Neue Kritik an Luzerner Kantonsgeschichte

Grausamkeiten im Luzerner «KZ» immer noch tabu

Für den Luzerner Staatsarchivar Jürg Schmutz ist das Straflager Wauwilermoos explizit kein Luzerner Ereignis (Bild: mag).

(Bild: mag)

Der Dokumentarfilm «Notlandung» erinnert an die schrecklichen Misshandlungen, die während des Zweiten Weltkriegs im Straflager Wauwilermoos an internierten Soldaten begangen wurden. Die neue Luzerner Kantonsgeschichte blendet dieses dunkle Kapitel aus und steht deshalb nun in der Kritik.

«Notlandung» rüttelt auf. Der Dokumentarfilm von Regisseur Daniel Wyss porträtiert amerikanische Piloten, die während des Zweiten Weltkriegs im Straflager Wauwilermoos interniert und brutal misshandelt wurden. Dabei fällt auf: In der neuen Luzerner Kantonsgeschichte, die 2013 publiziert wurde, sind dem Thema lediglich sechs Zeilen gewidmet. In einem einleitenden Abschnitt zur Wirtschaftsgeschichte zwischen 1920 und 1945 sind die Existenz des Straflagers, die «schwierigen hygienischen und sozialen Bedingungen» sowie der mit den Nationalsozialisten sympathisierende Lagerkommandant André Béguin erwähnt.

Historiker Hilmar Gernet kritisiert im Dokumentarfilm hingegen, dass man in den wichtigsten historischen Publikationen der Region «keine einzige Zeile» zum Straflager finde. Auch nicht in der ganz neuen Kantonsgeschichte. Gegenüber zentral+ bestätigt Gernet nun: «Diese Aussage ist falsch, das ist so.»

«Ich finde es schwach, dass in der neuen Kantonsgeschichte das Straflager bloss erwähnt wird.»

Hilmar Gernet, Historiker

Gleichzeitig bleibt er aber bei seiner grundsätzlichen Kritik, dass die neue Kantonsgeschichte das Ereignis «ungenügend» aufarbeite und diesem zu wenig Aufmerksamkeit schenke. «Ich finde es schwach, dass in der neuen Kantonsgeschichte nicht einmal eine Quelle angegeben ist, das Straflager bloss erwähnt wird», so Gernet. Er nennt Peter Kambers Buch «Schüsse auf die Befreier» (1993), das sich ausführlich genau diesem Thema widmet.

Seit der Veröffentlichung der Publikation von Historiker Hilmar Gernet im Jahre 1995 war das Straflager Wauwilermoos kein Thema mehr. (Screenshot SRF)

Seit der Veröffentlichung der Publikation von Historiker Hilmar Gernet im Jahre 1995 war das Straflager Wauwilermoos kein Thema mehr. (Screenshot SRF)

Straflager Wauwilermoos eine nationale Angelegenheit?

Jürg Schmutz, Staatsarchivar und Herausgeber der neuen Luzerner Kantonsgeschichte, erstaunt Gernets Aussage im Film. Er lässt den unausgesprochenen Vorwurf, die Kantonsgeschichte verschweige oder verdränge die schrecklichen Misshandlungen, nicht gelten. «Zum Straflager Wauwilermoos gab es bereits Publikationen. Wer etwas zu diesem Thema lesen wollte, konnte das längst», sagt Schmutz. Der Herausgeber der Kantonsgeschichte bezeichnet die Vorstellung, die Kantonsgeschichte wolle etwas verschweigen, als «weltfremd».

Auf der anderen Seite kritisiert Historiker Gernet die neue Kantonsgeschichte ausserdem dafür, dass dem Zweiten Weltkrieg kein eigenes Kapitel gewidmet ist. «Das wirft Fragen auf, denn es war eine wichtige Zeit, die unsere Region mentalitäts- und wirtschaftsgeschichtlich prägte», so Gernet weiter.

«Weder der Zweite Weltkrieg noch das Straflager Wauwilermoos waren für uns explizit Luzerner Ereignisse. Es sind vielmehr eidgenössische Angelegenheiten.»

Jürg Schmutz, Staatsarchivar und Herausgeber der Kantonsgeschichte

Riesiges öffentliches Interesse

Bereits in den neunziger Jahren erschienen Publikationen zum einzigen Straflager der Schweizer Armee im Wauwilermoos. In den darauffolgenden 20 Jahren wurde die Aufarbeitung der Ereignisse allerdings nicht fortgesetzt.

Ende Oktober wurde in Egolzwil nun ein Gedenkstein gegen das Vergessen der unhaltbaren Zustände im Straflager eingeweiht. An zwei Tagen setzten sich über 1100 Personen vor Ort mit dem Thema auseinander. Neben der Premiere des Dokumentarfilms «Notlandung», ebenfalls in Egolzwil, fand auch eine Podiumsdiskussion statt.

«Weder der Zweite Weltkrieg noch das Straflager Wauwilermoos waren für uns explizit Luzerner Ereignisse. Es waren vielmehr eidgenössische Angelegenheiten, weshalb es nicht unbedingt nötig war, diese in der neuen Kantonsgeschichte unterzubringen», erklärt Jürg Schmutz den Beschluss des wissenschaftlichen Beirats der Kantonsgeschichte, die sich inhaltlich auf das 20. Jahrhundert beschränkt. Und er unterstreicht: «Diese Ereignisse sind zu wenig Luzern-spezifisch.» Deshalb habe man dem Straflager Wauwilermoos nicht mehr Platz und dem Zweiten Weltkrieg kein eigenes Kapitel gewidmet.

Aufarbeitung nicht abgeschlossen

Schmutz erklärt weiter, dass die wesentlichen Tatsachen zum Straflager Wauwilermoos bereits publiziert worden seien. Auch deshalb seien die Autoren nicht mehr auf das Ereignis eingegangen. Die Frage, ob die schrecklichen Ereignisse im Straflager derweil ausreichend aufgearbeitet sind, kann Jürg Schmutz gemäss eigenen Angaben nicht beantworten. Er sagt aber: «Jede Generation hat ihre eigenen Informationsbedürfnisse und Zugänge zu historischen Ereignissen. Solange das Fehlen von Aussagen zu einem bestimmten Ereignis interpretiert wird als Versuch, etwas zu verheimlichen oder zu verdrängen, muss man wohl davon ausgehen, dass das betreffende Ereignis als zu wenig aufgearbeitet betrachtet wird.»

Die neue Luzerner Kantonsgeschichte wurde 2013 veröffentlicht. (mag)

Die neue Luzerner Kantonsgeschichte wurde 2013 veröffentlicht. (mag)

Der Luzerner Staatsarchivar vermutet, dass es mit einer gewissen Distanz heute einfacher ist, über die Ereignisse zu sprechen. Hilmar Gernet sagt dazu ebenfalls, dass die zeitliche Nähe eine breite Auseinandersetzung mit dem «unangenehmen Thema» verhindert habe. Eine weitere wissenschaftliche Aufarbeitung sei aber von grossem Interesse. «Der Dokumentarfilm setzt jetzt ein starkes Zeichen», sagt der Historiker und fügt an: «Jetzt haben wir ein Dokument, mit dem wir uns auseinandersetzen müssen». So ist laut Gernet jetzt der Zeitpunkt, sich dem Geschehenen erneut zu stellen.

Das Straflager Wauwilermoos

Zwischen 1941 und 1945 leitete Hauptmann André-Henri Béguin als Lagerkommandant das Straflager Wauwilermoos der Schweizer Armee. Untergebracht wurden internierte Soldaten, die einen Fluchtversuch aus ihren ordentlichen Unterkünften unternommen hatten. Dazu zählten Russen, Italiener und Amerikaner. Sie waren in 22 Baracken für insgesamt 1000 Internierte untergebracht.

Unter der Führung von Béguin kam es im Lager zu Vergewaltigungen internierter Soldaten. Zeitzeugen sprechen von einem Ort des Sadismus. Die hygienischen und sozialen Zustände waren unhaltbar. Internierte Soldaten sprachen von einem «Schweizer Konzentrationslager».

Brisant an dieser Geschichte ist, dass sowohl die Armeespitze wie auch die damalige Luzerner Regierung über die misslichen Zustände informiert waren und dennoch untätig blieben. Sie liessen den Lagerkommandanten André Béguin gewähren.

1946 wurde dieser schliesslich zu dreieinhalb Jahren Zuchthaus verurteilt, unter anderem wegen Betrug, wiederholter Veruntreuung, Missbrauch der Befehlsgewalt und Ungehorsam, jedoch nicht für die Misshandlungen.

Quelle: Hilmar Gernet (1995): Verbrechen und Leiden im Internierten-Straflager Wauwilermoos (1941–1945), in: Heimatkunde des Wiggertals, Heft 53, Seiten 61–78.

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1 Kommentar
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    bjornsen, 09.11.2015, 12:00 Uhr

    Wie kommen Sie in diesem Zusammenhang auf das Wort «KZ»?

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