Er führt seit bald zwei Jahrzehnten eine der beliebtesten Bars in der Stadt Luzern. zentralplus hat mit Tim Michel von der Bar Capitol über Schiffe, Filme und Faustschläge gesprochen.
Es war eine simple Frage, welche das Leben von Tim Michel an einem Abend im Jahr 2005 in neue Bahnen lenkte. Ob er das Capitol Pub übernehmen möchte, fragte ihn der damalige Besitzer Sigi Brenke, als Michel mit seiner Frau auf einen Drink in das Lokal am Bundesplatz vorbeikam. Michel hatte zu diesem Zeitpunkt zwar schon einige Erfahrung hinter verschiedenen Bartresen gesammelt – darunter im Penthouse, auf einem Kreuzfahrtschiff und in der Schüür, wo er und Sigi Brenke sich gelegentlich trafen –, aber ein ganz eigenes Lokal? Das war ein grosser Schritt für den damals knapp 30-Jährigen. Einer, der ihn reizte. Und einer, der sein Leben bis heute prägt.
Als zentralplus den heute 48-Jährigen an einem frühen Montagnachmittag zum Gespräch trifft, ist die Bar so ruhig wie sonst kaum. Logisch, geöffnet wird erst in rund zwei Stunden. Die meisten goldfarbenen Wandleuchten sind aus, die voll ausgestattete Wandbar ist unbeleuchtet, und die grün gemusterten Tapeten liegen in den Schatten.
Tim Michel trägt einen edlen Anzug mit dunkelgrünem Schottenmuster – distinguierte Kleidung sei während seiner Zeit in der Bar Capitol zu einem Markenzeichen geworden, wie er sagt. Selbst in hektischen Stunden trifft man den Mann mit dem graumelierten Bart und der ruhigen Stimme stets mit gebügeltem Hemd und Hosenträgern hinter dem Tresen.
Startschuss als Koch
Michel erzählt, dass er in seinen Jugendjahren zuerst einen anderen Weg eingeschlagen hatte. Nachdem er als Jugendlicher gelegentlich beim elterlichen Kiosk am Kreuzstutz ausgeholfen hatte, machte er Mitte der 90er-Jahre im Restaurant Old Swiss House die Lehre zum Koch. Auf dem Beruf blieb er jedoch nur ein Jahr. «Mir fehlte der direkte Kontakt zu den Gästen», sagt er. Kontakt, den er beim Kiosk kennen- und schätzen gelernt hatte.
Eine berufliche Alternative hatte er bereits im Hinterkopf. «Barkeeper waren schon während meiner Lehrzeit meine Helden.» Also visierte Tim Michel das Nachtleben an, die Welt der Cocktails, Bartresen und Zapfhähne. Eine erste Anstellung fand er im «Penthouse» oberhalb des Hotel Astoria. Das Wissen über Cocktailrezepte und Barbetrieb eignete er sich mittels Kursen, Weiterbildungen und Stapeln von Fachliteratur an. Und natürlich durch die Arbeit selbst.
Er bleibt der Szene treu. Das Nachtleben sei sein Ding, sagt er. Mit allen Vor- und Nachteilen. Viel Freizeit hat der Barchef nebst Betrieb und Familie nämlich nicht. Falls doch mal ein paar freie Stunden übrig bleiben, verbringt er sie gerne mit seinem Segelschiff auf dem See. In einem regulären Bürojob mit «nine to five»-Arbeitszeiten sieht er sich trotzdem nicht. «Das kann ich mir nicht vorstellen. Die Nacht ist mein Tag.» Und nach all den Jahren habe sich auch sein Umfeld an diesen Rhythmus gewöhnt.
Bar Capitol als Quell der Geschichten
Seit Tim Michel das einstige Capitol Pub übernommen hat, sind 18 Jahre vergangen. Jahre, in denen sich eine ganze Bandbreite von Begegnungen, Erlebnissen und Anekdoten angesammelt hat. Etwa jener Moment im September 2012, als ein alkoholisierter Junglenker in den frühen Morgenstunden auf der Flucht vor der Polizei in die Aussenbestuhlung der Bar krachte. «Zum Glück hatten wir zu diesem Zeitpunkt geschlossen», erinnert sich Barkeeperin Nadja Reisinger, die zum Unfallzeitpunkt noch im Lokal war.
Oder eine Begegnung, die Tim Michel bis heute anzusehen ist. Ein aggressiver Gast habe ihm via Faustschlag eine unfreiwillige Schönheits-OP beschert, witzelt Michel und zeigt auf eine Narbe über dem linken Auge. «Die positiven Erinnerungen überwiegen aber deutlich», fügt er hinzu. Hochzeitsfeste oder erste Begegnungen zwischen Leuten, die heute noch ein Paar sind. Es sind Momente wie diese, die Michel wohl vermisst hätte, wäre er auf dem Kochberuf geblieben.
Der Rauch ist verzogen
Nicht vermissen tut er hingegen den Rauch. Waberte früher der dunstige Qualm unzähliger Zigaretten, Pfeifen und Zigarren durch die Luft, ereignete sich am 1. Juni 2023 eine Zäsur in der Geschichte der Bar Capitol. Sie wurde rauchfrei. Für die Mitarbeiter sei das eine grosse Erleichterung gewesen, erzählt Tim Michel. Obwohl er selbst Raucher sei, sei es alles andere als angenehm gewesen, zehn Stunden pro Tag in einer Rauchwolke stehen zu müssen. Für Unmut bei den Gästen habe die Umstellung kaum gesorgt. Zwar habe er sicher den einen oder anderen Raucher als Stammgast verloren, dafür jedoch viele neue dazugewonnen.
Auch wenn die Bar an der Zentralstrasse für viele Stadtluzerner seit Jahren ein fixer Treffpunkt ist, halten Michel und sein Team wenig von Stillstand. Sei es das regelmässige Um- und Ausbauen des Lokals oder die wechselnde Getränkekarte, auf der die Barkeeper und er sich austoben können. Denn so wie Michel einst die Kunst der Cocktails durch Ausprobieren gelernt hat, lässt er diese Freiheit auch seinen Barkeepern. Er setzt auf Leute, die eigene Ideen und Rezepte einbringen und sich selbst fordern. Rohdiamanten, die man zurecht schleifen könne. «Nur so entwickelt man sich weiter», ist Michel überzeugt.
Ein Erfolgsrezept, wie es scheint. Im Laufe der Jahre haben einige seiner Mitarbeiter Preise für ihre Cocktailkreationen nach Hause nehmen können (zentralplus berichtete). Was kommt bei ihm selbst am liebsten ins Glas? Michel überlegt kurz. «Ein Old Fashioned geht fast immer», sagt er schliesslich. Gemeint ist der «Urvater» des Cocktails, bestehend aus Whisky, Bitters, etwas Zucker, Orangenschale und Eis.
Pistolenschüsse und Fluchtiraden auf dem Klo
Obwohl Tim Michel mag, wie lebendig und vielseitig sich die Luzerner Barszene entwickelt, einen Blick in die Zukunft zu werfen, sei schwierig. Denn als zentralplus im Februar 2022 publik machte, dass die Kinos Moderne und Capitol in naher Zukunft schliessen, war das nicht nur für Filmfans eine Hiobsbotschaft. «Ich war schockiert», sagt Michel. Nicht nur, weil man damit zwei weitere Kinos in der ohnehin schon kinoarmen Stadt Luzern verlieren würde, sondern auch, «weil das Capitol schon immer hier war. Seit ich denken kann».
Tim Michel, Geschäftsführer Bar Capitol«Ein Neuanfang kann auch immer eine Chance sein.»
Zwischen der Bar und dem benachbarten Kino gibt es seit jeher eine Verbindung. Nicht nur, weil sich Kinogäste vor oder nach dem Film noch ein Getränk genehmigen, sondern auch, weil Tim Michel die Filmthematik immer wieder in den Barbetrieb einbaut. Als Nerd würde er sich zwar nicht bezeichnen, «aber ich weiss, was gute Filme sind», sagt er schmunzelnd. Besonders angetan haben es ihm Werke aus den 90er- und frühen 2000er-Jahren. Streifen wie «Pulp Fiction» und «Snatch» laufen deswegen nicht nur als Tonspur in den Toiletten, sondern inspirieren auch die Getränkekarte der Bar.
Grund zum Feiern
Während das Kino Moderne tatsächlich seine Türen schloss und als Bar mit Eventraum neu eröffnete (zentralplus berichtete), bekam das Kino Capitol noch eine Gnadenfrist bis 2027. Was danach mit dem Kino und der Liegenschaft – zu der auch die Bar gehört – geschieht, steht noch in den Sternen. Auch, weil der einstige Besitzer – der Luzerner Kinokönig Georg Egger – im Mai 2023 verstorben ist (zentralplus berichtete). Schwarzmalen will Tim Michel jedoch nicht. «Ein Neuanfang kann auch immer eine Chance sein», sagt er und fügt nach einer kurzen Denkpause hinzu: «Je nachdem, was mit dem Haus geschieht.»
Für die unmittelbare Zukunft haben Tim Michel und sein Team jedoch Grund zum Feiern. Vom 29. Februar bis zum 2. März findet in der Bar Capitol ein Jubiläumsfest zur «Volljährigkeit» statt. Mit dabei sind nebst verschiedenen DJs auch ehemalige Barkeeperinnen aus alten Tagen. Und natürlich der ein oder andere neue Cocktail – angelehnt an Filmklassiker.