Freiwillig unter dem Existenzminimum

Der Mann, dessen Zeit keinen Preis kennt

Dorian Wurzbacher im Luzerner Spielmuseum Gameorama. (Bild: jdi)

Dorian Wurzbacher empfängt einmal pro Woche die Gäste des Spielmuseums Gameorama. Schon während seiner Zeit im Luzerner Nachtleben setzte er auf kleine Pensen – und lebt seit Jahren freiwillig weit unter dem Existenzminimum.

Einzig die Autolichter und Strassenlampen erhellen den Hirschengraben, während der Regen unablässig herab- und ein Gast nach dem anderen ins Gameorama hereinströmt. Bald zieht das interaktive Spielmuseum um. In der ehemaligen Postfiliale, ein paar Türen weiter, wird es künftig auf zwei Stöcken noch grösser und vielfältiger (zentralplus berichtete).

Mit einem warmen Lächeln werden die Gäste von Dorian Wurzbacher empfangen. Ein paar von ihnen sind in Brettspiele und Gespräche vertieft, während im Hintergrund Reggaemusik zu hören ist. Ob sie glücklich seien mit der Auswahl des Spiels, fragt Wurzbacher ein Grüppchen Englisch sprechender Männer mittleren Alters. Ihre Antwort stellt ihn zufrieden. Er nimmt Platz am letzten freien Tisch im Lokal.

Spielen statt Saufen

«Als ich hier angefangen habe, arbeitete ich noch regelmässig im Luzerner Nachtleben», erzählt Wurzbacher. Leserinnen dürfte er etwa von der inzwischen geschlossenen Molo Bar bekannt sein (zentralplus berichtete). Die unflätigen Partygänger bugsierte der Hüne jeweils freundlich, aber bestimmt aus dem Ausgehlokal an der Baselstrasse.

Die Molo Bar an der Baselstrasse 42/44 ist Geschichte. Momentan wird das Lokal umgebaut. (Bild: Facebook/Molo Bar Luzern)

Das sei im Gameorama noch nie nötig gewesen. Die Öffnungszeiten des Gameorama – nie länger als 22 Uhr – und der Fokus aufs gemeinschaftliche Spielen statt Saufen dürften zum friedlichen Miteinander beitragen.

Zweitjob im Entlebuch

Obwohl: Alkohol wird auch im Gameorama ausgeschenkt. Im ersten und einzigen interaktiven Spielmuseum der Schweiz gibt es Biere mit Namen wie «Extra Life» oder «Level Up». Nichts für Wurzbacher. Er hat seinen Suchtmittelkonsum auf null heruntergefahren.

«Ich möchte meine Zeit denen zur Verfügung stellen, die von der Gesellschaft im Stich gelassen werden.»

Dorian Wurzbacher

Im Nachtleben arbeitet Wurzbacher momentan nur noch an ausgewählten Events. Statt um Raverinnen kümmert er sich donnerstags im Gameorama um Familien, Schulklassen und Touristen, die auch mal vom Ausland herkommen. Und einmal pro Woche arbeitet er im Entlebuch als persönlicher Assistent für einen Menschen mit Behinderung.

Ein Leben ohne Luxus

Sein kumuliertes Einkommen liege weit unter dem Existenzminimum. Das sei so gewollt. «Ich möchte meine Zeit denen zur Verfügung stellen, die von der Gesellschaft im Stich gelassen werden», erklärt Wurzbacher die Wahl eines Lebens ohne Luxus. «An der mir zur Verfügung stehenden Zeit hängt darum auch kein Preisschild.»

Heute Abend gehe er mit einer Freundin spazieren, die sich mit ihrer Deutschen Dogge kaum aus dem Haus traue, weil das Tier schlicht riesig sei. Andere Bekannte unterstütze er mit unbezahlten Arbeitseinsätzen. Etwa dann, wenn deren Gewerbe das raue wirtschaftliche Umfeld besonders stark zu spüren bekommen.

Zeit ist nicht Geld

Dorian Wurzbacher wünscht sich weitreichende gesellschaftliche Veränderungen. Und ist sich bewusst, dass Materielles durchaus auch zu Veränderungen beitragen kann. «Stünde mir plötzlich viel Geld zur Verfügung, könnte ich meine ‹Utopien› noch konsequenter vorantreiben», sagt er. «Beginnen würde ich bei der Grundversorgung mit Lebensmittel und Wohnraum für alle, um Existenzängste zu lindern», fährt er fort – und blickt nachdenklich in die kalte, verregnete Dunkelheit hinaus.

Auch das Kultur- und Nachtleben wolle er helfen weiterzuentwickeln. Nach Möglichkeit auch mal ohne Lohn nehmen zu müssen, weil Geld in der Branche oft Mangelware sei. «Würden Kulturschaffende für jede investierte Minute Lohn fordern, würde das Nachtleben untergehen», ist sich Wurzbacher sicher.

Per Anhalter um die halbe Welt

Anders gestaltet sich die Ausgangslage im Gameorama. Selbst in der eigentlichen Off-Season, im Sommer, hätte das Spielmuseum zuletzt Wachstum verzeichnet, verrät Wurzbacher. Doch des Erfolgs wegen ist Wurzbacher – man kann es sich denken – nicht hier. Sondern, weil er schon vor seiner Anstellung mit mehreren Mitarbeitenden und der Inhaberin Angela Vögtli befreundet war. Und weil er gerne spielt. «Splendor» ist sein liebstes Brettspiel. Er hat es den Englisch sprechenden, offensichtlich zufriedenen Gästen am Tisch nebenan empfohlen. «Zudem feiere ich ‹Fifa›», fügt er an. Er «zocke» die Fussballsimulation schon seit der dritten Ausgabe 1995.

Drei Englisch sprechende Männer spielen Dorian Wurzbachers Lieblingsspiel «Splendor». (Bild: jdi)

Geboren ist Dorian Wurzbacher 13 Jahre davor, 1982, in Nürnberg. Seit 2015 lebt er in Luzern, wobei es ihn kurz nach dem Umzug in die Innerschweiz wieder wegzog. 2017 reiste er nach einem dreimonatigen Aufenthalt in Mexiko von Luzern per Anhalter nach Neu-Delhi. Dabei nahmen auch seine «Utopien» Form an.

Hingegen war Wurzbachers Einstieg ins Berufsleben eher konventionell. Er ist gelernter Grosshandelskaufmann, arbeitete unter anderem für ein koreanisches Elektronikunternehmen im weltweiten Vertrieb. Künftig möchte er im Berner Kulturleben Fuss fassen. Doch die dort entstehenden Projekte seien noch nicht spruchreif, meint Wurzbacher augenzwinkernd.

Verwendete Quellen
  • Persönliches Treffen mit Dorian Wurzbacher
  • Website des Gameorama
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