Zuger Verkehrspsychologe klärt auf

Stau, so schlimm wie noch nie? Darum reden wir uns das ein

Szenen wie bei beim Kinderspiel «Rush-Hour». Am Mittwochabend ging in der Stadt Luzern gar nichts mehr. (Bild: ewi)

Kaum sind die Sommerferien vorbei, staut es gefühlt überall auf den Luzerner und Zuger Strassen. Ist die Situation so schlimm wie noch nie? Oder kommt uns das bloss so vor? Der Zuger Verkehrspsychologe Gianclaudio Casutt ordnet ein.

Es waren bemerkenswerte Szenen, die sich am Mittwochabend in Luzern abspielten. In der Stadt herrschte ein Verkehrschaos seltenen Ausmasses. Egal wo man hinkam, überall dasselbe Bild: stehende Autokolonnen. Die VBL-Busse hatten teilweise Verspätungen von bis zu einer halben Stunde.

Die Situation erinnerte an das Kinderspiel «Rush Hour», bei dem ein rotes Auto scheinbar hoffnungslos im Verkehrschaos feststeckt. Nur durch geschicktes und logisches Verschieben anderer Fahrzeuge wird ein Durchgang zum Ziel frei. Auch in der Stadt Luzern waren am Mittwochabend die wildesten Verkehrsmanöver zu beobachten. Einige Autofahrer verloren sichtlich ihre Nerven.

Beim Spiel «Rush Hour» muss das rote Auto aus dem Verkehrschaos gefahren werden. (Bild: Wikipedia)

Was ist los auf unseren Strassen?

Der Verkehrskollaps vom Mittwochabend reiht sich ein in eine lange Liste von Staus der letzten Tage. Begonnen hat es Ende August – pünktlich zum Ende der Sommerferien. Kaum waren die Ferien vorbei, kehrte der Andrang auf den Luzerner und Zuger Strassen zurück. Und wie! Der zentralplus-Staumelder zählte an manchen Tagen über 100 Stellen in der Zentralschweiz auf, wo der Verkehr stockte oder ganz zum Stehen kam. Und so war zuletzt oft ein Ausruf zu hören: «Heute ist der Stau besonders schlimm.»

Was ist los auf unseren Strassen? zentralplus hat beim Baudepartement des Kantons Luzern nach Gründen für die regelmässigen Staus gefragt. Doch eine konkrete Antwort blieb aus. Der Kanton führe keine Statistik zu Staus und könne darum auch keine Zunahme feststellen. Dass nach den Sommerferien wieder mehr Autos auf den Strassen unterwegs seien, sei logisch.

Ähnlich erfolglos blieb eine Anfrage beim Verkehrsmagazin «Viasuisse». Redaktor Marc Brönnimann sagt, dass das Ende der Home-Office-Pflicht die wesentlich grössere Zäsur im Verkehr dargestellt hat als das jetzige Ende der Sommerferien. Subjektiv habe es diesen Sommer und nach den Ferien zwar mehr Verkehr als sonst – mit objektiven Zahlen lasse sich das aber nicht belegen.

Bei Unfällen hilft ein Gedankenspiel gegen den Stau

Die Erklärung ist also nicht auf den Strassen zu suchen – sondern wohl in unseren Köpfen. Wenn die Stau-Situation auf den Strassen nicht ungewöhnlich ist, warum fühlt sie sich für uns denn so an? Oder anders gefragt: Warum gewöhnen wir uns nicht an den Stau, obwohl es ein beinahe tägliches Phänomen ist?

zentralplus hat den Zuger Neuro- und Verkehrspsychologen Gianclaudio Casutt gefragt. Als Pendler kennt auch er das Problem. Besonders verheerend sei der Stau aufgrund eines Unfalls, denn: «Gerade die Unvorhersehbarkeit dieser Staubildung ist besonders nervenaufreibend, weil niemand damit rechnet, während der Fahrt von A nach B im Stau zu stehen, da gemäss den Gesetzen der Natur ein Unfall unvorhersehbar bleibt.» Strassen sind schliesslich zum Fahren da, und nicht, um darauf festzustecken.

Der Zuger Gianclaudio Casutt kennt das Stauproblem – als Pendler sowie als Verkehrspsychologe. (Bild: zvg)

In diesem Fall hat Casutt aber einen Tipp, mit dem die Staustunden künftig vielleicht etwas schneller vorbeigehen: «Man kann sich zum Beispiel im Stau stehend überlegen, wie schlecht es wohl den Unfallbeteiligten geht.» Auch diese wollten schliesslich von A nach B. «Dann ist man vielleicht froh, ‹nur› im Stau zu stehen, gesund, ohne Polizei und Arztkontakt, in einem funktionierenden Auto.»

Immer mehr Autos – immer mehr Stau

Doch Casutt mahnt gleichzeitig, dass dieser Tipp nur begrenzt helfen wird. Denn oft sei nicht ein Unfall Auslöser des Staus – und auch keine Baustelle. «Verkehrsüberlastung ist die Hauptursache.» Mit anderen Worten: Es hat zu viele Autos auf unseren Strassen. «Faktisch haben wir ein Problem, dass zu viele Menschen zu häufig das Strassenverkehrsnetz belasten. Der Grund: jeder einzelne Lenker, kaum gewichtig und doch staurelevant.»

«Wenn Sie also im Stau stehen, fragen Sie sich nicht: ‹Was ist denn da wieder los?›, sondern fragen Sie sich: ‹Warum mache ich das bloss?›»

Gianclaudio Casutt, Verkehrspsychologe

Dabei handelt es sich um ein Problem, das sich in den vergangenen Jahren akzentuiert hat. Denn in der Schweiz leben immer mehr Menschen. Entsprechend sind auch immer mehr Autos auf den Strassen unterwegs. Wobei die Zahl der Autos in der Schweiz noch deutlich schneller wächst als die Zahl der Menschen.

6,4 Millionen Autos waren 2022 in der Schweiz immatrikuliert. Das sind 40 Prozent mehr als noch 2000. Im gleichen Zeitraum ist die Bevölkerung um rund 22 Prozent gewachsen. Das geht nicht spurlos am Strassennetz vorbei. So ist die Zahl der Staustunden auf Schweizer Autobahnen im selben Zeitraum von 8000 auf rund 40’000 angestiegen. Kurzfristig ist also keine Stauzunahme feststellbar, langfristig aber zweifellos. Casutt meint: «Stau wird häufiger, das ist keine Einbildung oder zunehmende Ungeduld der Bevölkerung.»

Dem zugrunde liegt nebst dem Bevölkerungswachstum also vor allem auch ein wachsendes Mobilitätsbedürfnis der Schweizer Bevölkerung. Dieses bezieht sich nicht nur aufs Autofahren, sondern auch auf den öffentlichen Verkehr. Auch Busse und Züge sind zu Stosszeiten oft hoffnungslos überlastet. Mobilität als Grundrecht – das hat seine Konsequenzen.

Du bist Teil des Staus

«Du stehst nicht im Stau, du bist der Stau», kommentieren Umweltaktivisten und grüne Politikerinnen das Verkehrsproblem gerne etwas spöttisch. Doch auch Casutt rät, sich als Teil des Staus zu betrachten, anstatt als unbeteiligtes Opfer des Verkehrschaos.

Als Paradebeispiel zieht der Verkehrspsychologe den jährlichen Stau am Gotthard zu Beginn der Osterferien herbei. Auch dieser Stau ist so sicher wie das Amen in der Kirche. Die Gründe, weshalb diese Menschen gemeinsam vor dem Gotthard-Nordportal stehen, seien vielfältig: «Viele der Überlegungen sind berechtigt, andere falsch und wiederum andere ein Luxusproblem», so Casutt. Und doch landen letztlich alle im gleichen Stau.

Hinzu kam dieses Jahr die Blockade der Renovate-Aktivisten, die sich vor den Gotthardtunnel klebten. Die Blockade dauerte zwar rund dreissig Minuten und führte zu weiteren Verzögerungen. Doch im Vergleich zum bestehenden Stau aufgrund der Verkehrsüberlastung war der Zeitverlust durch die Aktion gering. Für Casutt war jedoch die darauffolgende Reaktion der Autofahrer bezeichnend: «Ein Grossteil der Menschen regte sich nur über die Klima-Kleber auf, anstatt sich über die eigene Unvernunft zu ärgern, bereit zu sein, drei Stunden am Gotthard im Stau zu stehen. Man kann an Ostern durchaus etwas anderes unternehmen als vor der Röhre zu stehen.»

Auf die diesem Artikel zugrunde liegende Frage bezogen, bedeutet das in Casutts Worten: «Wenn Sie also im Stau stehen, fragen Sie sich nicht ‹was ist denn da wieder los?›, sondern fragen Sie sich, ‹warum mache ich das bloss?›»

Womöglich regen wir uns also bloss zum Selbstschutz immer wieder aufs Neue über den Stau auf. Ob das nachhaltig hilft, lässt sich bezweifeln.

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13 Kommentare
  • Profilfoto von Gusti Krümel
    Gusti Krümel, 17.09.2023, 23:33 Uhr

    Seit 2010 hat sich die Anzahl der erfassten Staustunden auf den Nationalstrassen mehr als verdoppelt, Quelle Astra. Im selben Zeitraum wuchs die Schweizer Bevölkerung um über eine Million, Strassen kamen praktisch keine dazu. Soviel zum Thema Einbildung…

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    Jerome Halter, 17.09.2023, 21:37 Uhr

    Komisch, der Titel suggeriert der Stau nehme nicht zu – die Graphik vom ASTRA sagt der Stau nehme zu. Hm, was nun?

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    Roli Greter, 17.09.2023, 21:11 Uhr

    Das Bevölkerungswachstum ist die Ursache, Stau ist eines vieler Symptome.

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    Franz, 17.09.2023, 18:17 Uhr

    Es wäre ganz einfach: Leasing für Privatwagen verbieten. Das gäbe eine spürbare Entlastung. Bis vor 20-30 Jahren gab es Leasing nur für Firmen, was Sinn ergibt. Heute werden Protzautos von Personen gefahren, die diese niemals kaufen könnten.

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    Stefan Holzer, 17.09.2023, 14:07 Uhr

    Autofahrer stehen nicht im Stau. Sie sind der Stau. Das Bewusstsein dafür fehlt vielen.

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    Rolf Albisser, 17.09.2023, 12:44 Uhr

    Ich hatte Ihnen vor einiger Zeit eine Meinung zugestellt. Scheinbar wird diese Meinung von Ihnen nicht geteilt und deshalb auch nicht veröffentlicht, obwohl ich beim besten Willen nicht verstehe gegen Ihre Netiquette Richtlinien verstossen zu haben. Oder sehe ich da etwas falsch?

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    • Profilfoto von Markus Rotzbeutel
      Markus Rotzbeutel, 17.09.2023, 14:27 Uhr

      Passiert mir auch bei diesem Autor. Man darf die Schuld nie beim Autofahrer suchen.

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  • Profilfoto von Rolf Albisser
    Rolf Albisser, 17.09.2023, 12:18 Uhr

    Eine weitere Erklärung für die Stauzunahme oder Überlastung könnte auch diese sein: es hat schlicht zu viele Verkehrsteilnemer wir E- Bikes, Cargo Velos, E-Scooter, ‹trödelnde Touristen-Wandergruppen», Fussgänger die mit den Handys am Ohr über Fussgängerstreifen, im Gänseschritt usw. die Liste könnte noch beliebig erweitert werden. Die Autofahrer sind, aus Angst sie könnten einen dieser Verkehrsteilnehmer anfahren, schlicht überfordert und fahren dementsprechend auch nur noch im Schritttempo. Da muss der Verkehr zusammenbrechen. Es fehlt der Verkehrsfluss. Vielleicht sollten die intelligenten aner mal darüber nachdenken. Den uneingeschränkten Vortritt der Fussgänger wieder aufheben.

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    • Profilfoto von Stefan Holzer
      Stefan Holzer, 17.09.2023, 14:09 Uhr

      Das ist gelinde gesagt Quatsch. Die Autos verursachen den Stau. Überlegen Sie einfach mal, wieviel Fläche Autos einnehmen und wieviel die anderen Verkehrsteilnehmer. Es sind schlicht zu viele Autos unterwegs. Und wenn man in der Stosszeit in die Autos reinschaut, dann sitzt da in der Regel eine einzige Person drin. Ein kompletter Irrsinn und eine gigantische Platz- und Ressourcenverschwendung.

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      • Profilfoto von Kommentarschreiber
        Kommentarschreiber, 17.09.2023, 16:26 Uhr

        @Rolf Albisser
        Ups, ja, der ist gut: Der Langsamverkehr ist der Täter und der MIV das Opfer. Aber gut kommentiert Stefan Holzer diese abenteuerliche Behauptung und bringt es auf den Punkt.

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    • Profilfoto von Markus Rotzbeutel
      Markus Rotzbeutel, 17.09.2023, 14:25 Uhr

      Wer mit dem Autofahren überfordert ist, sollte sich geschwindigst beim Strassenverkehrsamt melden und das Billet abgeben. Und dann auf den Bus umsteigen.

      Ein kurzer Augenschein bei den Stauenden Strassen in Luzern beweist allerdings das Gegenteil ihrer abstrusen Behauptungen: es ist schlicht kein Verkehrsfluss möglich weil sich die Autos gegenseitig im Weg stehen. Ampel Grün und doch keine Bewegung – da ist keine Person mit effizienterem Verkehrsmittel Schuld. Weniger Autos gleich weniger Stau. Ohne Autos könnte der effiziente Verkehr besser fliessen.

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    • Profilfoto von Lou
      Lou, 18.09.2023, 11:06 Uhr

      «E- Bikes, Cargo Velos, E-Scooter, ‹trödelnde Touristen-Wandergruppen», Fussgänger die mit den Handys am Ohr über Fussgängerstreifen, im Gänseschritt» – Das macht durchaus Sinn und erklärt den täglichen Stau auf Autobahnen und an Ostern vor dem Gotthard.

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      • Profilfoto von Rolf Albisser
        Rolf Albisser, 18.09.2023, 13:12 Uhr

        Ich spreche hier von Stadtverkehr. Betreffend Staus auf Autobahnen und am Gotthard sollte man nebst der enormen Zuwanderung und dem hirnlosen Drang nach Ferien und Freizeit ( sprich Worklife-Balance, Teilzeitarbeit damit man mehr unterwegs sein kann) auch noch ständigen Baustellen, Drängler usw. erwähnen.

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