Radau-Antisemitismus blieb in Zentralschweiz chancenlos
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Die Geburtsstunde der direkten Demokratie vor genau 130 Jahren war ein Fehlstart. Die erste Initiative, die vor die Urne kam, widmete sich dem Verbot des jüdischen Schächtritus – dem rituellen Schlachten von Tieren. Anders als Zürich liess sich die Innerschweiz aber wenig von den Antisemiten verführen.
Sommer 1893: Der ewige Jude geht im Schweizer Land um – mit lüsternem Blick, mit lang gebogener Nase und mit einem Gegenstand, mit dem er den helvetischen Volkskörper aufschlitzen kann: dem Schächtmesser. Nun soll ihm dieses Ritualmordinstrument entrissen werden. Schweizweit mobilisieren Tierschutzvereine und Antisemiten, dass das Schächten aus allen Schlachthöfen und Dorfmetzgereien verschwindet.
Damit beginnt die Premiere des erst 1891 verankerten Volksrechts der Verfassungsinitiative just mit dem Verbot des jüdischen Schächtritus und ruft jetzt unheilvoll schlummernde antijüdische Ressentiments wach. Und gewinnt für dieses Vorhaben mit 60 Prozent die Zustimmung der Bevölkerung.
Den Juden Mores lehren
Antisemitische Zerrbilder finden sich im «Nebelspalter», in Flugschriften und Broschüren. Sie fordern die wehrhaften Tellensöhne auf, dem jüdischen Schochet (jüdischer Schächter) an der Urne sein Messer zu entwenden. Endlich soll gezeigt werden, wer hier Herr im Haus ist oder wie es der Zeitungsverleger und Pamphletist Ulrich Dürrenmatt, Grossvater des berühmten Schriftstellers, in einem Verslein am Vortag vor der Abstimmung formulierte: «Wenn wir ihm nicht Meister werden, wird der Jude unser Meister.»
Schon 1882/83 nutzte Dürrenmatt den international beachteten Ritualmordprozess im ungarischen Tisza-Eszlar für seine antisemitischen Verschwörungsfantasien und schrieb: «Das Christenmädchen von Eszlar, vergessen kann ich es nicht, wie es der jüdische Schächter zum Opferlamm ersticht.» Das zeigt, wie geläufig damals die Figur des Schochets mit den antisemitischen Ritualmordmythen verknüpft war.
Tiefe Stimmbeteiligung in der Zentralschweiz
Was nun überrascht: Den Radau-Antisemitismus machte die Innerschweiz nur begrenzt mit. Im Gegensatz zu den protestantisch geprägten Kantonen Aargau (90 Prozent), Bern (80 Prozent) und Zürich (86 Prozent) vereinigten die Schächtgegner nirgendwo mehr als 60 Prozent der Stimmen. Obwalden lehnte es sogar ab, und in allen Innerschweizer Kantonen war die Stimmbeteiligung sehr gering. Beispielsweise gingen in Luzern nur 27 Prozent an die Urne, von denen 57,7 Prozent dem Schächtverbot zustimmten.
Ein überraschendes Resultat, wenn man auf vorhergehende Abstimmungen zurückblickt: 1866, als es um die Niederlassungsfreiheit der Juden ging, charakterisierte die «Schwyzer Zeitung» die Juden als «Landplage» oder als «soziale Borkenkäfer».
Ähnlich wurde gegen die «jüdische Landplage» auch bei der Abstimmung zur Totalrevision der Bundesverfassung 1874 polemisiert. Die Aufnahme der Juden als vollwertige Bürger widerspreche der konservativen Konzeption von einem schweizerisch-christlichen Staat, wie der Historiker und frühere Zuger Nationalrat Josef Lang betont.
Bereits Erfahrung mit antisemitischen Bewegungen
Antisemitische Aufwallungen waren der katholischen Innerschweiz also nicht fremd. Andererseits schmerzten die Erfahrungen des Kulturkampfes. Die Erinnerung war noch wach, als die aufgezwungenen Ausnahmegesetze von der reformierten Mehrheit in Bern ausgehebelt wurden. Sie enthielten die in Artikel 50 garantierte Glaubensfreiheit. Schon zweimal hatte die freisinnige und protestantisch dominierte Politik gegen den Katholizismus gerichtete Gesetze erlassen: mit dem Jesuitenverbot und dem Verbot, neue Klöster in der Schweiz zu gründen.
Jetzt aber wünschten sich sowohl die Schweizer Bischöfe als auch das Zentralkomitee der Katholisch-Konservativen, dass die von der Verfassung garantierte Religionsfreiheit unumstösslich verankert bleibt. Das in Luzern erscheinende Zentralorgan des politischen Katholizismus, das «Vaterland», schreibt denn auch zwei Tage vor der Abstimmung: «Wir Katholiken tun gut daran, die Freiheit, die wir für uns verlangen, überall und ohne Unterschied auch für andere zu verteidigen.»
Schächten ist eine kulturelle Praxis
Die Hauptprotagonisten der Schächtinitiative versuchten, das Argument zu entkräften, dass mit dem Schächtverbot die Religionsfreiheit geritzt wird. Plötzlich wurden Leitartikler und protestantische Theologen zu Ausleger der jüdischen Thora (Teil der hebräischen Bibel), um eines nachzuweisen: Das Schächten ist keine zwingende religiöse Vorschrift, sondern eine kulturelle Praxis. Dass nun Tierschützer sich zu Thoragelehrten verwandelten, kommentierte das «Vaterland» so: «Wir Katholiken würden es sicher ebenfalls nicht zulassen, dass Andersgläubige ein Urteil etwa über die Verbindlichkeit des Fastengebotes sich zulegen wollten.»
Auch das «Luzerner Tagblatt» warnte den reformierten Pfarrer Philipp Heinrich Wolff aus dem Zürcher Weiningen, seines Zeichens Präsident des «Schweizerischen Zentralvereins zum Schutz der Tiere», nicht jüdische Theologie zu betreiben: «Herr Pfarrer, bleiben Sie bei Ihren Leisten! Über diese Dinge steht Ihnen kein massgebendes Urteil zu.» Die liberalen Blätter der Innerschweiz, im Unterschied beispielsweise zum freisinnigen Berner «Bund», empfahlen ein Nein bei der Abstimmung. Pointiert formuliert das liberale «Zuger Volksblatt»: «Ein solcher Metzgerartikel würde die Bundesverfassung hässlich verunstalten.»
Tierwohl für das Juden-Bashing
Antisemiten wollten die Hauptakteure der Tierschutzorganisation nicht sein. Tausendfach reklamierten sie für sich das rein ethische Motiv, für das Tierwohl einzustehen. Aber war das Schächten, also der rasche Schnitt durch die Halsschlagader eines Tieres, wirklich grausamer als die konventionelle Schlachtmethode? Damals war die Stichmaske im Schwange, die von den Tierschützern als grosser Fortschritt gefeiert wurde. Mit einem Hammerschlag wurde ein Nagel in die Schädeldecke eines Rindes gerammt.
Häufig brauchte es mehrere Schläge, bis die erwünschte vorhergehende Betäubung des Tieres eintrat. Deshalb waren sich tiermedizinische Experten bis auf eine kleine Minderheit in einem einig, wie das «Zuger Volksblatt» am Vortag der Abstimmung schrieb: «Dass das Schächten eine besonders qualvolle Tötungsart sei, ist nicht bewiesen. Im Gegenteil wird von ersten Autoritäten auf dem Gebiete der Physiologie, der Menschen- und Tierarzneikunde von dem Prof. Virchow, Prof. Vogt, Prof. Zangger und vielen anderen überzeugend dargetan, dass beim Schächten das Tier viel weniger gequält wird als bei den meisten zurzeit gebräuchlichen Schlachtarten.»
Prinzipiell gilt das, was «Der Grütlianer» schon vor 130 Jahren festgestellt hat und in der heutigen Debatte um Veganismus immer grössere Aktualität gewinnt: «Vor allem ist festzuhalten, dass jede Tötung eines Tieres vom Standpunkte des Tieres als grausam betrachtet werden muss. Wenn man von diesem Standpunkte ausgehen wollte, so müsste man mit dem Indier Vegetarianer werden, der es für eine Sünde hält, ein Tier zu töten.»
Populismusfalle der direkten Demokratie
Der Blick zurück auf die Abstimmung von 1893 beantwortet auch die historische Gretchenfrage: Was kann man aus Geschichte lernen? Ganz offensichtlich ist, dass die erste Premiere zeigt, wie das direkt demokratische Instrument des Initiativrechts für populistische Hetze gegen Minderheiten missbraucht werden kann. Und Abstimmungen zum Minarett- oder Burkaverbot haben diese Geschichte weitergeschrieben. Ein demokratiepolitisches Korrektiv, wie beispielsweise ein Schweizer Verfassungsgericht, würde hier eine Sicherung einbauen.
Bereits nach der Abstimmung bemerkte das «Luzerner Tagblatt»: «Es besteht die Gefahr, dass weitere schlecht redigierte, widersprechende und unausführbare Artikel in das Grundgesetz hineingeraten und dadurch dem Ansehen und der Würde dem Ganzen Abbruch tun. Es wäre dringend zu wünschen, dass wenigstens die Redaktion eines Initiativvorschlags an einige Regeln gebunden wäre.»
- Pascal Krauthammer: Das Schächtverbot in der Schweiz 1854–2000: Die Schächtfrage zwischen Tierschutz, Politik und Fremdenfeindlichkeit (Zürich: Schulthess, 2000), 29
- Josef Lang: Die Religionsfreiheit, ein fremder Gast in unseren Tälern
- Die Geister des Schächtverbots
- Zentralschweizer Antisemiten: Wie sehr die Innerschweizer Kantone gegen die Juden hetzten, «Der Bund», Dienstag, 18. Oktober 2016
- Ingrid Kaufmann: Von der Ächtung der Juden zur Achtung der Tiere?
- UntergRundgang Luzern: Fremdsein – heimisch werden. Selbstverlag Luzern, 2000