Zuger Psychotherapeutin zur Corona-Krise

«Sich einsam fühlen ist genauso schädlich wie 15 Zigaretten am Tag»

Die eigenen vier Wände kommen immer näher – und wir fühlen uns ausgeliefert, sagt die Psychotherapeutin Maja Trendle. (Bild: Unsplash/Sasha Freemind)

Die eigenen vier Wände rücken immer näher: Warum schaffen wir es jetzt, in Zeiten von Corona-Krise und Social Distancing, nicht alleine zu sein?

«Ich kann das nicht. Drehe jetzt schon komplett durch.» Meiner Kollegin gehts gerade nicht so gut. Die Angst vor dem Corona-Virus, Kurzarbeit, fünf Tage die Woche allein zu Haus. So gut es geht, soziale Kontakte ausser Haus meiden.

Ein Zustand, den viele derzeit kennen: Wie einen das Gefühl nicht loslässt, die eigenen vier Wände würden immer näherkommen. Ein erdrückendes Gefühl. Woche vier beginnt, nachdem der Bundesrat die sogenannte Ausserordentliche Lage erklärt hat. Die Regale: abgestaubt. Die Vorhänge: gewaschen. Der Kleiderschrank: ausgemistet. Was man halt so tut, wenn es nichts zu tun gibt.

Doch das seltsame Gefühl bleibt. Vereinsamen wir? Was macht dieses Corona-Virus mit unserer Psyche? Antworten darauf hat Psychotherapeutin Maja Trendle, die in Baar eine Praxis hat.

zentralplus: Maja Trendle, Ihr Schwerpunkt als Psychotherapeutin liegt auf Lebenskrisen. Ich nehme an, mit einer solchen Krise wie jetzt hatten Sie es noch nie zu tun?

Maja Trendle: Nein, in dem Ausmass noch nie. Seit ich Therapeutin bin, gab es noch nie ein ähnliches Ereignis, das so viele Menschen in der Schweiz so unmittelbar betroffen hat und viele so aufgewühlt und verunsichert hat wie das Corona-Virus jetzt.

zentralplus: Besonders Alleinstehende, Singles, Senioren in einem Altenheim und Menschen, die alleine in einer Wohnung leben, fühlen sich jetzt einsam. Warum fällt uns das Alleinsein schwer?

Trendle: Soziale Nähe ist ein Grundbedürfnis und ein Grundinstinkt aller Menschen. Das Corona-Virus ist neu, es verunsichert uns. Ein kleines Kind, das Angst hat, ruft auch nach seiner Mutter. Wir brauchen das Gegenüber, das uns hilft und uns beruhigt.

«Krankheitsängste, Sorgen um Angehörige und zum Teil auch Existenzängste: eine toxische Mischung.»

zentralplus: Alle unnötigen Kontakte sollen derzeit auf ein Minimum reduziert werden. Die meisten arbeiten im Homeoffice; wenn wir jemanden treffen, sollen wir uns an die Regeln des Social Distancing halten. Was macht das mit unserer Psyche?

Trendle: Menschen leiden, wenn ihnen die Kontrolle über ihr Leben von aussen genommen wird. Wenn sie nicht selber entscheiden können, ob und wann sie rausgehen oder nicht. Das hat einen viel stärkeren Einfluss auf die Psyche, als wenn sich jemand selber dazu entschliesst: Es ist etwas völlig anderes, ob jemand zwei Wochen freiwillig in ein Schweigekloster geht oder ob der Bund aufgrund der Corona-Krise entscheidet, dass die Leute vermehrt zu Hause bleiben sollen. Wir fühlen uns ausgeliefert. Dann kommen noch die Verunsicherung und die Ängste wegen des Corona-Virus dazu. Krankheitsängste, Sorgen um Angehörige und zum Teil auch Existenzängste: eine toxische Mischung.

Über Maja Trendle

Maja Trendle (36) ist Fachpsychologin für Psychotherapie FSP. Ihr Schwerpunkt liegt auf Depressionen, Ängste und Lebenskrisen. Sie arbeitet unter anderem in einer eigenen Praxis in Baar.

zentralplus: Wir können zwar mit anderen facetimen, skypen – oder per Netflix-Party gemeinsam Serien schauen, ohne uns physisch zu treffen. Dennoch fehlt das Reale, das Rascheln der Chipstüte des Kollegen, das Wissen und das Gefühl, dass man nicht alleine auf der Couch sitzt. Weshalb reicht uns dieser Austausch nicht nicht?

Trendle: Es reicht den wenigsten Menschen. Körperkontakt kann beruhigen, das zeigte bereits ein Experiment von Harlow und Zimmermann im Jahr 1959, bei dem Rhesusaffen von einer «Draht»- und einer kuscheligen Puppen-Mutter grossgezogen wurden. Im Verlauf des Experiments gab es nur noch bei der Drahtmutter Futter. Die Affen kehrten jedoch immer wieder zur kuscheligen Mutter zurück und klammerten sich an sie. Es ging ihnen also nicht nur um das Füttern. Das Kuscheln war ein genauso grosses Bedürfnis. Es sind nur schon die kleinen Dinge, die uns jetzt fehlen: Augenkontakt, jemandem auf die Schultern klopfen. Skype und Co. sind eine Ausweichlösung, auf die wir im Notfall zurückgreifen.

«Wir müssen das nicht alleine durchstehen.»

zentralplus: Ein Blick nach Italien zeigt, dass viele Menschen neue und kreative Wege finden, um die Gemeinschaft trotz Krise zu zelebrieren. DJs spielen zum Beispiel auf den Balkonen, wozu andere in der Nachbarschaft feiern und tanzen.

Trendle: Auch wenn man alleine in der Wohnung sitzt: Es hilft, sich in einer solchen Krisensituation klarzumachen: Über mir, unter mir, gegenüber wohnt jemand, dem es wahrscheinlich genau gleich geht wie mir. Wir müssen das nicht alleine durchstehen, wir sitzen alle im selben Boot.

Was gegen das Alleinsein hilft
  • Nutze die Kanäle, die wir haben, um mit anderen in Kontakt zu bleiben. Zum Beispiel durch die App «Houseparty» – eine Videochat-App, auf der man auch gemeinsam spielen kann.
  • Die Situation akzeptieren: Wir können die Lage nicht ändern. Aber wir können uns fragen, wie wir an ihr wachsen und uns verändern können.
  • Sich solidarisieren: Hilf anderen – dabei greifst du nicht nur ihnen unter die Arme, sondern merkst: Du und dein Handeln sind wichtig.
  • Notiere jeden Abend drei Punkte, für die du dankbar bist.
  • Geh im Wald spazieren: Das stärkt sogar dein Immunsystem.
  • Sprich mit anderen über deine Ängste, Sorgen oder wenn du dich einsam fühlst.
  • Tu Dinge, für die du sonst nie Zeit hattest. Probiere etwas Neues zu Hause aus.
  • Lenk dich ab, sieh dir alte Fotoalben an, notiere dir To-do-Lists für die Zeit nach Corona

zentralplus: Wann sind wir nicht mehr alleine, sondern einsam?

Trendle: Der Einsamkeitsforscher John Cacioppo brachte es so auf den Punkt: Einsamkeit hat nichts damit zu tun, ob und wie viele Menschen um einen sind. Wer sich einsam fühlt, dem fehlt das Gefühl, von anderen beachtet, anerkannt und gebraucht zu werden. Einsamkeit ist ein inneres Erleben, während das Alleinsein ein rein physischer Zustand ist.

zentralplus: Das eine ist also «nur» ein Gefühl, während das andere ein von aussen klar erkennbarer Zustand ist?

Trendle: Ja, Einsamkeit ist ein Gefühl wie viele andere. Gefühle sind nicht grundsätzlich gut oder schlecht. Alle haben ihre Berechtigung und einen Informationscharakter. Einsamkeit macht deutlich: Hey, da stimmt etwas nicht, etwas fehlt. Aber jetzt können wir dem Bedürfnis nach Kontakt nicht mehr so gut nachgehen, wie wir wollen. Das Gefühl schreit dann quasi weiter: «Hey, hallo, wir wollen Menschen, wir brauchen Austausch, Unterstützung, Feedback und Mitgefühl.» Mit den gängigen Kanälen lässt sich das wenigstens ein bisschen befriedigen. Aber das Bedürfnis lässt sich damit nicht sättigen.

zentralplus: Macht Isolierung krank?

Trendle: Sich einsam zu fühlen ist genauso schädlich wie 15 Zigaretten am Tag zu rauchen und schädlicher als Übergewicht. Wer sich einsam fühlt, stirbt früher. Zu diesem Schluss kam eine Metastudie mit 140 Untersuchungen an mehr als 300'000 Probanden.

zentralplus: Einsamkeit kann auch ein Symptom von Depression sein. Kann das Alleinsein in der Wohnung folglich zur Depression führen?

Trendle: Ja. Unter anderem besteht bei Einsamkeit ein erhöhtes Risiko für Depressionen, selbst bei gesunden Menschen. Theoretisch kann aber ganz vieles zu einer Depression führen. Oft spielen mehrere Faktoren zusammen.

«Eine komplette Ausgangssperre wäre schlimm und ist aus psychologischer Sicht zu vermeiden.»

zentralplus: Zu welchen weiteren psychischen Problemen kann es aufgrund der Corona-Krise kommen?

Trendle: Psychologen gehen davon aus, dass es nach der Corona-Krise bei einigen Menschen zu ähnlichen psychischen Folgen kommen kann wie nach Ereignissen mit katastrophalem Ausmass wie zum Beispiel Naturkatastrophen oder Ereignissen, in denen man um Leib und Leben fürchtet. Zu nennen sind etwa Anpassungsstörungen bis hin zu posttraumatischen Belastungsstörungen oder eben Depressionen und Ängste. Solche psychischen Probleme können sich auch erst zeigen, wenn die Krise vorbei ist. Man denkt, dass man alles überlebt hat, aber die Normalität kehrt nicht ein. Einem grossen Teil der Menschen aber können die Isolation und die Corona-Krise psychisch nichts anhaben. Man spricht von Resilienz, also Widerstandskraft.

zentralplus: Wie stehen Sie zu einer kompletten Ausgangssperre?

Trendle: Eine komplette Ausgangssperre wäre schlimm und ist aus psychologischer Sicht zu vermeiden. Wenn sie aber nötig ist, soll sie so kurz wie möglich sein. Wenn man in den eigenen vier Wänden geradezu kleben bleibt, spitzt sich alles zu.

zentralplus: Was heisst kurz? Oder anders gefragt: Wann wird die Isolation gefährlicher als das Virus selbst?

Trendle: Ich bin keine Virologin, daher kann ich nicht sagen, wie gefährlich das Virus ist. Man müsste hier wohl unterscheiden, für wen und in welchem Sinn? Damit meine ich, im Sinn von Überleben oder von psychischer Gesundheit. Das Virus ist für Menschen aus der Risikogruppe bezüglich der COVID-19-Erkrankung körperlich wahrscheinlich bedrohlicher als die Isolation. Umgekehrt leidet die 20-jährige kerngesunde Studentin mehr an der Isolation. In einem Medizinmagazin fassen Forscher die bisherigen Ergebnisse so zusammen: Psychische Symptome treten bei Quarantäne vermehrt ab Tag 11 auf. Es kann zu Angst und Ärger kommen, man zieht sich zurück und ist gereizt. Man kann es also definitiv nicht auf die leichte Schulter nehmen.

Maja Trendle (36), Fachpsychologin für Psychotherapie FSP. (Bild: zvg)
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