Neues Urteil des Kriminalgerichts Luzern

Schwertangriff im Treppenhaus: Täter schuldunfähig

Im Dezember 2021 hat ein Mann in Luzern seine Nachbarin beinahe mit einem Schwert erschlagen. Jetzt hat das Kriminalgericht sein Urteil gefällt. (Bild: Adobe Stock)

Im Dezember 2021 geht ein Mann mit einem Schwert auf seine Nachbarin los, nach einem Urteil des Luzerner Kriminalgerichts muss dieser in eine geschlossene Psychiatrie. Als es zur Bluttat kam, wussten die Behörden längst von dessen schlechten Zustand.

Bevor die Hölle losbricht, saugt Ladina Walther* Staub im Treppenhaus. Ein Dezembermorgen 2021, ein Mehrfamilienhaus irgendwo im Kanton Luzern. Walther, eine Frau Mitte 30, hört, wie weiter unten eine Tür zuschlägt. Sie schaut aus dem Fenster, sieht den Nachbarn aus einem unteren Stockwerk beim Haupteingang stehen. Im Boden vor ihm, so wird sie es später der Polizei sagen, steckt ein grosses Schwert.

Nicht zum ersten Mal fällt der Mann auf im Haus. In den Wochen und Monaten zuvor geraten er und die anderen Bewohner immer wieder aneinander. Als die Staatsanwaltschaft Luzern ein halbes Jahr später Anklage gegen den Schweizer Anfang 30 erhebt, wir sie es so formulieren: «Das Verhältnis zwischen dem Beschuldigten und den anderen Mietparteien war wegen des sozial unangepassten (...) Verhaltens des Beschuldigten angespannt.»

Was an diesem Donnerstag im Dezember 2021 geschieht, eskaliert innert Sekunden. Und das so krass, dass sich die Strafverfolger des Falls annehmen werden. Ladina Walther will dem Nachbarn nicht begegnen, schaut, dass sie möglichst schnell in die Waschküche kommt. Doch im Parterre kreuzen sich die Wege – auf eine Art, die niemand erwarten konnte: Als er sie erblickt, stürmt der Nachbar ins Haus und auf Ladina Walther zu. Mit dem Schwert in der Hand.

Um ein Haar wäre das Opfer verblutet

Der Mann geht auf Walther los, schlägt und sticht auf sie ein. Die Frau wehrt die Schläge mit den Händen ab, versucht zu entkommen, der Mann verfolgt sie. Nach Sekunden, die sich wie Stunden angefühlt haben müssen, findet Walther Unterschlupf bei einer Nachbarin.

«Ohne umgehende chirurgische Versorgung wäre sie mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit verblutet.»

Aus der Anklageschrift der Luzerner Staatsanwaltschaft

Der Täter verlässt das Haus, wenig später stellt ihn die Polizei. Zu diesem Zeitpunkt ist Ladina Walther im Spital, schwer verletzt, an den Händen, am Bauch, besonders am Kopf. «Ohne umgehende chirurgische Versorgung», heisst es in der Anklage, «wäre sie mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit verblutet.»

Deshalb sagt das Luzerner Kriminalgericht in einem seit Kurzem öffentlichen Urteil: Der Mann hat eine versuchte, vorsätzliche Tötung begangen; tatbestandsmässig und nicht gerechtfertigt zwar, aber: auch nicht schuldhaft. Heisst: Das Gericht verurteilt den Mann nicht zu einer Gefängnisstrafe, die bei einer vollendeten vorsätzlichen Tötung laut Gesetz mindestens fünf Jahre beträgt.

Täter war schizophren

Denn der Täter leidet an einer paranoiden Schizophrenie. Seine Tat hatte er in einem psychischen Zustand begangen, in dem er nicht einsehen konnte, dass sie nicht rechtens war. In der Untersuchung sollte der Mann mehrere verworrene Aussagen ablegen, die sich widersprachen, keinen Sinn ergaben und die im Wesentlichen zum Inhalt hatten, dass der Mann glaubte, seine Nachbarin angreifen zu müssen.

In einem Zustand, in dem ein Täter das Unrecht seiner Tat nicht einsehen oder nicht nach dieser Einsicht handeln kann, ist ein Täter nicht strafbar. Allerdings kann ein Gericht eine stationäre, therapeutische Massnahme verhängen, einen Täter also in eine geschlossene Abteilung einweisen lassen. Das ist im Fall der Schwertattacke geschehen, der Mann befindet sich seit Längerem in einer psychiatrischen Klinik in einem Nachbarkanton.

Das Opfer soll weder Schadenersatz noch Genugtuung erhalten

Mit seinem Urteil kommt das Gericht den Anträgen sowohl der Verteidigung als auch der Staatsanwaltschaft nach. Dennoch wurde gegen das – also noch nicht rechtskräftige – Urteil Berufung angemeldet. Und zwar vom Opfer, das im Verfahren als Privatklägerin aufgetreten ist. Die Frau hatte Schadenersatz und 200'000 Franken Genugtuung vom Täter verlangt – und kein Geld bekommen.

Zwar liege «ohne Weiteres» ein Schaden vor, schreibt das Gericht. Weil der Täter allerdings schuldunfähig sei, kann er nicht zu einer Verschuldenshaftung verurteilt werden. So kommt nur eine sogenannte Billigkeitshaftung in Frage, die allerdings nur unter gewissen Voraussetzungen möglich ist – etwa, wenn ein Täter wohlhabend ist. Der Angreifer aber lebte von einer IV-Rente und zwischenzeitlich von Sozialhilfe, eine Verurteilung zu einer Schadenersatzforderung würde ihn also «erheblich treffen», so das Gericht: «Unter diesen Umständen liegen die Voraussetzungen der Billigkeitshaftung (…) nicht vor.»

Auf Anfrage erklärt Astrid David Müller, die Anwältin des Opfers, sie habe «vorsorglich und fristwahrend» Berufung angemeldet, weil das zuerst verschickte Urteilsdispositiv keine Begründung enthielt und damit unklar war, warum das Gericht die Forderungen ihrer Mandantin abgewiesen hat. Ob nun die Berufungserklärung erfolge und das Urteil an die nächste Instanz weitergezogen werde, kann David Müller nicht sagen: «Die Beratung mit meiner Mandantin läuft noch.»

Was haben die Behörden getan?

Wieso konnte die angespannte Situation im Haus so eskalieren? Denn wie das Urteil zeigt, wussten die Behörden seit Längerem vom Zustand verbeiständigten Mannes. Wieso haben diese den Mann vor der Tat nicht etwa mit einer sogenannten Fürsorgerischen Unterbringung in eine psychiatrische Klinik einweisen lassen?

«Behörden, Amtsstellen und involvierte Personen sollten vermehrt sensibilisiert sein, die entsprechenden zuständigen Stellen rechtzeitig zu kontaktieren, um Vorfälle dieser Art unbedingt verhindern zu können.»

Aus der Stellungnahme der KESB

Eine Anfrage von zentralplus beantwortet die zuständige Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (KESB) mit einer ausführlichen, allerdings hintergründigen Stellungnahme, da man aus «datenschutzrechtlichen Gründen» keine näheren Angaben zum Fall machen könne.

Im Kern heisst es, bei einer Fürsorgerischen Unterbringung gehe es um den Selbstschutz eines psychisch kranken Menschen. Um Zwischenfälle zu vermeiden, bei denen andere zu Schaden kommen, sei die Polizei zuständig. Allerdings sei es «teilweise sehr schwierig» das Gefährdungspotenzial eines psychisch kranken Menschen abzuschätzen: «Es kann relativ plötzlich und unvorhergesehen zu einem Übergriff oder zu einer Tat auf Dritte kommen, sodass allenfalls die Strafverfolgungsbehörden vorher noch gar nicht involviert waren.»

Ein solcher Vorfall sei für Opfer und Angehörige «von grösster Tragik»: «Behörden, Amtsstellen und involvierte Personen sollten vermehrt sensibilisiert sein, die entsprechenden zuständigen Stellen rechtzeitig zu kontaktieren, um Vorfälle dieser Art unbedingt verhindern zu können», so die zuständige KESB.

*Name geändert

Verwendete Quellen
  • Urteil 2R 6 22 120 des Luzerner Kriminalgerichts
  • Schriftlicher Austausch mit Astrid David Müller
  • Schriftliche Anfrage an die KESB der Wohngemeinde
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