Zu Besuch in der «Zwischenwelt»

Warum wir alle ein wenig Hexe sind

Wilhelm Haas führt seit mehr als 20 Jahren den Hexenladen «Zwischenwelt» in Luzern. (Bild: ida)

Wilhelm Haas führt im Luzerner Bruchquartier den Hexenladen «Zwischenwelt». Wir haben ihn gefragt, was eine Hexe im 21. Jahrhundert ausmacht – und wie er selbst den Weg zur religiösen Bewegung Wicca fand.

Ein Duft von Zitronengras und verschiedensten Räucherstäbchen liegt in der Luft, als wir den Fuss in die «Zwischenwelt» im Luzerner Bruchquartier setzen. Viele Luzerner sind wohl schon unzählige Male an diesem kleinen Laden vorbeigegangen. So mancher dürfte sich nicht reintrauen. Wir schon.

Leise, sphärische Klänge umgeben uns. Neben verschiedenen Göttinnenfiguren, Orakel- und Tarotkarten, Talismanen, Räucherwerken und -Mischungen steht Wilhelm Haas vor uns. Mit einem breiten Lächeln begrüsst er uns, führt uns ins Hinterzimmer.

Wilhelm Haas ist eine «überzeugte, progressive und freie Hexe»

Haas ist in die Wicca-Tradition eingeweiht, bezeichnet sich aber selbst inzwischen als «überzeugte, progressive und freie Hexe». Seit 2001 führt er den Hexenladen «Zwischenwelt». Damals eröffnete er seinen Laden in der Altstadt, 2004 zügelte er nach einem kurzen Abstecher aufs Land ins Luzerner Bruchquartier (zentralplus berichtete).

Was macht ihn denn als Hexe aus? Haas lacht. «Meine Spiritualität und das Hexensein ist in meinem Leben so tief verankert, dass es nichts ist, was auffällig wäre.» Wir stimmen ihm zu. Haas trägt T-Shirt und Jeans. Einzig seine stahlblauen Augen sind zugegebenermassen fesselnd. Aber nicht so sehr, dass man sich unwohl fühlen würde. Ganz im Gegenteil.

Als Hexe zwischen den Welten wandern

«Eine Hexe ist jemand, der oder die zwischen Welten vermittelt», erzählt Wilhelm Haas. Jemand, der sich quasi zwischen den Realitäten bewegt. Was gibt’s denn für Welten? «Puuh», sagt der 56-Jährige. «Das ist natürlich ein langes Thema.» Und er fährt fort: «Zum einen gibt es die uns bekannte kollektive Realität, in der wir uns befinden. Und dann gibt’s viele andere Realitäten sowie ein allumfassendes Feld jenseits des uns bekannten Raum/Zeit-Kontinuums. Unsere Vorfahren sagten Anderswelt dazu. Oder ‹nicht alltägliche Wirklichkeit›. Die unter diesem Begriff ein breites Spektrum von der Fantasie bis zur Quantenphysik abdeckt.»

Für Haas war schon immer klar, dass es diese «anderen Realitäten» gibt. Als Kind traf er auf plastische Figuren und auch Schattenwesen. Haas spricht von «Besuchern und Begleiterinnen», die ihm in seiner Kindheit zur Seite gestanden sind. «Für mich war klar: Ich habe Freunde, die für andere nicht real sind.» Während der Schule sei er auch mal in Trance gefallen. Oder später als Jugendlicher hat er «bewusst begonnen zu experimentieren» und ausserkörperliche Erfahrungen gemacht. Sah sich beispielsweise selber von oben, wie er in seinem Bett lag.

Die Suche nach sich selbst

Hat ihm das nicht Angst gemacht? Haas verneint. «Als Kind überhaupt nicht. Für mich war das etwas Normales.» Später bei seinen Experimenten habe er dann doch mal ein wenig Angst gekriegt. «Als ich mich bei meiner ersten bewussten ausserkörperlichen Erfahrung selbst im Bett habe liegen sehen, bin ich so erschrocken, dass ich gleich zurück war.» Minutenlang habe er sich nicht bewegen können. Ein paar Wochen später habe er wieder «Besuch» von einem Wesen gekriegt. «Ich hatte das Gefühl, es wollte mich aus meinem Körper ziehen.» Vermutlich habe das Wesen gar nichts Negatives gewollt, sagt Haas heute. «Aber mir machte dies im Moment Angst, denn damit hatte ich keine Erfahrung.» Heute ist die Angst jedoch verflogen. Denn die positiven Erfahrungen würden klar überwiegen.

Einfach war es für ihn trotzdem nicht immer. Aufgewachsen ist Haas im katholischen Wien. Die Kirche habe er damals geliebt. Nicht wirklich, was der Priester darin gepredigt hat. Aber das Magische, das Heilige, das habe ihn fasziniert. Deswegen wollte er auch lange Zeit Priester werden. Verständnis für seine Erfahrungen mit der Anderswelt zeigte die Kirche damals nicht. Eine katholische Jugendgruppe wollte ihm damals gar verbieten, auf diese Wesen zu hören. Das seien «Dämonen», meinten deren Mitglieder. Das habe ihn irritiert, sagt Haas nun. Allgemein haderte er ein wenig mit seiner Selbstfindung. Weil er auch spürte, dass es mit ihm sexuell in eine andere Richtung ging.

Wicca: Tradition und Zeitgeist

«Heute bin ich Priester – aber auf einer anderen Ebene», sagt Haas. Er ist nämlich Wicca-Priester. Wicca ist eine Naturreligion, auf deren Grundsätze sich Haas heute noch beruft, auch wenn er der Priesterschaft mittlerweile nicht mehr viel Bedeutung schenke. «Die Wicca-Tradition lebe ich, in ihr bin ich verwurzelt, sie bestimmt meine Praxis und stellt mir mein Fundament. Als progressiver Wicca klammere ich mich in meinem Denken aber nicht nur an die Tradition und die Vergangenheit – sondern beziehe eben auch den Zeitgeist und moderne Technologien mit ein. Und das ist auch ganz im Sinne vieler Wicca-Traditionen.»

«Schliesslich sind auch unsere Götter und Göttinnen nicht stehen geblieben.»

So ist Haas auch nicht der Schulmedizin abgeneigt. Ganz im Gegenteil. «Regelmässig Psychohygiene zu betreiben ist wichtig.» Auch er selbst hat Sitzungen bei einem Therapeuten. Wegen Depressionen, die ihn schon von klein auf begleiten und wegen seines ADHS. «Für mich bedeutet Zwischenwelt eben auch, mit der Zeit von heute zu gehen», sagt Haas. «Schliesslich sind auch unsere Götter und Göttinnen nicht stehen geblieben.»

Haas hat Dutzende Tarot-Decks

Haas lacht, lässt seinen Blick durch den Raum schweifen. An der Wand hängt ein grosses Bild eines mystisch aussehenden Waldes. In der Ecke steht ein kleiner Altar. Auch zu Hause hat er einen solchen stehen. Viel braucht es dazu nicht. Einen kleinen Tisch, ein Brett – Hauptsache, man schmücke ihn so, dass es sich nach einem Kraftort anfühle. Und diesen schön anrichte. Mit Blumen, Kerzen oder auch nur einem Bild.

Zu Hause habe er bei seinem Altar über 50 verschiedene Tarot- und Orakeldecks. Jeden Tag zieht er eine Karte, wie Haas erzählt. «Nicht, um herauszufinden, was passiert. Sondern eher, auf was ich an diesem Tag achten muss.» Gerade als emotionalem und sensiblem Menschen helfe es ihm oft, sich ein wenig zurückzuhalten, bedachter mit gewissen Situationen umzugehen. Mehr vorher nachzudenken, anstatt impulsiv zu handeln.

«Die Arbeit mit den Karten und Runen – nordische Schriftzeichen – sind für meinen Alltag ein wichtiger Bestandteil, um die Informationen herüberzuholen», so Haas. Sein Gesicht, das zuvor in rotes Licht eingetaucht war, ist nun von einem grünen Schimmer durchzogen, durch die Lampe mit wechselnden Farben im Hintergrund. Haas sagt nun: «Doch versteh mich nicht falsch: Der Kontakt zur Anderswelt ist nie weg.»

1998 hörte er das erste Mal von der Wicca-Naturreligion

Das erste Mal auf die Wicca-Naturreligion ist Haas 1998 gestossen, als er mit seinem heutigen Mann nach Florida gezogen ist. Über eine TV-Talkshow erfuhr er von Wicca. «Da wusste ich: Das ist mein Weg.» Bereits als er in seinen späten Jugendjahren einen Fantasy-Roman gelesen hatte, spürte Haas eine Verbundenheit zu dieser Anderswelt. Auch wenn diese im Buch «Die Nebel von Avalon» fiktiv beschrieben ist. Darin geht es um eine heilige Insel der keltischen Priesterinnen.

«Mein ganzes Leben lang habe ich nach Erklärungen gesucht, wurde nicht ernst genommen.»

«Es klingt sehr klischiert. Doch es war für mich wie Heimkommen. Alles, was ich von klein auf erlebt und gefühlt habe, ergab plötzlich einen Sinn», erzählt Haas. Es sei wie eine Schublade gewesen, in die plötzlich all die gemachten Erfahrungen hineinpassten. «Mein ganzes Leben lang habe ich nach Erklärungen gesucht, wurde nicht ernst genommen.» Und durch Wicca fand er viele Antworten.

Tiere reagieren, wo Haas Wesen sieht

Dass Haas nicht «verrückt» ist, beweisen ihm immer wieder gewisse Erlebnisse. Wie unter anderem damals, als er an einem regnerischen Tag im Wald «Wesen hinter einem Baum verschwinden sah». Wesen, die für Haas wie ein Feenvolk ausgesehen haben. «Der Hund meiner Kollegin ist an just diese Stelle und hat gebellt. Und auch einen Tag später ist er wieder an dieselbe Stelle», erzählt Haas.

Oder seine inzwischen verstorbenen Katzen – oder «ins Sommerland gereiste Katzen», wie Haas sagt. Sie hätten diesen Besuch aus der Anderswelt immer wahrgenommen. Und versuchten gar, mit diesem zu interagieren. Oder aber fauchten, wenn es etwas nicht so «Nettes» gewesen sei. «Solche Momente sind einfach wahnsinnig. Diese und andere Erlebnisse, auch in der Ritual- und Covenarbeit sind für mich der Beweis, dass nicht alles zwischen meinen Ohren stattfindet.»

Warum jeder von uns das Zeug zur Hexe hat

Haas legt in seinem Laden im Bruchquartier auch Karten für andere. Viele kommen wegen Beziehungsangelegenheiten, beruflichen Herausforderungen oder weil sie nach einem Sinn suchen. «Ich bin aber kein Freund davon, die Zukunft vorherzusagen», stellt Haas klar. Für den gebürtigen Wiener gibt es zwar für ein Ereignis so etwas wie eine «grösstmögliche Wahrscheinlichkeit». «Doch für mich gibt es nicht die eine Zukunft, die in Stein gemeisselt ist. Denn jeder und jede hat die Möglichkeit, etwas zu verändern.» Dabei möchte Haas den Menschen auch helfen. Ihnen helfen, sich und ihren Gefühlen und Fähigkeiten mehr zu vertrauen. Sowie den Kontakt zur Natur im Innen und Aussen bewusster wahrzunehmen und zu leben.

«Die Eigenschaft, die aus meiner Sicht eine Hexe ausmacht, auf dem Zaun zwischen den Welten zu reiten, das ist in jedem Menschen drin.»

Seit 2003 führt Haas auch das Crafting – die Hexenschule. Hat denn jede und jeder das Zeug zur Hexe? Haas überlegt nicht lange. «Ich denke: Ja. Wir alle bewegen uns ständig zwischen den Welten. Sei das mit intensivem Träumen oder weil wir in Trance fallen – eine Fähigkeit, die allen mitgegeben wurde.» All das seien Besuche in die Anderswelt, so Haas. «Die Eigenschaft, die aus meiner Sicht eine Hexe ausmacht, auf dem Zaun zwischen den Welten zu reiten, das ist in jedem Menschen drin. Eine Hexe sein kann also jede und jeder, der oder die bewusst zwischen den Welten vermittelt.» Um eine Tradition oder Praxis zu erlernen und vor allem um die notwendige Selbstkenntnis zu erlangen, dafür brauche es dann aber schon ein wenig mehr.

Haas steht von seinem Stuhl auf, um die Tür seines Hexenladens zu öffnen. Eigentlich hätten wir noch stundenlang weiterplaudern und in diese Anderswelt eintauchen können. Doch die erste Kundin wartet. Und wir setzen unseren Fuss von der «Zwischenwelt» in die «kollektive Realität», wie Haas sagen würde.

Verwendete Quellen
  • Augenschein vor Ort
  • Persönliches Gespräch mit Wilhelm Haas
  • Website von Zwischenwelt
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