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Im Herbst kommt wieder der Brotbaum

Maroni: Als in Weggis der Untergang der «Chestene» bevorstand

Die grünen «Maroni-Igeli» gedeihen auch am Vierwaldstättersee. (Bild: Delf Bucher)

Auch in der Zentralschweiz spielte die Edelkastanie als Brotbaum historisch eine Rolle. Nun im Zeichen des Klimawandels setzt die Waldwirtschaft erneut an den besonnten Hängen der Rigi auf die Maronibäume.

1909 war es so weit. Endlich wurde der Traum einer ständigen Freilichtbühne auf der Halbinsel Hertenstein realisiert. Die internationalen Sommergäste wurden von Schauspielstars der damaligen Zeit in die Welt der griechischen Mythologie entführt. Ganz begeistert merkt der Rezensent des «Bundes» 1912 über die Orest-Aufführung des griechischen Tragödiendichters Aischylos an, «wie zu der natürlichen Szenerie im Edelkastanienhain dieser Schaubühne griechische Gewandung sich mit so besonders harmonischer Wirkung gesellt.» Die Kulisse von mächtigen Maronibäumen passte gut zu dem naturalistischen Pomp der dortigen Freilichtbühne, einem hölzernen Provisorium, das weit entfernt einem griechischen Amphitheater ähnelte.

Heute werden wieder auf der Halbinsel Edelkastanien von der IG Pro Kastanien Zentralschweiz gepflanzt und erinnern an die lange Tradition: Entlang der Ufer zwischen Vitznau und Küssnacht, aber auch rund um Walchwil am Zugersee, gediehen über Jahrhunderte die Edelkastanien. Damit behielt die Bauernregel ihre Gültigkeit: «D’Chestene wend der See g’seh!“ Der Grund sind die frühlingshaften Föhnwinde, welche die Schneeschmelze schneller einsetzen lassen und damit die Vegetationsperiode in den seenahen Wäldern verlängern. 

Maroni-Killer Gotthardbahn

Es war eine jahrhundertealte Tradition, den Brotbaum der Tessiner ebenfalls in den Wäldern der Föhnregionen nördlich des Gotthards anzupflanzen. So schreibt beispielsweise der Berner Kantonsforstmeister Karl Albrecht Kasthofer 1828 über die Maroni-Kulturen am Thunersee: «Die Kastanie könnte unter den Bäumen das für den Landmann sein, was die Erdäpfel unter den Stauden. Die Kinder werden den Vater segnen, dem sie den Baum verdanken, der ihnen die Brotfrucht verschafft.»

«Wie wir alle wissen, war in der vor wenigen Jahren stattgehabten Hungersnot die Kastanie sozusagen das einzige geeignete Lebensmittel für unser Volk.»

aus einem 1778 erlassenen Dekret

Aber am Ende des 19. Jahrhunderts legten die Landwirte und Forstleute zwischen Vitznau, Weggis, Hertenstein und Greppen wie auch in Walchwil am Zugersee die Axt an. Das langsame Sterben der Kastanienselven setzte ein. Den Grund dafür benennt die «Neue Zürcher Zeitung» 1898: «Die Erstellung der Gotthardbahn und der mit Italien abgeschlossene Handelsvertrag treiben einen Zweig der Landwirtschaft, dem Untergange zu, aus dem in früherer Zeit einige Gemeinden am Vierwaldstättersee einen erheblichen Nutzen zogen, nämlich die Kultur der Edelkastanie. Es waren vorzugsweise die Gemeinden Küssnacht, Weggis und Vitznau, in denen diese Kultur grössere Dimensionen angenommen hatte, und zwar von Alters her. […] Heute ist der Preis so stark zurückgegangen, sodass die inländische Frucht die Konkurrenz der italienischen Ware nicht auszuhalten vermag. Infolgedessen legen die Bauern auf die Kultur der Edelkastanie keinen Wert mehr. Die Bäume werden allmählich umgehauen.»

Eichenwälder für die Eisenbahn

Auf der anderen Seite war es attraktiver für die Bauern, auf Viehwirtschaft zu setzen, da sich wiederum der italienische Markt für Käse aus der Schweiz mehr und mehr öffnete. Die Geschichte der Eisenbahn hat sich im Übrigen mit einer anderen Baumgeschichte verwoben. Mit dem bezeichnenden Buchtitel «Auf den Eichen wachsen die besten Schinken» hat der Forstingenieur Christian Küchli beschrieben, wie die früher weit verbreiteten, lichten Eichenwälder in der Schweiz als Allmend (kostenlos) für die Schweinehaltung genutzt wurden.

Die Eichen auf der Luzerner Allmend legen davon noch heute Zeugenschaft ab. Als das Bahnnetz der Schweiz von 1850 an rasch enger geknüpft wurde, brauchte es das Holz von unzähligen Eichenwäldern. Das harte Holz eignete sich bestens für die Bahnschwellen.

Kastanie ist nicht gleich Kastanie

Küchli schreibt auch, dass das Holz der Edelkastanien ganz ähnliche Eigenschaften besitzt wie die Eiche: Es ist hart und witterungsfest. Das spielt beispielsweise eine Rolle bei manchen Brandschutzvorschriften, die für den Dachstuhl vorschrieben, nur Eiche oder Kastanie zu verbauen. Nebenbei beweist die Härte des Holzes: Die Edelkastanien sind keine botanischen Verwandten der Rosskastanie.

Botanische Schautafel von anno 1885.
Botanische Schautafel von anno 1885. (Bild: Prof. Dr. Otto Wilhelm Thomé Flora von Deutschland, Österreich und der Schweiz 1885, Gera)

Der Baumhistoriker Küchli hat auch die Quellenlage für die Innerschweizer Kastanien recherchiert. Bereits 1378 weist das Zinsen- und Zehntverzeichnis von Weggis den Kastanienertrag aus. Und 1427 erwähnt eine Quelle um die Fischrechte auf der Horwer Halbinsel zum ersten Mal den Ortsnamen «Kestenbom», also das heutige Kastanienbaum. Der Horwer Künstler Marcel Huber hat sie als farbiges Wandbild an die Hauswand des Wasserforschungsinstituts Eawag in Kastanienbaum ins Bild gesetzt.

Die Entstehung Kastanienbaums

Da sind die zwei Italiener zu sehen, die der Legende nach einer Bäuerin die unbekannten stachligen Früchte schenkten, nachdem ihnen von der Frau für eine Nacht Obdach geboten wurde. Die Maronen wuchsen schliesslich zu stattlichen Bäumen heran und waren die Stammeltern von weiteren Bäumen. So wurde schliesslich der Weiler Kastanienbaum genannt.

Die Gemeinde Horw fühlt sich dieser Tradition verpflichtet und startete vor mehr als zehn Jahren zusammen mit der IG Pro Kastanien Zentralschweiz einen neuen Hain rund um den Krämerstein. Nach jahrzehntelangem Kahlschlag wird auch wieder in Vitznau, Weggis und Treppen aufgeforstet. Trotz Pilzkrankheiten wie der Kastanienrindenkrebs sind viele Forstleute überzeugt, dass die Edelkastanie in Zeiten der Klimakrise nördlich der Alpen eine neue Bedeutung zukommt.

Exportverbot für Weggiser Kastanien

Früher waren es vor allem die Hungerkrisen, welche die Pflanzung der Edelkastanien förderte. Der Brotbaum war für die Bevölkerung Tessins überlebenswichtig, um die kalten Winter zu überstehen. So hält ein 1778 erlassenes Dekret fest: «Wie wir alle wissen, war in der vor wenigen Jahren stattgehabten Hungersnot die Kastanie sozusagen das einzige geeignete Lebensmittel für unser Volk.» Deshalb werde das Fällen von Kastanienbäumen bei einer Busse von 100 Talern verboten. Was nun überrascht: Auch in der Stadt Luzern beschäftigten sich im Spätmittelalter die Magistraten (hoher Staatsfunktionär) mit der Edelkastanie. «Besonders in Krisenjahren untersagte etwa die Luzerner Obrigkeit, die Kastanien an den Bäumen auswärtigen Personen zu verkaufen», schreibt das Historische Lexikon der Schweiz.

Im Krisenjahr des Generalstreiks 1918, das auch geprägt war von Lebensmittelknappheit, berichtet dagegen das «Luzerner Tagblatt» im Oktober, dass bald wieder die Kastanien aus Weggis und Vitznau auf dem Luzerner Markt angeboten werden. Es ist eine Konstante: Immer wieder in Krisenzeiten erinnert man sich an die alte Kastanientradition. So taucht auch 1942 eine statistische Erfassung des Kantons auf, bei dem die Kastanienbäume von Weggis und Vitznau gezählt werden. Aber der Zweite Weltkrieg war indes ein Killer: Brennstoffmangel und die Nachfrage nach dem knappen Tannin für die Gerbereien, das reichlich vor allem in den alten Bäumen gespeichert war, führte zu einem Kahlschlag. Nun könnte die Klimakrise wieder eine Renaissance einleiten.

Verwendete Quellen
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Ob Hintergründe zu alten Gebäuden, Geschichten zu Plätzen, stadtbekannte Personen, bedeutende Ereignisse oder der Wandel von Stadtteilen – im «Damals»-Blog werden historische Veränderungen und Gegebenheiten thematisiert.
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