eine einzige Hölle-für mich das pure Gegenteil,eine echt gute Zeit.
    Interessant dabei,ich soll der viel sensiblere Junge gewesen sein-erst Jahre später als Seemann wurde ich,Situation bedingt ein (nach aussen) mehr abgehärteter Typ. Wie soll man zwei solch unterschiedliche Empfindungen,gleichen Orts und Zeit richtig einordnen?
    Vielleicht hat jemand eine treffend Antwort…danke zum voraus !

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    • Profilfoto von Konstantin Kreibich
      Konstantin Kreibich, 29.11.2022, 10:00 Uhr

      Guten Tag Herr Estermann,
      danke für die Schilderung ihrer persönlichen Erfahrungen. Ich empfehle Ihnen, einen Blick in den Forschungsbericht des Kantons Zug zu werfen (E-book, verlinkt in den Quellen). In diesem arbeiten die Forscherinnen sehr fein heraus, dass häufig in denselben Einrichtungen sehr negative und positive Erfahrungen gemacht wurden. Auch das Schicksal der Menschen, die dort arbeiteten, wird beleuchtet. Liebe Grüsse, Konstantin

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    • Profilfoto von Hans Muster
      Hans Muster, 29.11.2022, 12:36 Uhr

      Es war nicht «in der ganzen damaligen Gesellschaft» so. Die Leserkommentare von Herrn Bitterli betreffen das untere Ferienheim der Luzerner Stadtschulen im Eigental, so verstehe ich es jedenfalls. Im oberen Ferienheim der Luzerner Stadtschulen im Eigental herrschten humane Zustände. Das heißt, es wäre auch in der «damaligen Gesellschaft» (und auch im unteren Ferienheim) ein menschlicher Umgangston möglich gewesen.

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  • Profilfoto von Lagerköchin
    Lagerköchin, 27.11.2022, 06:52 Uhr

    Im städtischen Ferienlager Eigenthal etwa um 1967 haben wir zusammen mit zwei Hilfsköchinnen die Essen zubereitet. Der Umgang mit den Kindern war freundlich. Jedoch fiel uns auf, dass für die Lagerleitung immer ein besseres Essen gekocht werden musste als für die Kinder. Das haben wir als junge Frauen nicht verstanden. Einige der Lehrpersonen kamen uns etwas überheblich vor.

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    • Profilfoto von Peter Bitterli
      Peter Bitterli, 27.11.2022, 10:00 Uhr

      Beim Sohn des Lagerleiters tauchten ja dann auch immer die Süssigkeiten wieder auf, die abends beim Päckliverteilen den Kindern in einem erniedrigenden Ritual abgenommen und angeblich „in den Rümlig geschmissen“ wurden. Die Rede ist vom „unteren Lager“.

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  • Profilfoto von Peter Bitterli
    Peter Bitterli, 26.11.2022, 19:27 Uhr

    Städtisches Ferienlager Eigenthal, ca. 1965:
    Ein Schützling, der keinen Käse zu den Gschwellten essen will, wird vom Lagerleiter zuerst abgewatscht und dann zum Aufessen gezwungen, während die ganze Schülerschaft warten und zusehen muss. Später im Schlafsaal muss er sich nach dem Lichterlöschen erbrechen, was auf dem Weg zur Toilette geschieht. Der Lagerleiter sieht die Lösung des Problems darin, dass alle noch einmal aufstehen müssen und zusehen, wie der Delinquent unter Beschimpfungen seinen halbverdauten Käse wegputzt. Den ganzen nächsten Tag hat er Putzdienst. Städtisches Ferienlager Eigenthal, ca. 1965. der Name des Lehrers ist dem Schreiber bekannt. Er war Primarlehrer in Luzern.

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