Urner ist mit 600 Schafen in Luzern unterwegs

Wanderhirte: «Die Schafe zähle ich, wenn ich nicht schlafen kann»

«Lustig ist es ja schon nicht immer – aber es ist ja trotzdem schön hier», meint Michael «Michi» Cadenazzi.

(Bild: ida)

Die Suche nach dem Gras bestimmt den Rhythmus seines Lebens: Michael Cadenazzis Lebenseinkommen sind seine Schafe. Vier Monate lang zieht er im Winter über die Felder Luzerns. Der Schäfer erzählt über das «Alleine-Sein» und die Berufung eines Wanderhirten sowie über die Bedeutung von Hund und Esel.

Auf der ständigen Suche nach Gras für seine 600 unersättlichen Tiere: Der 47-jährige Michael «Michi» Cadenazzi geht seit 27 Jahren seiner Berufung als Schafhirte nach. Seine Haut ist gebräunt, Furchen durchziehen sein Gesicht, das von einem wilden, ungezähmten Bart umgeben ist. Heuer zählt der Urner den 17. Winter, in dem er als Wanderhirte durch die Felder des luzernischen Mittellands zieht.

Wann es weitergeht, bestimmen zu einem grossen Teil die Vierbeiner. «Wenn es nicht mehr genügend Gras gibt, meckern die Schafe. Und wenn auch die beiden Esel Singra und Caroline weinend ihren Kommentar dazu abgeben, dann weiss ich, dass es Zeit ist, weiterzugehen», sagt Cadenazzi. Und während er spricht und seinen warmen Kaffee Schnaps geniesst, schweifen seine wachsamen Augen stets über die weidenden Schafe. Jede Bewegung der Schafe wird registriert. Immer wieder ruft er seinen Hunden auf Italienisch Befehle zu, um seine Herde im Zaum zu halten.

Michael Cadenazzi strahlt eine unglaubliche Ruhe aus. Sein Beruf als Schafhirte sei ein Knochenjob, den er jedoch nicht missen möchte. «Lustig ist es ja schon nicht immer – aber es ist ja trotzdem schön hier», so Cadenazzi. Er ist ein aufgestellter Mann, der viel und herzhaft lacht. Er scheint glücklich zu sein, während er in die Ferne blickt. Es sei die weite Natur und die Freiheit, die ihn an seinem Beruf so fasziniere. Und seine Augen leuchten, während er weitererzählt.

Sehnsucht nach Weite

Schafhirte zu sein bedeutet für Cadenazzi Beruf und Berufung in Einem. Man könne es lernen, doch müsse man mit viel Passion und Herzblut dabei sein. Schattenseiten gehören zu jedem Berufsbild dazu. Cadenazzi liebt die Natur – und er sehnt sich nach noch mehr Weite. Nach Feldern, die kein Ende in Sichtweite haben. Doch diese gäbe es im Luzerner Mittelland nicht.

Michael Cadenazzi spricht nüchtern über die Arbeit als Schafhirten. Für ihn spiele kein Gedanke an Romantik oder Meditation mit, durch die Felder zu ziehen – denn er bewege sich nicht auf dieser Welle. Auch er kennt Stress. Stress, wenn er mit seinen Schafen neben einer dicht befahrenen Strasse weide. Denn der grösste Feind des Schafes seien nicht etwa Wildtiere wie Luchs und Fuchs. Davon sei Cadenazzis Herde bis anhin verschont geblieben. «Bis jetzt habe ich Glück gehabt», meint er. Dennoch gibt es einen Feind: Es ist der Autofahrer, der mit hohem Tempo durch die Landschaft brettert, ohne Rücksicht auf die Tiere zu nehmen.

«Sie wissen, dass ich Gras für sie suche», sagt Cadenazzi über seine 600 Schafe.

«Sie wissen, dass ich Gras für sie suche», sagt Cadenazzi über seine 600 Schafe.

(Bild: ida)

Vier Monate auf Durchreise

Werde Michael Cadenazzi nervös, übertrage er dies auf seine Hunde und diese wiederum auf die Schafe. Es sei wichtig, Ruhe zu bewahren, erklärt der 47-Jährige. Sein Tag beginnt um sieben Uhr. Um acht Uhr morgens ist er bereits bei seinen Schafen, räumt die Netze ein und lädt diese auf seine beiden Esel Singra und Caroline. Die Suche nach dem Gras beginnt.

«Meine Schafe zähle ich nachts, wenn ich nicht schlafen kann.»

Michael Cadenazzi

Meistens ist er bis ins Dunkle unterwegs. Abends zäunt er seine Schafe ein und übernachtet in seinem umgebauten Wagen, in der Nähe der Schafe. Ob er morgens jeweils seine Schafe zählt? «Nein», meint Cadenazzi lachend. «Meine Schafe zähle ich nachts, wenn ich nicht schlafen kann.»

Der gebürtige Urner zieht jedes Jahr wieder über die Felder des luzernischen Seetals. Er beginnt seine Wanderschaft in Malters, läuft über den Littauer Berg bis nach Rothenburg, Sempach, Neudorf, Beromünster und sonnseitig nach Hildisrieden und über das Seetal zurück. Rund vier Monate dauert seine Suche nach dem Gras. In der Regel ist er von Mitte November bis Mitte März unterwegs. Dazu benötigt der Schäfer eine Wanderberechtigung, die vom Kanton erteilt wird.

Viele Freundschaften auf der Wanderschaft geknüpft

Ein Hirte arbeitet in der Natur – fernab der Zivilisation. Heisst das, ein Leben in der Isolation zu führen? Cadenazzi verneint. Er sei immer unterwegs, und durch all die Jahre habe er enge Freundschaften knüpfen können. Von einem Jungen, den er auf der Winterweide kennengelernt habe, sei er Götti geworden. Er habe jeden Tag Leute um sich. «Es ist schon ein wenig ein Privileg, das hat bestimmt nicht jeder Hirte.»

«Man muss als Wanderhirte viel entbehren. Aber man macht auch einen Haufen guter Bekanntschaften.»

Michael Cadenazzi

Seine Familie vermisse er täglich. Denn zu Hause warten seine Frau, seine Tochter und seine beiden Söhne auf ihn. Im Herbst, wenn er sich für die grosse Wanderung bereitmache, sei es besonders hart. «Man gewöhnt sich daran. Es ist jetzt nun mal so», meint der 47-Jährige mit etwas Wehmut in der Stimme. «Man muss als Wanderhirte viel entbehren, aber man macht auch einen Haufen guter Bekanntschaften.»

 

Caroline und Singra, die treuen Seelen an Cadenazzis Seite.

Caroline und Singra, die treuen Seelen an Cadenazzis Seite.

(Bild: ida)

Und auch diese Leute seien seine Familie. Zu den Bauern habe er einen engen Draht. Pius und Hedi, die er vor Jahren über einen anderen Schafhirten kennengelernt habe, besuchen ihn täglich. Sie bringen ihm Kaffee und Essen – und: Sie reden mit ihm über Gott und die Welt.

«Wenn ich selbst meinen Schafen hinterherrennen müsste, dann könnte ich ja glatt bei den Chippendales auftreten.»

Michael Cadenazzi

Zu seinen Tieren pflegt Cadenazzi eine enge Beziehung. Die drei Hunde Stella, Grillo und Zorro sind für den Schafhirten das Ein und Alles. «Ohne meine Hunde könnte ich einpacken und nach Hause gehen.» Dank den Hunden könne er seine Herde zurechtweisen. «Wenn ich selbst meinen Schafen hinterherrennen müsste, hätte ich einen Bodyindex namens ‹wahnsinnig›», sagt Cadenazzi lachend. «Dann könnte ich ja glatt bei den Chippendales auftreten.»

Die Hunde gehorchen ihrem Herrchen (zumeist) aufs Wort. Zu Hause geniessen jene Hunde, die ihn früher begleitet haben, ihren wohlverdienten Ruhestand.

Jedes Schaf hat seinen eigenen Charakter

Michael Cadenazzi lebt von seinen Schafen, denn sie sind seine Haupteinnahmequelle. Sie seien extreme Herdentiere und jedes Schaf habe seinen eigenen Charakter. Läuft man inmitten der weidenden Schafe, blicken einen neugierige Augen an. Andere suchen erschreckt das Weite. Sie seien dankbare Tiere: «Die Schafe wissen, dass ich für sie Gras suche», erklärt der Schäfer.

«Manchmal schätze ich an ihnen jedoch nicht sehr viel», meint er lachend. Ob Cadenazzi ein Lieblingsschaf unter seinen 600 Schafen habe? «Ja natürlich», meint er strahlend. Die 6-jährige Lina sei ein Schoppen-Lamm, das von Hand aufgezogen worden sei. Der Hirte könne keine sechs Meter laufen, ohne dass ihm Lina auf Schritt und Tritt folge. «Lina hat einen Sonderstatus.»

Und sobald die schwarz-weiss gescheckte Lina ihren Namen gehört hat, kommt sie angelaufen. Auffordernd streckt sie die Nase der fremden Besucherin entgegen und möchte flattiert werden. Am liebsten weidet Lina in der Nähe des Hirten. «Manchmal ist sie schon ein wenig gar aufdringlich», gibt Cadenazzi zu. Er sei auch schon mal in seinen Wagen gestiegen und Lina sei dem Auto nachgerannt. Und da Schafe Herdentiere sind, verfolgte ihn bald die ganze Schafherde.

Nach seinen Hunden müsse er schreien – doch Lina verfolge ihn stillschweigend und folge besser als so mancher Hund.

Cadenazzi mit seinem Lieblingsschaf Lina, das nie von seiner Seite weicht.

Cadenazzi mit seinem Lieblingsschaf Lina, das nie von seiner Seite weicht.

(Bild: ida)

Endstation Schlachthof

Die meisten der Schafe sind für die Fleischproduktion vorgesehen. Schmerzt es nicht, wenn Michael Cadenazzi die Tiere, mit denen er monatelang Tag für Tag unterwegs gewesen ist, verladen muss? Und er vor allem weiss, dass ihrem Leben auf dem Schlachthof nun ein Ende gesetzt wird? «Klar schmerzt es», gibt Cadenazzi zu. «Aber das ist der Lauf des Lebens.»

«Ich kann nicht ohne Fleisch.»

Michael Cadenazzi

Es gehöre zu seinem Beruf nun mal dazu. Und Cadenazzi isst gerne selbst ein Stück Fleisch. «Ich kann nicht ohne Fleisch.» Sogar das Fleisch der eigenen Schafe könne er problemlos speisen. «Ich weiss, dass die Tiere ein schönes Leben hatten», sagt er. Er weiss, wie die Tiere gehalten wurden. Wie sie im Freien umherziehen durften und einfach Schaf sein konnten. Doch «Linali» kommt ihm niemals auf den Teller. 

Weitere Einblicke in den Alltag von Michael Cadenazzi erhalten Sie in der Bildergalerie:

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