Ein Zuger Tausendsassa im Interview

«Es ist einfacher, über Sex zu reden als über den Glauben»

Der reformierte Pfarrer Andreas Haas interessiert sich nicht nur für die Kirche, sondern auch für Instagram und Handauflegen. (Bild: wia)

Der reformierte Zuger Pfarrer Andreas Haas hat sich jahrzehntelang in der Hospizarbeit engagiert. Nun ist es für den 61-Jährigen Zeit für etwas Neues. Auch Instagram spielt dabei eine Rolle.

Andreas Haas’ Lebenslauf ist aussergewöhnlich. Der reformierte Zuger Pfarrer befasst sich längst nicht nur mit Theologie, sondern auch mit Psychotherapie, Zen-Meditation, Handauflegen und Instagram. Über Jahrzehnte hat er sich zudem im Bereich Palliative Care und Sterbebegleitung engagiert. Nun hat der Wahlzuger sein Vorstandsamt beim Verein Hospiz Zug nach 23 Jahren abgegeben. Ebenfalls legte Haas das Stiftungsratspräsidium beim Hospiz Zentralschweiz ab. Während der neun Jahre im Stiftungsrat prägte er das Hospiz in Littau massgeblich mit.

zentralplus: Andreas Haas, Sie sind zwar weiterhin als reformierter Pfarrer in Zug tätig, haben aber neuerdings deutlich mehr Zeit. Warum haben Sie entschieden, Ihre beiden Palliativ-Ämter abzugeben?

Andreas Haas: Die Freiwilligenarbeit bei den beiden Hospizen wollte ich eigentlich abgeben, sobald ich 60 bin. Nun bin ich 61 Jahre alt. Es geht nicht darum, dass ich genug hätte von dieser Arbeit, sondern darum, dass ich mir das vorgängig vorgenommen hatte. Es handelte sich um sehr intensive Ämter. Nun ist mehr Raum für anderes.

zentralplus: Sie waren beim Aufbau und in den ersten Jahren des Betriebs des Hospizes Zentralschweiz massgeblich beteiligt. Woran denken Sie gerne zurück?

Haas: Gemeinsam mit anderen Menschen an einer Vision zu bauen, war eine starke Erfahrung. Wir wussten nicht, ob das Projekt zum Fliegen kommt. Klar war, dass, wenn wir scheitern würden, wir schön scheitern wollten. Das heisst: das Beste geben. Heute erleben Patienten und Angehörige das Hospiz als einen Ort fast wie zu Hause – oder gar schöner als zu Hause.

zentralplus: Die Atmosphäre in einem Hospiz ist grundsätzlich sehr wichtig. Sowohl Patientinnen wie auch Besucher und Mitarbeiter sollen sich wohlfühlen. Ausserdem sollen die Zimmer von Palliativ-Patientinnen nicht zu hell sein. Stimmt das?

Haas: Das stimmt. Es ist medizinisch erwiesen, dass sterbende Menschen Licht anders, greller, wahrnehmen. Auch ist es wichtig, dass die Decke in den Zimmern leicht strukturiert ist. Es handelt sich um die Fläche, die ein Sterbender am meisten im Blick hat. Ist die Decke nur flach, ist das für ihn irritierend. Eine Struktur schafft Halt.

zentralplus: Sie kennen das Hospiz nicht nur in Ihrer Rolle als Stiftungsratsmitglied und Mitgestalter, sondern haben auch einen persönlichen Bezug dazu.

Haas: Mein Bruder verstarb im vergangenen Oktober im Hospiz Zentralschweiz nach einer eher kurzen Krankheitsphase. Das war für mich eine sehr schwierige Zeit. Doch war es eine schöne Erfahrung, zu realisieren, dass unser Konzept im Hospiz funktioniert. Ich habe mich als Angehöriger sehr aufgehoben gefühlt, auch der Familie meines Bruders ging es so. Es ist ein Ort, an dem man einfach sein darf. Genau darum geht es bei der palliativen Hilfe. Die Gepflegten geben den Rhythmus vor. Auch habe ich dort gemerkt, wie wichtig es ist, jemanden zu haben, der wirklich zuhört.

«Es kommt durchaus vor, dass mir die Menschen in der Brotabteilung erzählen, was sie gerade bewegt.»

Andreas Haas, reformierter Zuger Pfarrer

zentralplus: Das Zuhören ist eigentlich Ihre Spezialität. Als Pfarrer sind Sie oft seelsorgerisch tätig. Nicht nur in der Kirche als solche.

Haas: Das stimmt. Die Kirche muss dort präsent sein, wo die Leute sind. Darum gehe ich jeden Tag einkaufen. Dies mit der bewussten Absicht, dass ich im Coop viele Leute treffe. Es kommt durchaus vor, dass mir die Menschen zwischen den Windeln oder in der Brotabteilung erzählen, was sie gerade bewegt. Wenn ich frage, wie es ihnen geht, werden oft ganz viele Geschichten an mich herangetragen. Dasselbe mache ich täglich auf meinem Morgenspaziergang in der Lorzenebene. Tatsächlich kommt es vor, dass Jogger ihren Lauf unterbrechen, um mit mir zu reden.

zentralplus: Was machen Sie an jenen Tagen, an denen Sie keine Lust auf Gespräche haben?

Haas: Natürlich kommt auch das vor. Dann gehe ich andernorts, zum Beispiel in Baar, einkaufen (er schmunzelt). Doch solche Stimmungen kann man ja auch signalisieren. Diesbezüglich habe ich letzthin eine schöne Geschichte erlebt.

zentralplus: Ja?

Haas: Nachdem mein Bruder verstorben war, ging ich einkaufen und war so gar nicht in der Stimmung, um zu reden. Jemand traf mich dort an und fragte mich, wie es mir gehe. Ich antwortete nicht, sondern fragte zurück, wie es der Person gehe. Die hat das gemerkt und noch einmal nachgehakt. Für einmal hat mir jemand im Coop aufmerksam zugehört. Als Trauernder hat man kein richtiges Zeitgefühl, doch ich vermute, dass das Gespräch 20 Minuten angedauert hat. Das hat mir wahnsinnig gutgetan. Dieses aufmerksame Zuhören ist so viel besser als all die frommen Sprüche.

zentralplus: Fromme Sprüche?

Haas: Wenn man mir als Trauerndem sagt, dass ich meinen Bruder ja wiedersehen werde nach dem Tod oder dass das Sterben zum Leben dazugehört, nützt mir das in dieser Situation gar nichts. Da ist es viel ehrlicher und hilfreicher, zu sagen, dass einem die Worte fehlen.

zentralplus: Interessanterweise verbindet man die frommen Sprüche ja eher mit Aussagen, die man von Pfarrern hört. Diese Angst vor einer herablassenden Behandlung ist womöglich auch ein Grund, warum viele die Kirche meiden.

Haas: Das Thema Religion sitzt bei vielen Menschen tief, das stimmt. Doch kenne ich kaum einen Pfarrer, der eine solche herablassende Frömmigkeit praktiziert. Als ich von den Initianten des Hospizes Zentralschweiz in meiner Rolle als Pfarrer angefragt wurde, ob ich mich des Themas Spiritual Care und Seelsorge als Stiftungsrat annehmen möchte, wurde mir sehr klar vermittelt, dass man jemanden sucht, der offen ist. Dazu gehört, dass ich meinen eigenen Hintergrund kenne.

zentralplus: Können Sie das ausführen?

Haas: Ich weiss, ich bin reformiert. Ich habe das reflektiert, kenne Vorteile und Nachteile, Schwächen und Stärken davon. Nur mit dieser Sicherheit kann ich Menschen anderer Religionen offen begegnen. Ich weiss, ich muss sie nicht belehren. Jeder kann seine eigene Auffassung haben. Bin ich hingegen unsicher und halte mich als reformierten Menschen etwa für besser, aktiviere ich damit meine eigenen Befürchtungen. Stattdessen geht es darum, zu merken, was mein Gegenüber in diesem Moment braucht.

zentralplus: Dass Sie ein offener Mensch sind, zeigt sich nicht zuletzt auch darin, mit welchen eher unkonventionellen Themen Sie sich auseinandersetzen. Mit Klangschalentherapie etwa, mit Handauflegen oder Zen-Meditation. Ecken Sie da als Pfarrer manchmal auch an?

Haas: Als ich vor 15 Jahren mit dem Handauflegen angefangen habe, gab es schon Leute, die das komisch fanden. Doch in Frage gestellt wurde ich nicht. Viele fanden das gut, und auch die Skeptiker trauten mir zu, dass ich damit nicht ganz daneben bin. Doch tatsächlich verhält es sich beim Handauflegen ähnlich wie mit meinem Instagram-Profil.

zentralplus: Sie führen seit einem Jahr das Instagram-Profil @spiritualrabbit1, auf dem Sie regelmässig ein Foto und einen Text posten, der zum Nachdenken und Sinnsuchen anregt.

Haas: Auf Instagram, also einem schnellen Medium, habe ich ein langsames Profil. Man kann nicht einfach ein Bild während 2,5 Sekunden anschauen. Man muss auch den zugehörigen Text lesen. Meine Posts brauchen also etwas mehr Zeit. Und hier schlage ich den Bogen zum Handauflegen. Die reformierte Kirche ist sehr stark geprägt vom Wort und nicht vom Bild. Abgesehen davon fehlt es der reformierten Kirche an Sinnlichkeit, an Körperlichkeit. Das Thema wird momentan sehr schnell auch mit den Missbrauchsskandalen in der Kirche in Verbindung gebracht. Doch es gibt auch eine positive Körperlichkeit. Es gibt Leute, die ich aus meiner Zeit als Seelsorger in der Psychiatrie kenne und die ich heute mittels Handauflegen begleite. Durch diese klare, unabsichtliche Berührung kann ich sie positiv unterstützen.

«Nicht zu müssen, ist leider zum Luxus geworden.»

zentralplus: Unabsichtliche Berührung? Wie meinen Sie das?

Haas: Handauflegen ist eine Art Meditation, deren Wurzeln in der Zen-Kontemplation gründen. Es geht darum, geschehen zu lassen. Es muss dabei nichts passieren, es kann aber. Die Berührung folgt einem klaren Ablauf, den man zuvor klar mit dem Gegenüber bespricht. Auch gibt es klare Regeln, etwa, dass man eine Person nicht im Intimbereich berührt. Ausserdem hat man immer die Möglichkeit, abzubrechen. Unabsichtlich meine ich im Sinne des Geschehenlassens, man geht bewusst ins Nichts. Das gilt für beide Parteien. Dieses Loslassen vom «Müssen» ist nicht für alle leicht.

zentralplus: Wie meinen Sie das?

Haas: Bei mir war eine Zeit lang ein Mann im Handauflegen, der sich stark in der Wirtschaftswelt bewegte. Als er das erste Mal bei mir war, teilte ich ihm mit, dass nichts passieren muss und dass er auch nichts spüren muss. Nach etwa sechs Monaten, in denen er mehrmals wiedergekommen war, verriet er mir, dass er Mühe gehabt habe mit dieser anfänglichen Aussage. «Wenn nichts passieren muss, kann ich ja gerade so gut wieder gehen», hatte er sich damals gedacht. Dieses Loslassen vom Müssen kannte er in seinem Alltag nicht. Das geht vielen Menschen so. Nicht zu müssen, ist leider zum Luxus geworden. Oft geht es den Menschen darum, sich zu optimieren. Grundsätzlich widerspricht die Idee der Optimierung jedoch der Meditation.

zentralplus: Noch einmal zurück zu Ihrem Instagram-Account. Diesen führen Sie seit einem Jahr, und bereits haben Sie über 1000 Follower. Man kann das als Erfolg werten.

Haas: Ich war tatsächlich anfangs nicht sicher, ob das funktionieren wird. Doch es funktioniert. Bemerkenswert ist Folgendes: Ich erhalte viele Direktnachrichten, in denen es oft um die Sinnsuche geht und Leute ihre persönlichen Geschichten teilen. Nur wenige kommentieren jedoch direkt unter den Bildern, für andere sichtbar. Es scheint, als zeige man nicht gerne, dass man sich für das Thema Religion interessiert.

zentralplus: Ist es zum Tabu geworden, religiöse Gefühle zu haben?

Haas: Ich glaube, ja. Über Sex zu reden, ist heute einfacher, als über den Glauben zu sprechen. Dennoch merke ich, dass eine grosse Sehnsucht und ein grosses Interesse daran existiert.

zentralplus: Im Zusammenhang mit der Aufgabe ihrer Hospizarbeit haben Sie geschrieben, dass Sie noch nicht genau wüssten, was Sie mit der gewonnenen Zeit machen werden. Doch schrieben Sie: «Ich lasse den kreativen Prozess – oder den Heiligen Geist – wirken.» Hat der Heilige Geist zwischenzeitlich gewirkt?

Haas: Er wirkt noch. Ich habe ja kürzlich ein CAS in Creationship absolviert und besuche jetzt regelmässig ein Kreativ-Coaching bei der Co-Leiterin des Lehrgangs. Dabei geht es darum, herauszufinden, wie ich die letzten Jahre im Beruf, aber auch die Zeit nach dem Berufsleben gestalten möchte. Das ganz ohne Druck. Im Zuge dessen bin ich gerade daran, ein Mobile zu bauen mit Naturmaterialien. Das ist sehr spannend. Und eigentlich steht dieses sinnbildlich sehr schön für das, worum es geht: Balance zu finden, während man gleichzeitig beweglich bleibt.

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1 Kommentar
  • Profilfoto von Hegard
    Hegard, 11.04.2024, 12:54 Uhr

    Eigentlich logisch, denn Sex spürt man, am Glauben ist nur der Glauben daran, um Wünsche zu erfüllen. Das Einfachste jemand anderen die Verantwortung zuzuschieben.
    Ich habe in den Jahren gelernt, Geduld zu haben, und vielfach hat das geholfen. Man ist selbstverantwortlich, sein Leben zu gestalten / leben. Ich jedenfals brauche keine Anleitung von einem Buch/ Guru, wie ich zu leben habe! Ich jedenfalls habe festgestellt, dass ich solidarischer oder sozialer mit Menschen, Tieren und der Natur umgehe, als mancher Christ oder anderer Sekte.

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