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Ein Tier sollte nicht leiden müssen

Lebensqualität bei Tieren – was heisst das eigentlich?

Für Tierhalter ist es oftmals schwierig zu erkennen, ob die Lebensqualität des geliebten Tieres noch gegeben ist. (Bild: Alexander Gerold)

Ein Tier soll nicht leiden – deshalb ist es wichtig, dass man seine Lebensqualität einschätzen kann und erkennt, ab wann sie nicht mehr gegeben ist. Wie du dies als Tierhalter feststellen kannst, erklärt Tierarzt Alexander Gerold in seinem Blogpost.

Onkel Sepp war in all den Jahren mit seinem Grosstierarzt aus dem Oberwallis zufrieden. Und dieser kam nicht nur fürs Kalbern, sondern auch wegen entzündeter Euter oder hinkender Schafe. «Wieso braucht es bei Kleintieren quasi für jeden Körperteil einen Spezialisten?», dachte er laut. «Besteht da nicht die Gefahr, dass man das Wichtigste, nämlich das Tier als Ganzes, aus den Augen verliert?»

Ich erklärte: «So, wie uns unser Hausarzt am besten kennt (und nicht der Venenspezialist), so sollte bei unseren Haustieren auch der allgemeine Haustierarzt den Überblick über die Gesundheit eines Tieres haben. Er kann den allgemeinen Gesundheitszustand und somit auch die Lebensqualität des Tieres am besten einschätzen.»

Wie man Lebensqualität bei Tieren definiert

«Lebensqualität – was heisst das eigentlich?», schob Sepp nach.

«Gute Frage», antwortete ich: «Eine klare Definition gibt es meines Wissens nicht, vereinfacht könnte man vielleicht sagen: Die Lebensqualität beschreibt, wie ein Tier sich fühlt.»

Mein Onkel unterbrach mich: «Und wie soll man wissen, wie ein Tier sich fühlt? Es kann ja nicht sprechen.»

Tante Marie meinte: «Ich nehme an, der Tierhalter ist quasi die Stimme des Tieres? Aber es ist ja schon schwierig, sich in einen anderen Menschen «hineinzufühlen», wie soll das bei einem Hund gehen, geschweige denn bei einer Katze?»

Die Lebensqualität eines Tieres einschätzen

«Richtig, es ist schwierig, aber als Team sicherlich einfacher. Genau deswegen versuchen unsere Tierärztinnen in der Ennetseeklinik in Hünenberg gemeinsam mit dem Tierhalter einzuschätzen, wie ein Tier sich fühlt und wie es ihm geht. Das ist vor allem bei älteren Hunden und Katzen wichtig, deren Arthrose beispielsweise für den Tierhalter oft nicht auf den ersten Blick ersichtlich ist.

Nichtsdestotrotz beeinträchtigen chronische Gelenkschmerzen die Lebensqualität des Tieres. Leider kann auch die moderne Kleintiermedizin keine Wunder vollbringen: Sind alle diagnostischen und therapeutischen Möglichkeiten ausgeschöpft und die Lebensqualität trotzdem nicht mehr vorhanden, beginnt auch für die Tiere das Leiden.»

Sepp nickte. «Genau so ist das. Aber muss man denn ein Tier überhaupt leiden lassen?» Diese Frage erstaunte mich nicht, ich sah in all den Sommern auf der Alpe immer wieder, wie Sepp und Marie genau diese Einstellung lebten – ein Tier soll nicht leiden.

Wann es gilt, Abschied zu nehmen

Ich habe in meinem Beruf leidende Hunde und Katzen gesehen. Deshalb ging ich noch einen Schritt weiter und sagte: «Tatsächlich sollte man ein Tier nicht immer von seinem Leiden erlösen müssen, sondern in Fällen ohne Aussicht auf Heilung oder zumindest auf eine akzeptable Lebensqualität dafür sorgen, dass es gar nicht erst zu leiden beginnt. Das bedeutet aber auch, dass der Tierhalter erkennt, dass die Lebensqualität nicht mehr stimmt und weiss, dass es beim anschliessenden Besuch beim Tierarzt unter Umständen ‹Abschied nehmen› heissen könnte.»

«Ist der Tierhalter darauf nicht vorbereitet, ist das natürlich ein grosser Schock und er ist vielleicht dermassen von seinen Emotionen überwältigt, dass er in dieser Situation eine so schwierige Entscheidung gar nicht fällen kann. Deshalb sollte sich der Tierhalter mit dem heiklen Thema ‹Abschied› auch schon auseinandersetzen, bevor es überhaupt aktuell wird – nämlich dann, wenn die Lebensqualität seines Lieblings anfängt, sich langsam zu verschlechtern.»

«Und wie merkt man, dass sich die Lebensqualität verschlechtert oder ab wann sie nicht mehr stimmt und das Leiden beginnt?», sinnierte Marie.

Gemeinsam können Tierarzt und Tierhalter ermitteln, wie es dem Tier geht.
Gemeinsam können Tierarzt und Tierhalter ermitteln, wie es dem Tier geht. (Bild: Alexander Gerold)

Als Kleintierarzt musst du ja schon fast Psychologe sein

Ich holte ein bisschen aus: «Da die Lebensqualität immer subjektiv ist und neben der Gesundheit von vielen anderen äusseren und inneren Faktoren bestimmt wird, ist sie halt leider nicht messbar. Wäre sie messbar, könnte der Halter eines älteren Haustiers bestimmen, ob sie besser oder schlechter geworden ist. Und sobald sie dann nicht mehr genügend ist, wäre es für ihn sicherlich einfacher, diese schwierigste aller Entscheidungen zu fällen. Die Tiere müssten so nicht leiden und der Tierhalter müsste kein schlechtes Gewissen (und schlaflose Nächte) haben, weil er einfach so über ein anderes Leben entscheiden müsste.»

Onkel Sepp lächelte: «Als Kleintierarzt musst du ja schon fast Psychologe sein – wie bereitet ihr in eurer Klinik denn die Hunde- und Katzenhalter konkret auf diesen Abschied vor?»

Ich fuhr fort: «Wie gesagt, zusammen geht es einfacher: Ich als Tierarzt kümmere mich vor allem um die körperliche Gesundheit. Die anderen Aspekte der Lebensqualität können vom Tierhalter am besten eingeschätzt werden. Ich zeige ihm in einem Gespräch auf, wie diese Einschätzung im Alltag aussehen könnte – denn dem Tierhalter nur zu sagen ‹Sie werden schon merken, wann der richtige Zeitpunkt gekommen ist› wäre nicht nur sehr einfach für mich als Tierarzt, sondern kann auch sehr belastend für den Tierhalter sein. Denn so liegt der ganze Druck auf seinen Schultern.»

So kann ein Tierhalter die Lebensqualität seines Tieres überprüfen

Der Tierhalter eines älteren Tieres kann sich beispielsweise in regelmässigen Abständen Fragen zu wichtigen Aspekten der Lebensqualität seines Tieres stellen. Dazu gehören zum Beispiel das soziale Verhalten innerhalb der Familie (ist der Hund immer noch aktiv am Familienleben beteiligt?), seine natürlichen Funktionen (frisst und trinkt er immer noch gerne, kann die Katze immer noch ihr Fell pflegen?) und seine mentale Gesundheit (liebt er es immer noch am Bauch gekrault zu werden?, bellt er den Heissluftballon immer noch an?). Muss der Tierhalter diese Fragen mehrheitlich mit Nein beantworten, könnte das für ihn ein Hinweis sein, dass die Lebensqualität seines Tieres nicht mehr gegeben ist und er sich an den Tierarzt wenden sollte.

Oder der Tierhalter kann in einem Kalender auch eintragen, ob sein älteres Tier allgemein einen guten oder einen schlechten Tag hatte. Hat sein Hund oder seine Katze im Durchschnitt auf einen guten Tag zehn schlechte und gibt es keine Aussicht auf eine Verbesserung der Situation, muss man als Tierhalter schweren Herzens einsehen, dass es so nicht weitergehen kann.

Eine Veränderung im Verhalten des Tieres kann darauf hinweisen, dass das Tier leidet.
Eine Veränderung im Verhalten des Tieres kann darauf hinweisen, dass das Tier leidet. (Bild: Symbolbild: unsplash)

Gemeinsam geht es einfacher

Helfen können dem Tierhalter vielleicht auch gängige Fragebogen, bei denen er gewisse Aspekte der Lebensqualität wie zum Beispiel Mobilität beziehungsweise Schmerzen, Energie oder Lebensfreude über einen längeren Zeitraum mit Punkten bewertet und die Gesamtzahl der Punkte ihm die Einschätzung der Lebensqualität seines Tieres erleichtert. Je nach Punktetotal weiss er also, ob er sich zu dem Zeitpunkt nicht zu viele Sorgen um seinen Liebling machen muss – oder doch.

Mittlerweile können Tierhalter auch schon Apps auf ihr Handy laden, die ihnen helfen sollten, die Lebensqualität ihres Vierbeiners einzuschätzen.

Tante Marie staunte: «Unglaublich, was es schon alles gibt – aber wenn es hilft..?»

«Ich hoffe doch», antwortete ich und meinte abschliessend: «Ich hatte in meinem Beruf auch schon Situationen, in denen ich ein Tier erlösen musste, das leider viel zu lange leiden musste – und zwar nur, weil sein Halter sich der schlechten Lebensqualität gar nicht bewusst war. Aber wenn Tierärzte und Tierhalter gemeinsam auf die Lebensqualität eines älteren Tieres achten, sollte das auch nicht mehr passieren.»

Sepp schmunzelte: «Ja, gemeinsam geht alles einfacher, gäll Marie.»

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Im Haustierblog schreiben Tierärzte über spannende medizinische Fälle, tierische Patienten und ihren Alltag in der Tierarztpraxis.
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1 Kommentar
  • Profilfoto von Roli Greter
    Roli Greter, 10.03.2023, 17:21 Uhr

    Danke für den interessanten Artikel ❤️

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