Vom Reiz, nur noch 100 Dinge zu besitzen

Zählt ein Paar Socken als zwei Dinge?

Luc Fischer, Inhaber der Webagentur netnode in Luzern, hat es der Minimalismus angetan. Er reduziert, wo er nur kann.

Wir häufen in unserem Leben immer mehr Besitz an. Mehr Bücher, Kleider, Erinnerungsstücke. Luc Fischer aus Luzern macht das Gegenteil. Er reduziert radikal. Minimalismus nennt man das. Im Interview erklärt er, wie das geht und wo man doch an seine Grenzen stösst.

Wovon hat man zu viel zu Hause? T-Shirts? Schuhe? Eulenfigürchen? Töpfe und Krüge? In unserer Gesellschaft nimmt Besitz immer mehr Platz im Leben ein. Ein neuer Trend setzt deshalb auf Reduktion, Minimalismus und Konsumkritik. Es geht dabei grundsätzlich darum, den eigenen Besitz zu minimieren. Es geht darum, weniger zu konsumieren.

Das tut auch der Luzerner Luc Fischer, Inhaber einer Webagentur und Mitentwickler diverser Projekte, wie Coworking Spaces in der Stadt, «Guzuu», «Little Jig» oder der «Luli»-App. zentral+ wollte nun von ihm wissen, wie das tatsächlich mit dem Minimalismus funktioniert.

zentral+: Weshalb hast du mit dem Minimalismus angefangen?

Luc Fischer: Vor einigen Jahren begann mich das Thema zu interessieren. Ich las verschiedene Blogs und Bücher zum Minimalismus und Subsistenzwirtschaft (siehe Box). Es macht Sinn. Wenn schon Konsum, dann richtig. Dann soll man das Konsumierte voll ausnützen, geniessen, mehrfach nutzen und nachhaltig. Es geht eigentlich um eine Grundkritik am ständigen Wachstum. Müssen wir immer mehr von allem haben? Sollten wir nicht besser das nutzen, was wir bereits haben?

Ausserdem: Alles, was man hat, damit muss man sich beschäftigen. Beim Umräumen, Putzen, vor allem beim Umziehen. Und das immer wieder – das ist Lebenszeitverlust. Was ist der Mehrwert daran, vieles zu besitzen?

«Es wäre reizvoll, nur noch 100 Dinge zu besitzen.»

zentral+: Du reduzierst deinen Besitz. Wie viele Dinge hast du noch?

Fischer: Ich habe sie noch nicht gezählt. Aber meine Schränke werden immer leerer (siehe Foto unten). Doch der Prozess ist noch nicht abgeschlossen. Ich habe mir kein absolutes Ziel in Zahlen gesetzt. Es wäre zwar reizvoll, nur noch 100 Dinge zu besitzen, doch man kann das Ganze auch auf die Spitze treiben. Dann kommen die Fragen: Gehören Küchenuntensilien auch zu den eigenen 100 Dingen? Sind ein Paar Socken zwei Dinge oder eines? Und so weiter. Für mich steht der bewusste Konsum im Vordergrund – weniger die absolute Zahl an Sachen, die man nach irgendeiner Minimalismustheorie haben sollte.

zentral+: Wie beginnt man mit so etwas wie Minimalismus im eigenen Leben?

Fischer: Zu Beginn kann man einen ganz einfachen Versuch starten. Ich habe in einem ersten Schritt zwei Drittel meiner Kleidung und über die Hälfte meiner Unterwäsche in Säcke gepackt und sie auf den Estrich gestellt. Einmal musste ich hochgehen, um einen dicken Pullover zu holen. Danach nie mehr. Monate später wusste ich gar nicht mehr, was in diesen Säcken drin ist.

Man braucht ja nicht für jede Situation ein anderes T-Shirt. Einige zum Ausgehen, einge für den Sport, einige in der Freizeit, einige zum Schlafen. Warum nicht ein paar schöne in guter Qualität, die man in jeder Situation tragen kann?

«Ich habe mehr Zeit.»

Der Schrank war vorher voll.

Der Schrank war vorher voll.

zentral+: Und womit hast du weitergemacht?

Fischer: Einfach ist es auch bei kleinem Mist – Deko zum Beispiel. Und in der Küche. Nehmen wir das Tassenbeispiel. Man hat wahrscheinlich ungefähr zwanzig Tassen. Espresso, Kaffee, Tee, Geschenke. Man benötigt aber höchstens vier oder fünf davon. Also weg damit. Auch im Raum selbst – mit Möbeln. Weshalb brauche ich einen Esstisch und einen Bürotisch, wenn ich eine kleine Kommode mit zwei Schubladen neben den Esstisch stellen kann – mit den Büroutensilien?

zentral+: Ist das nicht anstrengend?

Fischer: Im Gegenteil. Ich habe mehr Zeit. Da ich weniger konsumiere, habe ich weniger Ausgaben, ich brauche weniger Geld und muss deshalb auch weniger Stellenprozent arbeiten, um das Geld, das ich brauche, zu verdienen. So habe ich mehr Zeit. Mehr Zeit für inhaltlichen Konsum, also mich damit, was ich tue und habe, richtig zu beschäftigen.

zentral+: Hast du ein Beispiel für inhaltlichen Konsum?

Fischer: Ich schreibe eine SMS und lese einen Artikel, während ich einen Kaffee trinke. Das ist doch schade. Man sollte den Kaffee geniessen, sich darauf konzentrieren. Danach die SMS lesen – sich dabei auf das Gegenüber und das, was man ihm sagen möchte, konzentrieren. Und schliesslich den Artikel lesen. Dabei sein – sich wirklich darauf fokussieren. Es braucht mehr Zeit. Aber der Konsum ist bewusster und ich trinke dann vielleicht bloss einen Kaffe – statt drei. Leider gelingt mir das auch nicht immer.

zentral+: Kannst du auch Erinnerungsstücke einfach wegwerfen?

Fischer: Das ist selbstverständlich das Schwierigste. Ich habe meine Fotoalben in den vergangenen Monaten oft in den Händen gehalten. Ich wollte sie immer wieder wegschmeissen, aber ich konnte es nicht. Letztes Wochenende habe ich sie schliesslich in den Abfall geworfen. Als ich spätabends nach Hause kam, habe ich sie aber wieder rausgefischt (lacht). Danach habe ich die Fotos, die mir wichtig waren, abfotografiert und digital archiviert. Und dann habe ich die Alben definitiv weggeschmissen. Nun sind sie weg.

zentral+: Ist das kein Beschiss? Du wirfst greifbare Dinge weg, nachdem du sie digitalisiert hast? Damit häufst du ja digitalen Besitz an.

Fischer: Das stimmt vorerst. Aber hier zählt dieselbe Regel. Radikal aussortieren, entschlacken. Beruflich und privat. Ich sortiere auch digital aus. Doch gerade in meinem Beruf ist es extrem schwierig. Es gibt aber eine gute Lösung: Archivordner. Diese enthalten nur wenige Erinnerungen und Dokumente aus der Vergangenheit. Denn je weniger man sich nostalgisch mit dem Vergangenen beschäftigt, desto mehr Zeit hat man für das Hier und Jetzt.

Was ist Subsistenzwirtschaft?

Eine Wirtschaftsform, die darin besteht, dass eine kleine wirtschaftliche Einheit (z.B. ein Bauernhof) die für den eigenen Verbrauch benötigten Güter so weit möglich selber herstellt und so vom Markt relativ unabhängig ist. Vorrangig Selbstversorgung also. Sie schliesst aber Tauschhandel beispielsweise mit ein.

zentral+: Wenn du aussortierst – was machst du mit den Dingen, die du nicht mehr willst oder brauchst?

Fischer: Bei Kleidern gibt es die einfache Lösung mit den Kleidersäcken. Dinge, die noch schön sind, kann man verschenken, verkaufen oder ins Brocki bringen.

Je weniger du hast, desto mehr wird dir bewusst, wie sehr dich all das Zeug belastet und einengt. Selbst es los zu werden, braucht unheimlich viel Zeit und Aufwand. Deshalb überlege ich mittlerweile immer vorher, wenn ich etwas kaufen möchte: Wie geht es mit dem Ding dann weiter? Ich habe deswegen auch seit Monaten kaum etwas gekauft. Aber ich gehe gerne in die Stadt «shoppen». Ich bin anschliessend immer zufrieden und glücklich, wenn ich nach Hause komme und nichts gekauft habe. (lacht)

«Es profitiert niemand von Billigprodukten.»

zentral+: Ärgerst du dich dann nicht über den wahllosen Konsum der Leute?

Fischer: Nein, das muss jeder für sich entscheiden. Aber ich ärgere mich, wenn ich T-Shirts für drei oder fünf Franken sehe. Das macht keinen Sinn. Für niemanden, nicht für die Hersteller, die Näherin, nicht für die Verkäufer und schlussendlich auch nicht für die Käufer, die im ersten Moment nur das Schnäppchen sehen. Auch diese profitieren nicht von einer solchen Entwicklung, einer Abwertung der Arbeit und der Produkte. Es macht nur Sinn für das System.

zentral+: Und für die Leute, die wirklich wenig Geld haben?

Fischers Wohnzimmer.

Fischers Wohnzimmer.

Fischer: Es gibt gute Alternativen. Brocki, Flohmarkt, Caritas, Kleidertauschkreise und so weiter.

zentral+: Aber Dinge gehen kaputt.

Fischer: Man kann sie flicken und umnutzen. Einen Computer neu aufsetzen, statt einen neuen kaufen. Gärtnern. Die Kleidung flicken, eigene Möbel schreinern.

Zürich hat beispielsweise nun ein Substistenzwirtschaftskonzept. Ein Teil davon sind die sogenannten Hackspaces. Öffentliche Orte, an welchen Platz und Werkzeug vorhanden ist – eventuell auch Helfer oder Fachbücher –, damit man seine Dinge selbst reparieren kann. Der Staat sollte das eigentlich fördern. Man hat so mehr Wertschöpfung am Ort des Konsums. Man kann Produzent und Konsument sein – so weit es geht. Aber das ist heute nicht im Sinne des Staates, da dieser der Wachstumsmaxime folgt.

Es stellt sich da die grundsätzliche Frage: Wie autark kann und will ein System sein?

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