Kunst im Luzerner Untergrund

Babel: Viel zu entdecken, wenn man die Augen offen hat

Das Kunstwerk ziert die Dammwand unter der Eisenbahn. (Bild: mre)

Das Babel-Quartier in Luzern ist reich an Kunst im öffentlichen Raum. Und es gibt viel zu sehen, wenn man nur aufmerksam hinsieht. Urs Häner, Co-Präsident des Babel-Vereins, dient dabei als «Lesehilfe im öffentlichen Raum».

Urs Häner erzählt von den vielen Täfeli, die in der Stadt hängen. Die gesamte Altstadt sei beschildert. Touristen sollen sehen, was Luzern zu bieten hat: wertvolle Bauten, schöne Brunnen und vieles mehr. Irgendwann, wenn man sich Richtung Kasernenplatz bewegt, werden diese Täfeli rar. Es wird signalisiert, «weiter hinten gibt es nichts mehr zu sehen», sagt der Co-Präsident des Babel-Vereins (Quartierentwicklung Basel-/Bernstrasse). Das Gefühl entstehe, dass das Babel-Quartier zweitklassig sei.

Seit vielen Jahren will das Quartier zeigen, dass es hier sehr wohl etwas zu sehen gibt (zentralplus berichtete). Das realisieren die Bewohner unter anderem mit den sogenannten UntergRundgängen: Rundgänge, die dort beginnen, wo die klassischen Stadtführungen aufhören – beim Kasernenplatz. Auf dem neuesten Rundgang durch das Untergrundquartier liegt nun der Fokus verstärkt auf der Kunst. Bei einem Spaziergang mit zentralplus zeigt der UntergRundgänger und langjährige Bewohner Urs Häner, was das Quartier an Kunst im öffentlichen Raum zu bieten hat.

Urs Häner hat zentralplus durchs Quartier geführt. (Bild: mre)

Begonnen beim Heinz – an dem wohl alle zumindest schon mal vorbeigefahren sind. Der Strassenwischer Heinz Gilli wurde 2016 auf dem Kreisel Kreuzstutz verewigt (zentralplus berichtete). Er sei der «Inbegriff eines Arbeiters im Arbeiterinnenquartier Untergrund», erzählt Häner. Der Künstler Christoph Fischer wohnte lange Zeit direkt am Kreisel und sah den Strassenputzer täglich bei der Arbeit. Als vor ein paar Jahren ein Wettbewerb für die Neugestaltung des Kreisels ausgeschrieben wurde, war für ihn klar: Heinz muss da hin.

Heinz bringt das Bänkli zurück

Was hat Heinz da eigentlich in den Händen? Früher bestanden die klassischen Bänkli in Luzern aus sieben grossen Latten, heute aus neun. Die Statue zeigt Heinz beim Wegbringen der Latten des letzten alten Bänklis. Häners eigene Interpretation: «Heinz bringt uns das Bänkli zurück.» Es gab nämlich jahrelang Sitzmöglichkeiten beim Kreisel, die mittlerweile, nach einem Unterbruch, auf Wunsch des Quartiers wieder hingestellt wurden.

Eine Hommage an Heinz Gilli, den ehemaligen Strassenputzer. (Bild: mre)

Direkt oberhalb des Kreisels befindet sich bereits das nächste Kunstwerk. Jahrhundertelang hat dort ein Wegkreuz gestanden, das dem Ort Kreuzstutz auch seinen Namen gab. Nachdem jahrzehntelang dort kein Kreuz gestanden hatte, wurde in den 1950er-Jahren auf Initiative von Katholiken aus der Pfarrei St. Karl wieder eines errichtet. Viele Leute meinten nämlich bereits, der Kreuzstutz hiesse so, weil es hier eine Kreuzung hat.

Früher hätte das Kreuz den Stadtbann, den Übergang zum rechtsfreien Raum, markiert, erläutert Häner. Richtung Kasernenplatz und Stadtzentrum herrschte Recht und Ordnung, und man konnte verurteilt werden. Auf der anderen Seite galt man als vogelfrei. Es war ein rechtloser Raum.

Dem Kreuz verdankt der Kreuzstutz seinen Namen. (Bild: mre)

Nur wenige Meter den Stutz hinauf, also eingebogen in die Bernstrasse, befindet sich der «Bob-Marley-Würfel». Auf dem Betonklotz und auf Stofftüchern an vielen weiteren Orten im Quartier stand der Spruch «Bob Marley muss weiterleben». Das Graffito war den Bewohnerinnen des Babel-Quartiers bekannt und hatte Kultstatus. Nach der Entfernung des Originals sprayte jemand in Kürze wieder denselben Spruch in einer anderen Farbe hin. Daraus entstand dann die Idee eines partizipativen Kunstwerks.

Auch die Erde muss weiterleben

Mittlerweile stehen nur noch die Worte «muss weiterleben». Alle Menschen werden aufgefordert, mit Kreide auf den Würfel zu schreiben, wer oder was unbedingt weiterleben soll. Und die Leute sind kreativ: Neben «Elvis Presley» müsse auch «die Erde» und «ich» weiterleben. All dies hätte bereits einmal auf dem Würfel gestanden, erzählt Häner. Mit dem nächsten Regen werden die Wörter wieder weggewischt – und es gibt Platz für Neues.

Weiter geht der Spaziergang wieder am Kreisel vorbei Richtung Reussinsel. Die Dammwand sei eine ideale Fläche für Künstlerinnen, meint Häner. In den Jahren 2018 und 2021 gestalteten Leute vom Fumetto jeweils ein Bild.

Dort, wo früher Industrie war, wird heute gewohnt

Bei der Planung des aktuelleren Kunstwerks waren die UntergRundgänger dabei. Es zeige den Fortgang der Reussinsel als damalige «Wiege der Luzerner Industrie», wie Häner erklärt. Heute wird hier in erster Linie gewohnt. Das Kunstwerk symbolisiert die in Brand stehende Insel, die gleichzeitig zu ertrinken droht.

Symbolisiert einen «Abgesang auf die Reussinsel». (Bild: mre)

Weiter geht es zur St.-Karli-Brücke. Diese erneuerte die Stadt vor gut 20 Jahren. Im Budget für den Neubau gab es eine kleine Summe für Kunst. Ein Künstlerduo platzierte die Buchstaben des Wortes «NIVEAU» am Pfeiler der Brücke. Je nach Wasserstand zeigt sich das ganze Bild, nur «NIVEA» oder sogar nur «NIV». Somit spielen die Kunstschaffenden mit Wörtern, die in verschiedenen Sprachen viele Bedeutungen haben.

An der Dammwand der Eisenbahn entstand diesen Sommer ein weiteres Kunstwerk. Und nicht nur irgendeines, sondern mit seinen über 50 Metern eines der längsten Wandbilder der Schweiz (zentralplus berichtete). Viel beeindruckender findet Häner aber eine andere Zahl, nämlich die fast 270 Mitwirkenden am Gemälde. Das Kunstwerk wurde von den Quartierbewohnern in Zusammenarbeit mit der NGO Cup of Color und dem lokalen Verein Seed of Change erarbeitet.

Das Wandbild soll ein Zeichen gegen Littering setzen. Bei der Entsorgungsstelle an der Dammstrasse werde nämlich regelmässig illegal Abfall entsorgt. Das Gemälde folgt dem Grundgedanken «was würdest du nie wegwerfen». Die Quartierbewohnerinnen nahmen selbst den Pinsel in die Hand und malten, was sie nie in den Müll werfen würden: eine Gitarre, Rollschuhe, Blumen und vieles mehr sind zu sehen. Auch Häner entdeckt jedes Mal wieder etwas Neues, wenn er sich das Bild anschaut.

Der grösste Steinbruch der Stadt

Die Atmosphäre beim Erschaffen schildert Häner eindrücklich: «Schliesslich haben sich alle getraut, etwas zu malen. Viele erlebten ein grosses Erfolgserlebnis durch die Mitarbeit an einem solchen Kunstwerk. Und der Zusammenhalt hat sich gestärkt.» Nächsten Frühling sollen nochmals alle Leute zusammenkommen und darüber erzählen, was sie gezeichnet haben. Gegen das Littering hatte das Gemälde keine grosse Wirkung. Die Bewohner zeigen ihren Ärger darüber aktuell zusätzlich mit einem Schild.

Bewegt man sich wieder zurück auf die Hauptstrasse, kommt man zum Graffito von Hans Zürcher am ehemaligen Restaurant Untergrund. Das Gemälde vom Jahr 1953 erinnert an die Arbeit im Steinbruch hinter dem Gebäude. «In ganz vielen Schulhäusern und Häusern der Stadt Luzern könnte man Steine wiederfinden, die aus diesem Steinbruch stammen», erklärt Häner. Dieser sei nämlich der grösste der gesamten Stadt gewesen.

Das Gemälde memoriert die harte Arbeit der Steinbrecher. (Bild: mre)

Gegen Ende des Rundgangs führt Häner zu einem wohl wieder eher bekannteren Kunstwerk. Unter der Eisenbahnbrücke an der Baselstrasse befindet sich das dreidimensionale Tiergemälde. Während man von der einen Seite durchläuft, sieht man die typischen Schweizer Tiere: Steinböcke und Kühe. In die andere Richtung erkennt man Gazellen und Elefanten. Das Kunstwerk symbolisiert die «Nahtstelle zwischen dem schweizerischen Kern der Stadt und der sehr globalisierten Situation in unserem Quartier». Der eine Teil des Kunstwerks wurde diesen Sommer bei einem Unfall leider extrem beschädigt. Es ist noch nicht klar, ob das Werk wiederhergestellt wird oder ob daraus vielleicht etwas Neues entsteht.

Ein «HOME» für Menschen aus allen Nationen

Ebenfalls unter der Eisenbahnbrücke sprayte jemand um die Jahrtausendwende einen fremdenfeindlichen Spruch: «… GO HOME!». Wenige Tage später übermalte eine unbekannte Person die Sprayerei, sodass nur noch das Wort «HOME» sichtbar blieb.

Diese Korrektur steht nun symbolisch für das weltoffene Quartier, in dem Menschen aus über 80 Nationen zusammenleben. Der Schriftzug ist mittlerweile nicht mehr wirklich sichtbar, da er mit Werbeflächen überdeckt wurde. Um die Botschaft immerhin ein bisschen hervorzuheben, wurde sie im Sommer 2021 mit einem Täfeli geehrt.

Für die Zukunft könnte sich Häner eine grosse Fassadenmalerei an einem Gebäude nahe der Gleise vorstellen. «Das Bild wäre dann das Erste, was Zugreisende nach Luzern von der Stadt zu sehen bekämen.» Als Vorbild dienen könnte das Kunstwerk an der Fassade des Betonturms in Rothenburg (zentralplus berichtete).

Wahrscheinlich könnte das genau dazu führen, was sich das Quartier wünscht: gezeigt werden, als Erstes, raus aus dem Schatten des Gütsch …

Verwendete Quellen
  • Persönliches Gespräch und Spaziergang mit Urs Häner
  • Website Verein UntergRundgang
  • Website Verein Babel
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2 Kommentare
  • Profilfoto von Franz
    Franz, 20.11.2023, 17:24 Uhr

    Für die Quartierbewohner mögen diese Stationen (Kunst ist ein dehnbarer Begriff) ihren Charme haben. Für Touristen jedoch sind sie völlig uninteressant. Das und Ähnliches haben sie zur Genüge in den meisten Herkunftsländern.

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  • Profilfoto von Waesmeli-Sepp
    Waesmeli-Sepp, 20.11.2023, 07:29 Uhr

    Wie oft will zentralplus noch über dieses Quartier berichten? Das ist gefühlt nun der hundertste Beitrag. Wie wäre es einmal ein anderes Quartier in unserer schönen Stadt vorzustellen?

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