Verdingkinder sind nicht alles

Soziale Fürsorge: Zug untersucht mehr als nur die Opfer

Patienten im ummauerten Hof des «Franziskusheims» um 1909. (Bild: zvg)

Der Kanton Zug veröffentlicht seinen Forschungsbericht zu sozialer Fürsorge in der Zeit vor 1981. Sein Vorgehen ist dabei aussergewöhnlich: während schweizweit über die Opfer fürsorglicher Zwangsmassnahmen gesprochen wird, will Zug alle Beteiligten zu Wort kommen lassen.

Am Donnerstag hat der Zuger Regierungsrat den Forschungsbericht «Fürsorgen, vorsorgen, versorgen» der Beratungsstelle für Landesgeschichte (BLG) aus Zürich veröffentlicht. In diesem beleuchtet das sechsköpfige Historikerinnenteam das Fürsorgewesen im Kanton Zug zwischen 1850 und 1981.

Der Bericht erscheint im Kontext der schweizweiten Aufarbeitung fürsorglicher Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen vor 1981. Im Jahr 2013 entschuldigte sich der Bundesrat bei den Betroffenen, liess einen Hilfsfonds einrichten und leistete finanzielle Wiedergutmachung. In der Schweiz haben 12’000 bis 15’000 Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen Anspruch auf einen Solidaritätsbeitrag des Bundes (zentralplus berichtete).

Betroffen von den Übergriffen in Heilanstalten, Psychiatrien und Heimen waren Menschen, die verwaist, krank, arbeitslos, alt, fremd, physisch, psychisch oder kognitiv beeinträchtigt waren. Oder aber in ihrem Verhalten schlicht von der allgemein akzeptierten Norm abwichen. Jetzt sei es die richtige Zeit für einen solchen Bericht, sagt der Zuger Regierungsrat Andreas Hostettler an der Medienorientierung. Die Zeitzeugen werden älter, es gebe etliche Wissenslücken und die Bevölkerung habe Fragen. So etwa: «Was ist mit den Verdingkindern passiert?»

Zug geht einen ungewöhnlichen Weg

«Es gab sehr viel empathische, fürsorgliche Fachleute und Laien», so Hostettler. Sie seien häufig von der schieren Menge an Personen schlicht überfordert gewesen. Die Regierung habe sich mit dem Forschungsteam daher gegen eine deutliche Trennung von Tätern und Opfern entschieden.

«Wir wollen nicht schwarz-weiss malen», ergänzt er. Es habe nicht nur Menschen mit traumatischen Erfahrungen gegeben, sondern auch solche, die sich in den Einrichtungen wohlfühlten. Auch die prekäre Arbeitssituation der Angestellten sei im Laufe des Projekts immer deutlicher geworden – ein Punkt, der vorher nur wenig Beachtung erhielt.

Die beiden heime «Heimeli» und «Adelheid» in Unterägeri um 1940
Die beiden von Adelheid Page gestifteten Heime «Heimeli» und «Adelheid» in Unterägeri um 1940. (zvg) (Bild: zvg)

Es habe zahlreiche Vorbehalte vonseiten betroffener Einrichtungen, Behörden, Klöster und Kirchen gegeben. Einen Bericht mit klarem Fokus auf die Gräuel und Misshandlungen im Zuge fürsorglicher Zwangsmassnahmen wurde auch daher abgelehnt. «Daraus könnte ein Bashing von Institutionen entstehen, die sich damals um die Menschen gekümmert haben», so Hostettler. Eine Begleitgruppe wurde eingesetzt, um die Sorgen der betroffenen Institutionen zu mildern.

Zeitzeugen erzählen von ihren Erfahrungen

«Man weiss bereits sehr gut, wie es den Menschen in den Einrichtungen ging», erklärt Thomas Meier vom BLG. Kern des Berichts sei es, nicht nur die Zwangsmassnahmen und administrative Versorgungen zu beleuchten, wie die anderen Kantone. Das Forschungsteam habe sich für ein differenziertes Bild interessiert.

«Es geht in diesem Bericht zentral um Menschen, nicht um die Einrichtungen», so Meier. Deswegen habe man den Zeitzeugen viel Raum geben wollen. Das Buch beginnt mit 18 individuellen Schicksalen. Von Betroffenen und von Beteiligten. Der Bericht orientiere sich an den drei Prinzipien «Fürsorgen, Vorsorgen, Versorgen» – also: Sozialhilfe, Prävention und Zwang.

Pflegerinnenschule im Liebfrauenhof um 1930
Pflegerinnenschule im «Liebfrauenhof» um 1930. (zvg) (Bild: zvg)

Eine grosse Schwierigkeit sei es gewesen, Zeitzeuginnen zu finden. Aufgrund des Datenschutzes konnten die Historiker nicht einfach die Namen aus den 2800 geprüften Akten entnehmen. Die Betroffenen mussten selbst auf das Forschungsteam zukommen. Deswegen sei zu Anfang des Projekts eine Anzeige im Zuger Amtsblatt geschaltet worden.

Die katholische Kirche war in Zug immens wichtig

Der klassische Anstaltstyp in Zug seien die Erholungsheime und Sanatorien im Ägerital gewesen. «Fürsorge war ein Geschäftsmodell», so Hostettler. Private Anbieter betrieben Heilanstalten und Psychiatrien. Dies war möglich durch die passive Rolle des Kantons. «Der Staat hat nie die Rolle im Sozialwesen übernommen wie in anderen Kantonen», weiss Meier zu berichten.

Ebenfalls ungewöhnlich sei das «Zuger Asyl». Dies waren multifunktionale Häuser, in denen Arme, Alte und Kranke gemeinsam untergebracht wurden. Im Steinhauser Armenhaus lebten bis Mitte des 20. Jahrhunderts nebst Erwachsenen auch Kinder. Die Asyle in Baar und Cham dienten zugleich als Landspitäler sowie als Altersheime und Armenhäuser.

Die Rolle der katholischen Kirche in der sozialen Fürsorge war in Zug immens. «Fast bis zur Jahrtausendwende hat geistiges Personal den Ton angegeben», sagt Meier. Die katholische Kirche habe Personal gestellt und für die Ausbildung gesorgt. «Konfession hat das Klima stark geprägt», hätten Zeitzeugen berichtet. Es sei ein äusserst «eingeengtes Milieu» gewesen, in dem die Betroffenen lebten.

Menzinger Familienhelferin erhält 1970 einen Käfer von der Firma Lindt & Sprüngli
Die Menzinger Familienhelferin erhält 1970 einen Käfer geschenkt, um ihre Arbeit besser verrichten zu können. (zvg) (Bild: zvg)

Ein fast vergessener, aber sehr wichtiger Aspekt der sozialen Fürsorge sei ausserdem die Familienpflege gewesen. «Das sind die ungenannten emsigen Frauen, die Arbeit verrichtet haben, die man nicht zur Kenntnis genommen hat», betont Meier. Am Ende sei Fürsorge aber auch immer mit «Moralisierung, Disziplinierung und Stigmatisierung» verbunden gewesen.

Zwangsmassnahmen und Freiheitsentzug

Trotzdem gab es auch in Zug fürsorgliche Zwangsmassnahmen und Verdingkinder. Im Unterschied zu den benachbarten Kantonen hätte es in Zug aber nie eine Anstalt für «schwererziehbare» Jugendliche oder für administrativ versorgte Erwachsene gegeben, so eine Mitarbeiterin des Forschungsteams, die anonym bleiben möchte. Diese «Problemfälle» platzierten die Gemeinden und der Kanton in ausserkantonalen Anstalten oder im kantonalen Gefängnis.

Administrativer Freiheitsentzug war damals demokratisch legitimiert, erklärt sie weiter. Erst waren es die kommunalen Armenbehörden, die administrative Freiheitsentzüge anordneten, später auch die kommunalen Vormundschaftsbehörden. «Die Gesellschaft wollte das», ergänzt sie.  

Patienten im ummauerten Hof des «Franziskusheims» um 1909. Adolf Iten landete auch hier.
Patienten im ummauerten Hof des «Franziskusheims» um 1909. (zvg) (Bild: zvg)

Zahlen zu dem Thema seien schwierig zu finden. «Es gibt in der Schweiz viele banale Statistiken, beispielsweise darüber, wo es wie viele Kühe gibt, aber kaum Statistiken für vormundschaftliche administrative Freiheitsentzüge. Das zeigt, wie marginal das Thema früher behandelt wurde.» Sie sei froh, dass der Bericht zur Aufklärung beitrage.

Buch soll ein Symbol der Anteilnahme sein

Der Zuger Ansatz, der nicht zwischen Täter und Opfer unterscheidet, könnte noch für Kontroversen sorgen. Verschiedene Experten äusserten sich gegenüber zentralplus kritisch zum Vorgehen. Wenn nicht das erlittene Leid in den Mittelpunkt gestellt wird, fühlen sich Betroffene möglicherweise nicht gesehen. Direkt zitieren lassen, will sich niemand.

Der Regierungsrat betont, das Buch sei ein «Symbol der Anteilnahme, Zeichen der Solidarität und Anerkennung». Es sei ihr Beitrag zu den Bemühungen des Bundes, dieses Kapitel aufzuarbeiten. Im Februar 2023 folge dann eine Ausstellung zu dem Thema. Man sei mit dem Buch den Menschen gerecht geworden, findet Hostettler. «Für mich ist damit eine Aufgabe abgehakt.»

Offiziell entschuldigen – wie der Bund - will sich der Kanton aber nicht. Bisher hat das gemäss der «Zuger Zeitung» nur eine einzige Zuger Gemeinde getan.

Verwendete Quellen
  • Artikel in «Zuger Zeitung»
  • Medienorientierung der Direktion des Inneren Kanton Zug
  • Telefonat
  • Bericht: «Fürsorgen, Vorsorgen, Versorgen»
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3 Kommentare
  • Profilfoto von Äeb
    Äeb, 19.11.2022, 10:49 Uhr

    Einen „Beitrag“ „von heile Welt“ dazu leistet das Foto mit dem VW-Käfer als neuste „Errungenschaft“ und glücklich lächelnden Menschen! Eine Ablenkung! Im Film von SRF Aktuell wird stolz von den Fr.25‘000.- für Betroffene erzählt und damit ein Schlusspunkt gesetzt . (Welch ein Hohn!)
    Mit dieser schon fast „militärischen Abschlussmeldung“ „Für mich ist damit eine Aufgabe abgehakt“., vom Historiker im Zeitungsartikel, kann sich der Kt. Zug mitnichten ohne offizielle Entschuldigung, auch im Buch, von diesem traurigen Kapitel lösen!

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  • Profilfoto von Francine
    Francine, 18.11.2022, 12:46 Uhr

    Kommt doch allzu nüchtern daher, wie sich RR Hostettler ausdrückt… eine Aufgabe abgehakt…, er möchte alles so schnell wie möglich hinter sich bringen. Alles klingt wie eine weitere Klatsche ins Gesicht von Betroffenen. Warum in aller Welt tun sich heutige Politiker so schwer und bringen keine Entschuldigung über die Lippen? Es ist nicht seine Person, die sich entschuldigen muss. Es geht um Anerkennung von Unrecht aus heutiger Sicht in kantonaler Verantwortung. Deshalb ist eine Entschuldigung wichtig und der notwendige Balsam für Betroffene. Die lapidare Entschädigung alleine reicht eben nicht für ein geschundenes Leben. Schade für die verpasste Chance: RR Hostettler fällt in seiner Rhetorik immer wieder mit wenig Empathie auf.

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    • Profilfoto von Konstantin Kreibich
      Konstantin Kreibich, 18.11.2022, 16:57 Uhr

      Danke für ihren kritischen Kommentar. Ich lade sie ein, ein wenig in dem Bericht zu stöbern. Es gibt wirklich spannende Stellen. Rhetorisch ist in der Vermittlung auch meiner Meinung nach nicht alles gelungen.

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