Mehr Mitspracherecht über Wohnsituation

Gesetz verbessert das Leben von Menschen mit Behinderung

Sowohl Regierungsrat Andreas Hostettler (l.) als auch Jahn Graf halten das neue Gesetz über die Leistungen für Menschen mit Behinderung für gelungen. (Bild: wia)

Per sofort ist es für mehr Menschen mit Behinderung in Zug möglich, zuhause zu leben. Ein neues Gesetz erlaubt Betroffenen, stärker selbst über ihr Leben zu bestimmen. Was sich genau für wen ändert, erklären ein Regierungsrat und ein Betroffener im Interview.

Vor wenigen Wochen trat im Kanton Zug ein neues Gesetz in Kraft, nämlich jenes über die Leistungen für Personen mit Behinderung und Betreuungsbedarf (LBBG). Im Zuge dessen wurde unter anderem eine Koordinationsstelle für die Behindertengleichstellung geschaffen sowie ein Massnahmenplan der Zuger Regierung ins Leben gerufen.

Einer der wichtigsten Aspekte des Gesetzes ist jener, dass Menschen mit Beeinträchtigungen nun stärker bestimmen können, wie sie ihre Lebenssituation gestalten möchten. Mitbestimmen konnten sie auch bei der Erarbeitung des Gesetzes. Dies wiederum bezeichnet der verantwortliche Regierungsrat Andreas Hostettler als eine der wichtigen Erkenntnisse der letzten Jahre: «Früher wurde über Menschen mit Behinderung bestimmt. Heute mit ihnen zusammen.»

Um zu erfahren, was es mit dem neuen Gesetz auf sich hat und was die Änderungen für Betroffene bedeutet, hat zentralplus das Gespräch mit dem zuständigen Regierungsrat Andreas Hostettler sowie Jahn Graf gesucht, der selber im Rollstuhl sitzt und bei der Erarbeitung des Gesetzes als Mitglied der Begleitgruppe daran beteiligt war.

zentralplus: Herr Hostettler, das LBBG, das über die letzten Jahre erarbeitet wurde, löst das bisherige Gesetz über soziale Einrichtungen ab. Weshalb hat es diese Anpassung gebraucht?

Andreas Hostettler: Bisher war das Gesetz darauf ausgelegt, dass eine Person mit einer Behinderung, wenn sie nicht ohne Hilfe zuhause wohnen konnte, in einer Institution lebte. Mit dem LBBG erhalten Betroffene nun eine Wahlfreiheit, dies jedenfalls bis zu einem gewissen Grad. Mittels einer Bedarfsabklärung kann eruiert werden, welche individuell benötigten Angebote sie in Anspruch nehmen können. So besteht für einige vielleicht die Möglichkeit, in eine WG zu ziehen, andere können allein oder mit ihren Partnern leben, wenn sie täglich zwei Stunden Unterstützung erhalten.

«Ambulant vor stationär war nie die Devise, sondern vielmehr ambulant und stationär.»

Andreas Hostettler, Zuger Direktor des Innern

zentralplus: «Ambulant vor stationär» ist nicht nur grundsätzlich im Gesundheitswesen, sondern war auch bei dieser Änderung die Devise. Will der Kanton Zug letztlich Geld sparen?

Hostettler: Der Behindertenbereich gehört nicht zum Gesundheitswesen. Das neue Gesetz soll die Wahlmöglichkeit von Menschen mit Behinderung erhöhen. Ambulant vor stationär war deshalb nie die Devise, sondern vielmehr ambulant und stationär. Das LBBG dürfte sich kostendämpfend auswirken. Wir gehen davon aus, dass die Kosten für die Betreuung nicht im selben Mass steigen werden wie das Bevölkerungswachstum.

zentralplus: Die Gesetzesvorlage wurde vom Kantonsrat letztes Jahr mit 75 zu 0 Stimmen gutgeheissen. Dennoch wurde sie in den beiden Lesungen hitzig diskutiert. Insbesondere die Kostendeckelung wurde von einigen Seiten stark kritisiert.

Hostettler: Das ist so. Doch man muss bedenken, dass es ab einem gewissen Punkt günstiger wird, eine Person stationär zu betreuen als ambulant. Darum haben wir das Maximum bei zwei Stunden Fachleistungen à 135 Franken pro Tag festgelegt.

zentralplus: Wie stehen Sie zu dieser Kostendeckelung, Herr Graf?

Jahn Graf: Wenn ich sie «nur» als Mensch mit Behinderung ansehe, habe ich meine Fragezeichen. Doch alles in allem hat der Kanton Zug ein gutes Gesetz geschaffen, für das ich mit meinem Namen voll und ganz «einsitzen» kann.

«Ich werde, wenn ich unterwegs bin, nicht mehr so oft gefragt, wo denn meine Begleitperson sei.»

Jahn Graf, Mensch mit Behinderung und Teil der Begleitgruppe fürs LBBG

zentralplus: Wie nehmen Sie die Veränderungen beim Thema Inklusion in den letzten Jahren wahr?

Graf: Es hat ein Paradigmenwechsel stattgefunden, und das ist wichtig. Vor zehn Jahren hat die Schweiz die UNO-Behindertenrechtskonvention (UNO-BRK) unterschrieben. Seither ist Einiges gegangen, was ich als Aktivist für die Rechte von Menschen mit Behinderung und die Barrierefreiheit sehr schätze. Es gibt mittlerweile drei Nationalräte mit Behinderung, auch werde ich, wenn ich unterwegs bin, nicht mehr so oft gefragt, wo denn meine Begleitperson sei. Von einer stärkeren Inklusion zeugt auch, dass das LBBG in Zug mit der Unterstützung von Betroffenen erarbeitet wurde. Zwar ist der Kanton Zug mit seinem Gesetz nicht der erste, doch immerhin schweizweit im vorderen Mittelfeld dabei.

zentralplus: Sie können alleine wohnen. Hat das LBBG auf Ihr Leben dennoch einen Einfluss?

Graf: Ich musste immer alles selber respektive mit etwas Unterstützung meiner Familie machen. Ich bin ein wenig ein Querkopf. Ich hatte stets Angst davor, in einer Institution leben zu müssen. Dennoch habe ich mich auch schon gefragt, was passiert, wenn ich älter werde oder sich meine Behinderung verändert. Nun habe ich Anspruch auf eine Beratung bei der Abklärungsstelle. Je nachdem ergeben sich dadurch Möglichkeiten, die ich selbst nicht gesehen hätte. Die Neuerung eröffnet also mehr Spielraum für individuelle Lösungen. Vor 20 Jahren etwa stand die Option, dass ich beispielsweise in eine WG ziehen könnte, noch gar nicht im Raum.

«Mit dem neuen Gesetz finanzieren wir die Individuen, und nicht mehr die einzelnen Plätze.»

Andreas Hostettler

Hostettler: Es wird interessant sein, zu sehen, was nun passiert. Wir kennen nicht alle Leute mit Behinderung im Kanton Zug. Wir wissen einzig, wie viele Plätze der Kanton in den Institutionen unterstützt. Mit dem neuen Gesetz finanzieren wir die Individuen, und nicht mehr die einzelnen Plätze. Dazu kommt, dass eine Behinderung nicht immer leicht zu fassen ist. Oft ist sie nicht körperlich, also nicht sichtbar, sondern kognitiver oder psychischer Natur. In letzterem Bereich gehen wir von einer hohen Dunkelziffer aus.

Aktionstage für Behindertenrechte

Vor zehn Jahren unterschrieb die Schweiz die UNO-Behindertenrechtskonvention. Vom 15. Mai bis zum 15. Juni 2024 finden in der ganzen Schweiz Aktionstage im Zeichen der Behindertenrechte statt. Jahn Graf, der Teil des Organisationskomitees ist, sagt: «Wir wollen die Bevölkerung feiernd fürs Thema sensibilisieren und aufzeigen, was Menschen mit Behinderungen bräuchten. So beispielsweise auch im Arbeitskontext.»

Auch im Kanton Zug sollen verschiedene Aktionen die Behindertenrechte in den öffentlichen Fokus stellen. Dazu sind Unternehmen, Verbände, Organisationen, Institutionen und Vereine eingeladen, sich mit Projekten zu beteiligen, welche zur Förderung der Inklusion von Menschen mit Behinderungen beitragen. Interessierte Organisationen können sich bis zum 15. Februar 2024 anmelden.

zentralplus: Mehr Menschen mit Beeinträchtigungen können dank des neuen Gesetzes künftig ausserhalb der gängigen Institutionen wie etwa der Stiftung Zuwebe wohnen. Das dürfte bei den Organisationen für einen Wandel sorgen.

Hostettler: Tatsächlich kann man heute nicht sagen, wie die Situation in zehn Jahren aussieht. Eine Fachfrau Betreuung, die heute in einer Institution arbeitet, besucht künftig vielleicht zehn Menschen mit Behinderung bei sich zuhause. Solche Dienste könnten auch von der Privatwirtschaft angeboten werden.

Graf: Ich verstehe, wenn Heime Angst haben vor den kommenden Veränderungen. Gleichzeitig kann das für sie eine Chance sein. Aus einer bislang statischen Institution kann ein Hybrid werden, der sowohl stationär als auch ambulante Leistungen anbietet. Ich wünsche mir, dass die Organisationen diesbezüglich mutig sind.

zentralplus: Seit Anfang Jahr ist das LBBG in Kraft. Sie haben erwähnt, dass sie mit Ihrem Namen dafür «einsitzen». Doch Hand aufs Herz: Gibt es etwas, was Sie daran anders gemacht hätten?

Graf: Soweit bin ich zufrieden. Doch ist es mir wichtig, dass die Regierung flexibel bleibt, sich die Erfahrungen ansieht, die gemacht werden und beobachtet, wo der Schuh drückt. Gegebenenfalls muss die Verordnung noch etwas angepasst werden. Dafür muss der Kanton im Dialog bleiben mit den Anspruchsgruppen. Auch stellt sich die Frage, wie sich das Thema Behinderung in den kommenden Jahren entwickelt.

zentralplus: Wie meinen Sie das?

Graf: Es ist beispielsweise davon auszugehen, dass durch das LBBG mehr Menschen mit Behinderung selbständig werden. Das hat auch einen Einfluss auf den Wohnungsmarkt. In der aktuellen Situation ist es schwierig für Betroffene, die etwa im elektrischen Rollstuhl sitzen und auch eine entsprechende Möblierung brauchen, eine passende Wohnung zu finden. Dem gilt es Rechnung zu tragen.

«Eine Verordnung könnte theoretisch jeden Dienstag in der Regierungsratssitzung angepasst werden.»

Andreas Hostettler, Zuger Direktor des Innern

zentralplus: Herr Graf hat die Verordnung angesprochen. Ein Thema, das in der Debatte im Kantonsrat für Kritik gesorgt hat. Denn die Verordnung kann der Regierungsrat eigenständig ändern, ohne das Okay des Parlaments.

Hostettler: Tatsächlich sind im LBBG einige Formulierungen enthalten, die Raum für Entwicklungen lassen. Das war mein Credo: Ich will steuern können. Eine Gesetzesrevision ist schwerfällig. Im besten Fall dauert es zwei Jahre, bis diese umgesetzt werden kann. Eine Verordnung hingegen könnte theoretisch jeden Dienstag in der Regierungsratssitzung angepasst werden. Dieser Spielraum ist wichtig, damit wir reagieren können, falls nötig.

zentralplus: Das heisst, Sie könnten am kommenden Dienstag beschliessen, dass einer Person mit Behinderung täglich nur noch maximal eine Stunde statt zwei Stunden für Fachleistungen zusteht.

Hostettler: So einfach geht das natürlich schon nicht. Es gibt ein Mitbericht- und Vernehmlassungsverfahren. Zudem müssen die Regierungsmitglieder der verschiedenen Parteien dahinterstehen. Ausserdem legt das Gesetz bestimmte Leitplanken fest. So ist unter anderem festgehalten, dass der Regierungsrat die Maximalbeiträge zwar festsetzen kann, diese aber die Wahlfreiheit zwischen ambulanten und stationären Angeboten berücksichtigen müssen. Die Frage ist nun, ob eine Stunde die vorher erwähnte Wahlfreiheit noch berücksichtigen würde.

zentralplus: Eine ziemliche Macht, die Sie da ausüben können.

Hostettler: Das Parlament kann natürlich sofort eine Motion einreichen und diese Entscheide im Nachhinein übersteuern. Diese gegenseitige Kontrolle von Legislative und Exekutive ist nach wie vor vorhanden.

«Am Bahnhof Zug muss man, je nachdem, auf welchem Gleis der Zug fährt, Schanzenspringen können.»

Jahn Graf, Rollstuhlfahrer

zentralplus: Trotz massgeblicher Fortschritte im Thema Inklusion in den letzten Jahren – wo sehen Sie in Ihrem Alltag konkret Verbesserungspotenzial?

Graf: Es ist zwar ein bekanntes Thema, doch ein Ärgernis ist für mich jeweils der Bahnhof Zug. Dort muss man, je nachdem, auf welchem Gleis der Zug fährt, Schanzenspringen können. Die Abstände zwischen Zug und Perron sind aufgrund der Kurve, die das Gleis macht, teils riesig. Mit meinem Rollstuhl geht das zwar, andere können diese Hürde jedoch nicht allein überwinden. Auch wünschte ich mir Rampen. Ist der Lift zwischen Gleis 4 und 5 defekt, müsste ich mit der S-Bahn weiter nach Baar fahren, um dann wieder retour zu reisen um auf einem anderen Perron in Zug zu landen. Doch grundsätzlich muss ich sagen, dass sich die Gesellschaft in den letzten Jahren zum Positiven verändert hat. Das Thema Behinderung macht vielen Menschen keine Angst mehr.

Hostettler: Das Thema betrifft uns selber ja auch. Wir alle kennen Menschen mit Beeinträchtigungen oder sind selbst irgendwann damit konfrontiert. Wenn ich älter bin, schlecht sehe und mit dem Rollator durch Zug gehe, gelten all die Themen bezüglich Mobilität und Signaletik auch für mich.

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2 Kommentare
  • Profilfoto von Mark
    Mark, 20.01.2024, 19:47 Uhr

    Toller Beitrag, herzlichen Dank! Gerade das autonome Wohnen wird noch mehr in den Fokus rücken. Die Zuwebe ist diesbezüglich die bedeutendste Institution im Kt. Zug. Was aber, wenn diese Institution ihre Wohnungen über Jahre leer lässt in einem gebeutelten Kanton, in dem Menschen im mittleren Lohnsegment schon seit Jahren keine bezahlbaren Wohnungen finden können? So geschehen an der Blickensdorferstr. 14 in Steinhausen. Eine 4-Zimmer Wohnung steht über 2 Jahre leer und Menschen suchen verzweifelt nach Wohnraum. Jetzt soll angeblich eine. Einzelperson einziehen. Liebes Zentralplus: Wäre toll, wenn euch die Zuwebe eine Antwort liefern könnte.

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    • Profilfoto von Stiftung zuwebe
      Stiftung zuwebe, 22.01.2024, 17:19 Uhr

      Lieber Mark

      Danke vielmals für dein Interesse an der Wohnsituation an der Blickensdorferstrasse 14. Passenden und bezahlbaren Wohnraum zu finden, ist eine Herausforderung für alle Menschen. Besonders für Menschen mit Beeinträchtigung ist es eine zusätzliche Hürde, da Wohnungen speziellen Bedürfnissen entsprechen müssen.

      In den letzten Jahren haben wir versucht, die Wohnung intern unseren Klientinnen und Klienten anzubieten, bevor sie fremdvermietet wird. Darin waren wir nicht erfolgreich. Die Anläufe und Versuche scheiterten aus immer anderen Gründen. Ganz unterschiedliche Bedürfnisse und Fähigkeiten von Menschen mit Beeinträchtigung wurden dabei berücksichtigt.

      Nun haben wir uns entschieden, die Wohnung fremd zu vermieten. Ein junges Pärchen zieht per 1. März 2024 ein.

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