Spiritualität in Luzern

Häxelädeli und Tarot: Warum spirituelle Angebote boomen

Nadja Bösch legt seit über 30 Jahren Karten. (Bild: ida)

Krise, Kaufkraft, Krieg: 2023 schlug aufs Gemüt. In unsicheren Zeiten suchen Menschen Halt in spirituellen Angeboten. Ein Rundgang durch Luzern.

Ein Gemälde ziert die Wand des sonst schlicht gehaltenen Zimmers. Darauf zu sehen: das Meer, der Strand und zwei Menschen in weissen Gewändern. Es ist ein Blick aus der Vogelperspektive. Rechts stehen zwei Sessel aus rotem Leder, links zwei Stühle um einen grösseren Glastisch. Auf dem violetten Tuch mit Halbmonden und Sternen liegen 78 Karten. Es sind Tarotkarten.

Nadja Bösch sitzt auf dem Stuhl davor und zieht Karte für Karte aus dem Stapel. Aufgedeckt legt sie diese auf den Tisch. «Ich mag die Crowley-Tarotkarten sehr gerne, weil sie eine grosse Symbolik haben.»

Die Liebenden

Auf der Karte der Liebenden sehen wir einen schwarzen König mit goldener Krone und rotem Löwen und eine weisse Königin mit silberner Krone und weissem Adler. Sie reichen sich je eine Hand, in der anderen halten sie Speer und Kelch. Unter ihnen stehen sich zwei Kinder gegenüber – ebenfalls schwarz und weiss. Auch ein Ei ist zu sehen, um das sich eine Schlange wickelt. Wer jedes noch so kleine Detail erkennen möchte, muss die Karte einige Zeit anschauen.

Die Liebenden: wohl eine der schönsten Tarotkarten, wenn es um Beziehungsfragen geht. (Bild: ida)

«Die Liebenden symbolisieren die Vereinigung von Gegensätzen», sagt Bösch. Ob sie eine Lieblingskarte hat? Da ist die Sonne, die für pure Lebenskraft steht, doch auch den Narren oder das Universum mag sie. «Es ist nicht so, dass ich eine Karte nicht mag. Denn jede Karte kann sowohl positiv als auch negativ gedeutet werden.»

Nadja Bösch legt seit über drei Jahrzehnten die Karten

Bösch legt seit über 30 Jahren Karten. Auch in der Praxis Sunnenweg, in der wir uns befinden. Hier, in der Frauenakademie am Luzerner Hirschengraben, werden Frauen stark gemacht (zentralplus berichtete). Sie selbst arbeitet als Coach und Systemaufstellerin. Dabei möchte sie Menschen unterstützen, ihren Weg zu finden.

Ursprünglich lernte Bösch den Beruf der medizinischen Praxisassistentin. Sie arbeitete im Spital, in verschiedenen Laboren, bis sie sich zur Migrationsfachfrau ausbilden liess. Währenddessen kamen zahlreiche Aus- und Weiterbildungen in den Bereichen Psychologie, Coaching, Familienaufstellung, Meditation und Tarotberatung hinzu.

Wie fand sie den Weg zu den Karten? «Das war kein Plan», sagt Bösch und lacht. Wohl aber eine Berufung. Schon als Kind habe sie mit ihrer Mutter einen Esoterikladen in der Ostschweiz, wo sie aufgewachsen ist, besucht. Als sie ein russisches Tarotset gesehen hat, sei sie total fasziniert gewesen. Mit dem Taschengeld kaufte sie es. Wirklich verstanden, was diese Karten bedeuteten, hat sie nicht. Deswegen legte sie sich ein Buch zu und legte der Mutter das erste Mal die Karten. Da war sie ein Teenager. «Es interessierte mich schon immer, was den Menschen bewegt und warum er auf der Welt ist. Und ob es noch mehr gibt als das, was wir sehen.» Antworten fand sie in der Spiritualität.

Schicksalsschläge treiben Menschen in die Spiritualität

Wie so viele andere. Esoterische und spirituelle Angebote scheinen insbesondere seit Corona zu boomen. Menschen suchen – gerade in Zeiten, die von Krisen und Unsicherheiten geprägt sind – Halt. Das bestätigt auch Bösch. «In den letzten Jahrzehnten wurden Themen wie Coaching, Mentaltraining oder auch spirituelle Angebote in der Gesellschaft fest integriert.»

«Es sind oft Schicksalsschläge, die Menschen in die Spiritualität führt. Alles, was die Menschen aus den Fugen bringt.»

Nadja Bösch

Das Interesse an esoterischen und spirituellen Angeboten sei jedoch schon immer gross gewesen. Die Themen würden sich aber verändern. «Derzeit beschäftigt die Jobsituation viele. Sei es eine Kündigung oder negative Umgangsformen mit den Mitarbeitenden», sagt Bösch. Sie berate querbeet von der Geschäftsfrau bis zum Hausmann, vom Sozialhilfeempfänger bis zur Millionärin alle. Ängste würden bei vielen mitschwingen. «Und natürlich der Dauerbrenner: Liebe und Beziehungen.»

Eins blieb jedoch immer gleich: «Es sind oft Schicksalsschläge, die Menschen in die Spiritualität führen. Alles, was die Menschen aus den Fugen bringt, wie ein Jobverlust, eine Krankheit, ein Todesfall oder ein abruptes Beziehungsende.»

Die Zwischenwelt: Luzerns «Häxelädeli»

Ein paar Häuser weiter, im Luzerner Bruchquartier, führt Wilhelm Haas seit über 20 Jahren sein «Häxelädeli», die Zwischenwelt. Haas öffnet die Tür, im Innern liegt der Duft von Orangen und Zimt in der Luft. Der Luzerner bezeichnet sich selbst als «überzeugte, progressive und freie Hexe» (zentralplus berichtete). In der Zwischenwelt gibts Räuchermischungen zu kaufen, Amulette, Honigwein – und Orakeldecks. Wilhelm Haas – oder «Dreamdancer», wie er sich auch nennt – legt auch Karten.

Wilhelm Haas führt seit 2001 den Hexenladen «Zwischenwelt» an der Bruchstrasse in Luzern. (Bild: ida)

Seit Corona sehnen sich Menschen nach mehr Unterstützung

«In den letzten 20 Jahren wurden die Menschen immer offener», sagt Haas. Es sei zwar oft abhängig von den Medien, ob etwas gerade im Trend sei oder nicht. So habe es vor 20 Jahren einen Wicca-Boom gegeben, später wuchs das Interesse an Schamanismus und auch Yoga.

«Ich habe in den letzten 20 Jahren noch nie so viele Tarotkarten verkauft wie im 2023.»

Wilhelm Haas

«Seit Corona spüre ich, dass sich Menschen wieder mehr Beratung und Unterstützung wünschen», sagt Haas, als wir es uns im hinteren Raum seines Ladens gemütlich machen. Auffällig sei, dass sich besonders viele für ein eigenes Tarotset interessieren. «Ich habe in den letzten 20 Jahren noch nie so viele Tarotkarten verkauft wie im 2023. Menschen suchen vermehrt Sicherheit und wollen erfahren, wie sich Dinge entwickeln. Obwohl Tarot eigentlich ein Instrument zur Selbstentwicklung ist und dafür, die Zukunft selbst zu gestalten.»

Ein Blick in die Karten, Zukunft voraussagen?

Denn das betonen beide: Kartenleger können und sollen das Denken und Handeln derjenigen, die sich die Karten bei ihnen legen, nicht abnehmen.

Haas ist kein Fan davon, mit den Karten die Zukunft vorauszusagen. Zwar gebe es so etwas wie eine «grösstmögliche Wahrscheinlichkeit». Er greift oft auf Orakelkarten mit Göttinnen zurück. Diese könnten Impulse geben und Ratschläge, die man annehmen kann oder nicht. Orakelkarten würden zur Selbstentwicklung dienen. «Das erfordert viel Arbeit an sich selbst und an den eigenen Denkmustern.»

Genauso würden die beiden Grenzen ziehen und jemanden an eine Ärztin oder einen Psychologen verweisen, wenn beim Gegenüber gesundheitliche oder psychische Probleme vorliegen würden. Haas, der Wicca-Traditionen lebt, findet es wichtig, moderne Technologien und den «Zeitgeist» miteinzubeziehen.

Chancen als auch Risiken

Dass die Menschen nun vermehrt Halt suchen in Spiritualität, birgt Chancen, aber auch Risiken. «Teil einer Gemeinschaft zu werden, kann für einen selbst den Ort eines sicheren Hafens einnehmen», sagt Bösch. «Problematisch finde ich es dann, wenn man in Bubbles lebt, nur die Meinung innerhalb der Gemeinschaft die einzig wahre ist und die anderen ausserhalb dieser Blase zum Feindbild werden. Wenn man nicht bereit ist, mit den anderen zu kommunizieren, so schürt das nur neue Konflikte.»

Spiritualität bedeutet für sie das «Auseinandersetzen mit sich selbst» und dabei in der Tiefe zu graben. Haas stimmt ihr zu. Spiritualität solle nicht nur als Überzug gegen aussen dienen, sondern erforderte Arbeit an sich selbst. «Und darum, herauszufinden, warum Dinge und Emotionen so sind, wie sie sind.» Es gehe aber auch darum, sich als Teil vom grossen Ganzen zu verstehen, seinen Platz in der Natur einzunehmen und nicht nur auf sich selbst zu achten.

Spiritualität – und Menschsein

Mit dem Begriff «esoterisch» können beide nicht viel anfangen. Das Wort «Esoterik» kommt aus dem Altgriechischen und bedeutet so viel wie «dem inneren Bereich zugehörig». Ursprünglich handelte es sich um eine philosophische Lehre, die nur einem eingeweihten Personenkreis zugänglich war. Der Begriff weitete sich schliesslich zur Bezeichnung für «geheimes oder verborgenes Wissen» aus. Im allgemeinen Sprachgebraucht bezeichnet man oft Weltanschauungen und Gruppen abwertend als esoterisch, die sich auf wissenschaftlich unplausible oder widerlegte Theorien berufen. Laut Haas würden heute viele Dinge unter dem Begriff Esoterik laufen und verkauft werden, die im Kern nicht wirklich damit zu tun hätten.

Zwar ist der Laden von Wilhelm Haas im Telefonbuch unter «Esoterik» gelistet. «Als Hexenladen kann ich mich leider nicht listen lassen», sagt er und lacht. Er selbst ist Anhänger der Naturreligion Wicca und praktiziere spirituelle Praktiken. «In erster Linie bezeichne ich mich aber schlicht als Mensch wie jeder andere», sagt Haas. Bösch pflichtet ihm bei. «Jeder, der hier einen Fuss hineinsetzte, denkt, dass ich ganz normal bin.» So ist sie auch überzeugt, dass jeder Zugang zur Spiritualität hat, wenn er oder sie dies möchte, beziehungsweise diesen «freilegen möchte». Mit «Hokuspokus» hat das nichts zu tun.

Verwendete Quellen
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3 Kommentare
  • Profilfoto von LeaGruntz
    LeaGruntz, 02.01.2024, 11:57 Uhr

    Alles gut solange es die Krankenkasse nicht bezahlt.

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    • Profilfoto von Nicolas
      Nicolas, 02.01.2024, 17:55 Uhr

      Die Krankenkasse bezahlt so Vieles, was reines Placebo ist, etwa Homöopathie oder Akupunktur. Und das ist womöglich durchaus richtig, weil es eben trotz aller Kritik einen Placeboeffekt gibt.

      Tarotkarten können durchaus neue Wege aufzeigen, weil sie zum Denken anregen. Wer sowas natürlich nutzt, um anderen die Zukunft vorherzusagen, spielt mit der «esoterischen Verblödung» dieser Leute, aber auch das nicht unbedingt. Man kann damit Leute, die an sowas glauben, eben in eine Richtung lenken, die für sie positiv ist. Wenn jemandem gesagt wird, er finde im nächsten Jahr die Liebe des Lebens, dann ändert das etwas im Menschen, der für sowas empfänglich ist.

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  • Profilfoto von Marie-Françoise Arouet
    Marie-Françoise Arouet, 02.01.2024, 09:34 Uhr

    Hokuspokus und Spititualität sind nicht deckungsgleich.

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