Junge Luzerner lesen kaum News – dem Kanton ist’s egal
Grüne-Kantonsrätin Rahel Estermann sorgt sich wegen des schwindenden Nachrichtenkonsums der Jugendlichen. Ihre Idee dagegen: Qualitäts-Journalismus zugänglicher machen. Bei der Regierung stosst sie auf taube Ohren.
Sieben Minuten. So lange lesen Schweizer Jugendliche täglich auf ihrem Handy Nachrichten. Also im Durchschnitt knapp genug für einen ausführlichen Artikel – oder zwei kürzere. Zu diesem Schluss kommen Zürcher Medienwissenschaftler, nachdem sie im Rahmen einer Studie des Forschungsinstituts Öffentlichkeit und Gesellschaft (Fög) das Handy-Verhalten von 309 Jugendlichen einen Monat lang getrackt haben. Überraschend dabei: Fast alle Teilnehmerinnen gaben an, sich oft oder sehr oft per Handy über aktuelle Themen zu informieren.
Offensichtlich tun sie das aber nicht über journalistische Medien. Denn wie die Forscher selbst anmerken, gehören Jugendliche überdurchschnittlich oft zu den sogenannten «News-Deprivierten». Damit sind Menschen gemeint, die kaum bis wenig Nachrichten konsumieren – und wenn, dann Gratis-Angebote oder via soziale Netzwerke. Auch zeichnen sie sich dadurch aus, dass sie sich nur bei gut einem Drittel der Abstimmungen beteiligen. 2019 haben die 16- bis 29-Jährigen gut 56 Prozent dieser Gruppe ausgemacht.
Jugendliche in Luzern sollen virtuellen Kiosk erhalten
Kein Wunder also beäugt Grüne-Kantonsrätin Rahel Estermann die wachsende Politik- und Nachrichtenverdrossenheit der Jungen kritisch. «Wenn sich über die Hälfte der jungen Menschen nicht mehr über Qualitätsangebote informiert, hat das Auswirkungen», so Estermann auf Anfrage. «Das wird uns als Luzerner Demokratie irgendwann auf die Füsse fallen.»
In einem entsprechenden Postulat beurteilt sie die Zunahme der «News-Deprivierten» als «demokratiepolitisch bedenklich», da eine funktionierende Demokratie eine solide informierte Bevölkerung benötige. Auch deren vermehrte Nutzung von Gratis-Plattformen beunruhigt die 35-Jährige. So gehe den Jüngeren das Bewusstsein verloren, dass guter Journalismus etwas koste.
«Müssen wir wirklich warten, bis weitere etablierte Medien eingehen oder sich vereinheitlichen?»
Rahel Estermann, Grüne-Kantonsrätin
Eine Lösung sieht sie im Ansatz des Kanton Waadt. Dieser fördert einen virtuellen Medienkiosk, der den unter 18-Jährigen die kostenpflichtigen Waadtländer Medienprodukte vergünstigt zur Verfügung stellt (zentralplus berichtete). Gleiches könnte sie sich für Luzern vorstellen, wie sie in einem Postulat mit Mitunterzeichnern der Grünen-, SP- und Mitte-Fraktion vorschlägt.
Für Regierung genügen bestehende Angebote
Wenig überraschend ist dabei die Antwort der Regierung: Sie empfiehlt das Postulat zur Ablehnung. Dabei wiederholt sie das Mantra von 2018 und 2020 zu ähnlichen politischen Vorstössen: Eine Förderung von Medienangeboten sei nicht nötig, schliesslich stünde im Kanton Luzern eine «breite und differenzierte Auswahl an politischer Berichterstattung zur Verfügung». Gleich hat die Regierung kürzlich auf einen Vorstoss über Möglichkeiten zur indirekten Medienförderung argumentiert (zentralplus berichtete).
Auch dass seither weitere unabhängige Zentralschweizer Medien wie «Radio Central» und «Radio Sunshine» unter die Fittiche eines Medienkonzerns flüchten mussten, trübt für sie diese Beurteilung nicht (zentralplus berichtete).
Auch in punkto Bildung sieht die Regierung keinen Handlungsbedarf. Die Medien- und Meinungsbildung der Jugendlichen sei Teil des Lehrplans 21. Somit bestünde bereits ein ausreichendes Gefäss, um die Medienkompetenz der Jugendlichen und den Stellenwert von qualitativem Journalismus zu stärken. Zudem stellt die Regierung infrage, inwiefern eine Vergünstigung von Qualitätsangeboten das Bewusstsein stärke, dass Qualität seinen Preis habe.
Zu guter Letzt sei es Aufgabe der Medienunternehmen, «zeitgemässe Informationsangebote für politisch Interessierte zu entwickeln.» Würde die Regierung kaum nachgefragte Angebote unterstützen, könnte dies innovationshemmend sein, so die Befürchtung.
Luzerner Medien als der kochende Frosch
Diese abwartende Haltung der Regierung enttäuscht die Grüne-Kantonsrätin. Der Kanton treibe das Problem vor sich her – während es sich gemächlich verschlimmere. Klar sei die Situation im Kanton Waadt mit dem Verlust der zwei grossen Zeitungen «Le Matin» und «L'Hebdo» eine andere. «Aber müssen wir wirklich warten, bis weitere etablierte Medien eingehen oder sich vereinheitlichen?», fragt die Digitalexpertin. Dieses schleichende Problem nicht früher anzugehen, sei wenig vorausschauend.
Die Zweifel der Regierung, ob ein vergünstigtes Angebot ein Kostenbewusstsein zu schaffen vermag, findet Estermann nicht zu Ende gedacht. «Den Wert einer qualitativen Berichterstattung sieht man erst, wenn man die Unterschiede vergleichen kann.» Damit Jugendliche diese unterschiedliche Qualität überhaupt sehen können, müsse ein Zugang geschaffen werden – etwa durch den vorgeschlagenen Kiosk. Sie vergleicht die Idee mit dem öffentlichen Verkehr: Dort versuche der Bund und die Regierung ebenso, mittels vergünstigten Angeboten Junge an den ÖV zu bringen.
Auch die Sorgen, dass sich eine Medienförderung innovationshemmend auswirken würde, entkräftet Rahel Estermann. Gerade die von der Regierung angesprochene vielfältige Printmedienlandschaft – etwa kleinere regionale Medien auf dem Land – hätten punkto digitales Angebot noch Luft nach oben. Beim virtuellen Kiosk bestünde eine Konkurrenz-Situation. Wollen die Medien dort gelesen werden, brauche es ein attraktives digitales Angebot, das mehr sei als eine PDF-Version der gedruckten Ausgabe.
Hat Medienförderung bei neuer Regierung mehr Erfolg?
Zu guter Letzt wäre der Kiosk auch eine gute Ergänzung zum angesprochenen Unterricht in Medien- und Meinungsbildung. So können sie aus erster Hand die Unterschiede von Gratis- und Bezahlmedien vergleichen. Die Erkenntnisse daraus liessen sich für weitere Bereiche verwenden. «Für einen Vortrag würden sich Berufsschüler am Kiosk die Angebote heraussuchen, die sie als qualitativ wertvoll erachten», stellt sie sich das Angebot vor.
Also genau das, was der Lehrplan 21 mit dem Lernziel «Medien und Medienbeiträge entschlüsseln, reflektieren und nutzen» vorsehen würde. Auch der Kanton Waadt arbeite in der Umsetzung des Kiosks mit den Schulen zusammen.
Allzu grosse Hoffnungen macht sich Rahel Estermann jedoch nicht. Bereits bei anderen Abstimmungen hat die Ratsmehrheit Vorstösse zur Medienförderung abgeschmettert. Sie kündigt jedoch bereits an: «Wir bleiben am Thema dran.»
Dabei richtet sie ihren Blick auf April, wenn eine grosse Rochade in der Regierung erwartet wird. «Vielleicht bietet der neue Wind im künftigen Regierungsrat mehr Chancen für solche Ideen?» Ideen, die auch die Medienforscher aus Zürich im Fazit als notwendig erachten: «Die Medienkompetenz an Schulen muss stärker gefördert und die demokratische Relevanz des
Journalismus besser vermittelt werden», wird Fög-Direktor Mark Eisenegger zitiert.
- Telefonat mit Rahel Estermann, Grüne-Kantonsrätin
- Stellungnahme der Regierung zum Postulat von Rahel Estermann
- Postulat von Rahel Estermann
- Jahrbuch Qualität der Medien (Ausgabe 2019)
- Jahrbuch Qualität der Medien (Ausgabe 2022)
- Medienmitteilung des Forschungszentrums Öffentlichkeit und Gesellschaft (Fög)
- Informationen vom Lehrplan 21 zum Modul Medien und Informatik