Leben
Zwei Quartierkenner im Gespräch

Babel-Quartier: Der ewige Kampf gegen den schlechten Ruf

Urs Häner (links) und Alex Williner auf dem Kreuzstutz-Kreisel zwischen Basel- und Bernstrasse. (Bild: ewi)

Die Basel- und Bernstrasse ist eines der schillerndsten Quartiere der Stadt Luzern. Das Projekt «BaBeL» setzt sich seit zwanzig Jahren für die Aufwertung ein. Zeit für ein Fazit, eine Standortbestimmung und einen Ausblick.

Der Baselstrasse eilt ein einschlägiger Ruf voraus. Der «Blick» bezeichnete sie 2006 als «Strasse der Angst», wo sich «auch Ausländer fürchten» würden. «20 Minuten» titelte 2005: «Das allerschlimmste Ghetto der Schweiz liegt in Luzern», womit natürlich ebenfalls die Basel- und Bernstrasse gemeint war. Selbst ein Dokumentarfilm aus dem Jahr 2017, eine liebevolle Hommage an die einzigartige Strasse, trug den zwiespältigen Namen «Rue de Blamage» (zentralplus berichtete).

Die Meinungen zur Baselstrasse sind offenbar gemacht. Da interessiert es viele nicht, dass es im Hintergrund Kräfte gibt, die dieses schlechte Image seit nun 20 Jahren bekämpfen. 2002 riefen die Hochschule Luzern und die Stadt Luzern das Projekt «BaBeL» («Basel- und Bernstrasse Luzern») ins Leben. Gemeinsam mit der Quartierbevölkerung wurden Visionen erarbeitet, wohin sich das Quartier entwickeln soll.

Von Anfang an dabei bei diesem Prozess waren Alex Willener und Urs Häner. Willener ist Professor für Soziale Arbeit an der Hochschule Luzern und beschäftigt sich mit Stadt- und Quartierentwicklung. Häner wiederum ist Co-Präsident des aus dem Projekt heraus entstandenen Babel-Vereins, war über 30 Jahre lang im Vorstand des Vereins Sentitreff und wohnt ebensolange schon im Quartier. zentralplus hat mit ihnen über ihr Quartier gesprochen.

zentralplus: Die Baselstrasse wurde bereits als «Strasse der Angst» und «Rue de Blamage» bezeichnet. Welchen Namen würdet ihr der Strasse geben?

Alex Willener: «Rue du Monde». Wenn ich auswärtige Gäste zu Besuch habe, sage ich ihnen immer, dass das hier das urbanste Quartier der Stadt sei. Urbanität bedeutet für mich nicht grosse Häuser, sondern Vielfalt. Die Vielfalt an Menschen, Nutzungen, Ereignissen. Und an keinem Ort in Luzern ist die Vielfalt so gross wie hier.

Urs Häner: Ich sage: «Strasse der Vereinten Nationen». Das Babel-Quartier ist ein Mix aus Minderheiten. Keine ethnische Gruppe ist hier dominant. Und diese verschiedenen Minderheiten müssen wir ausbalancieren.

zentralplus: Das klingt jetzt alles noch sehr romantisch. Doch aus irgendeinem Grund wurde die Babel-Initiative ja ins Leben gerufen. Wie sah denn die Situation vor 20 Jahren aus?

Urs Häner: Damals existierte tatsächlich eine Abwärtsspirale, weil die Bausubstanz immer schlechter wurde. Es gab mal Pläne für eine Schnellstrasse in der Bernstrasse, der viele Häuser zum Opfer gefallen wären. Darum haben die Hauseigentümer jahrelang nichts investiert. Und als die Strasse dann nicht realisiert wurde, wurden trotzdem keine Investitionen getätigt.

«Bei unserer Analyse stellten wir eine ungesunde Konzentration von unterprivilegierten Menschen fest.»

Alex Willener, Professor für Soziale Arbeit Hochschule Luzern

Alex Willener: Als wir das Quartier mit der Hochschule analysierten, merkten wir, dass die Gewerbevielfalt sehr klein ist. Viele handwerkliche Betriebe mussten schliessen und fanden keine Nachfolger. Die Gewerbeflächen standen leer, teilweise waren sie verbarrikadiert. Es kam zu einer Verslumung. Und wir stellten eine ungesunde Konzentration von unterprivilegierten Menschen fest. Das heisst, es hatte überdurchschnittlich viele Sozialhilfebezüger, Geflüchtete, Working-Poors. Das ist eine ungesunde Mischung für ein Quartier.

zentralplus: Was waren denn die ersten Massnahmen, mit denen man die Baselstrasse aufwerten wollte?

Alex Willener: Wir haben festgestellt, dass die schulischen Perspektiven für die Kinder im Quartier schlecht sind. Die Schulhäuser Grenzhof und St. Karli verzeichneten damals den tiefsten Wert bei den Übertritten ins Gymnasium. Darum sahen wir hier den grössten Handlungsbedarf. Es brauchte Animationsprogramme, um die Kinder zu fördern. So entstand das erste Projekt im Rahmen von Babel, die Wiederbelebung des Dammgärtlis als Kinderspielplatz. Die Baselstrasse war eines der kinderreichstes Quartiere der Stadt, doch das Umfeld war wenig kindergerrecht. Das wollten wir ändern.

«Mit der Aufwertung des Dammgärtlis wollten wir zeigen, dass wir es ernst meinen. Dass wir etwas machen, das der Bevölkerung des Quartiers zugute kommt.»

Alex Willener

Urs Häner: Ein weiteres Projekt war «Shop and Food». Wir wollen damit den multikulturellen Charakter unseres Quartiers in den Fokus stellen. Und gleichzeitig verhindern, dass das Gewerbe in der Baselstrasse verschwindet. Auf einer Tour lernen Gäste verschiedene internationale Läden in der Baselstrasse kennen. Abgerundet wird der Rundgang mit einem internationalen Gericht, beispielsweise aus der portugiesischen oder der tamilischen Küche.

Alex Willener: Die Leute sollten so ihre Berührungsängste mit der Strasse verlieren. Und auf so einer Tour ist der Zugang zum Quartier viel niederschwelliger. Viele Teilnehmer auf den Touren wussten zum Beispiel gar nicht, was sie mit einer Maniok anfangen können. Und über so etwas entsteht ein Zugang zum Quartier und seinen Menschen.

zentralplus: Und wie kam das bei den Bewohnerinnen des Quartiers an?

Alex Willener: Am Anfang schlug uns viel Skepsis entgegen. Die Menschen befürchteten, zu einem Studienobjekt zu werden, ohne selbst einen Mehrwert davon zu haben. Darum wollten wir mit der Aufwertung des Dammgärtlis zeigen, dass wir es ernst meinen. Dass wir etwas machen wollen, das der Bevölkerung des Quartiers zugute kommt.

zentralplus: Wie wichtig war der Einbezug der Bevölkerung zu Beginn des Projekts?

Urs Häner: Sehr wichtig. Es war klar, dass wir keine Quartierentwicklung ohne die Menschen machen können. Doch am Anfang gab es gewisse Verständigungsprobleme. Vielen Bewohnern und Bewohnerinnen war zu diesem Zeitpunkt gar nicht bewusst, welches Potenzial dieses Quartier hat.

Alex Willener: Hier haben uns Entwicklungsszenarien weitergeholfen. Vom Künstler Luca Schenardi haben wir sechs Illustrationen anfertigen lassen, wie die Baselstrasse in Zukunft ausschauen könnte. Den Bewohnern gefielen die verschiedenen Ansätze. Nur ein Szenario war für niemanden eine Option: Nichts zu tun und die Baselstrasse verlottern zu lassen.

zentralplus: Und jetzt, 20 Jahre später: Was hat sich hier verändert?

Alex Willener: Die Situation der Kinder hat sich massiv verbessert. Das bestätigten auch die Lehrpersonen. Es gibt verschiedenste Freizeitprogramme, welche die Kinder fördern.

«Die Gefahr der Verdrängung ist nicht zu leugnen. Wir müssen sehr aufmerksam sein, dass uns eine gute soziale Balance gelingt.»

Urs Häner, Co-Präsident Verein Babel

Urs Häner: Soziokulturelle Themen wie die Kinderanimation waren schnell umsetzbar. Bauliche Massnahmen hingegen dauern ewig. Die Veränderung der Bausubstanz kommt erst jetzt in die Gänge, zum Beispiel mit der neuen Siedlung an der oberen Bernstrasse durch die Baugenossenschaften ABL und Matt. Diese Siedlung setzt einen Meilenstein in der baulichen Entwicklung des Quartiers. Hier wächst jetzt eine Frucht unserer Bemühungen, das Quartier sozial besser zu durchmischen. Dass auch Menschen der Mittelklasse ins Quartier ziehen – ohne die bestehende Bevölkerung zu verdrängen. Auch die Bebauung der Reussinsel durch die Axa steht als Beispiel für diese Entwicklung.

zentralplus: Wie gross ist die Gefahr, dass die Aufwertung des Quartiers eine Verdrängung der bisherigen Bewohner mit sich bringt?

Urs Häner: Die Gefahr der Verdrängung ist nicht zu leugnen. Wegen des Neubaus an der Bernstrasse mussten Bewohnerinnen ausziehen, die sich dort eine neue Wohnung trotz genossenschaftlichen Mietzinsen nicht leisten können. Hier müssen wir sehr aufmerksam sein, damit uns eine gute soziale Balance gelingt. Es braucht an manchen Stellen eine Aufwertung der Bausubstanz. Aber wir müssen vor allem die Häuser sanieren, statt sie neu zu bauen. Dann haben wir auch die steigenden Mietpreise im Griff.

Alex Willener: Die Befürchtung der Gentrifizierung gab es schon, als wir hier mit unserem Projekt angefangen haben. Aber ich glaube, am Schluss schützt sich das Quartier ein Stück weit selbst vor Investoren. Luxussanierungen wird es hier wohl nie geben, weil das Quartier schlicht nicht an einem attraktiven Standort liegt. Es hat viel Verkehr, es hat wenig Platz, es ist schattig.

Die Statue von «Heinz», einem Quartierorginial, ist zur Landmarke des Babel-Quartiers geworden. (Bild: ewi)

Urs Häner: Auch die Verdichtung ist ein Thema. Es gab einmal die Idee, ein Hochhaus auf der Reussinsel zu bauen. Aber wir brauchen keine dominanten Hochhäuser hier, sondern mehr Grünfläche. Und darum ist es ein erfreuliches Signal, dass die Stadt bei der Gebietsentwicklung im Grenzhof und beim St. Karli weniger Häuser, dafür mehr Freiraum plant (zentralplus berichtete). Hier wird nicht auf maximalen Profit gesetzt.

zentralplus: Und wo passierte noch nicht so viel, wie erhofft?

Urs Häner: Beim Verkehr. Das Thema war vor 20 Jahren schon hochaktuell. Damals träumten wir von einer S-Bahn-Haltestelle beim Kreuzstutz. Dieses Projekt ist leider gescheitert. Das Thema Verkehr wird uns auch die nächsten 20 Jahre stark beschäftigen. Immerhin konnten wir vor wenigen Monaten aber einen grossen Erfolg verbuchen.

«Nach 20 Jahren Babel müssen wir nüchtern feststellen, dass dieses negative Klischee unseres Quartiers ungeheuer hartnäckig ist.»

Urs Häner

zentralplus: Der da wäre?

Urs Häner: Wir kriegen endlich Tempo 30 auf der Bern- und Baselstrasse (zentralplus berichtete). Seit 14 Jahren scharren wir bei der Stadt und beim Kanton für dieses Anliegen. Dauernd werden hier die Lärmschutzwerte überschritten. Die Temporeduktion war längst überfällig. Dass wir den Druck auf den Kanton stets aufrechterhalten haben, hat sicher dazu beigetragen, dass wir dieses Ziel erreicht haben.

zentralplus: Eine abschliessende Frage. 20 Jahre nach Gründung der Babel-Initiative: Ist die Baselstrasse im allgemeinen Diskurs immer noch die «Strasse der Angst»?

Urs Häner: Nach 20 Jahren Babel müssen wir nüchtern feststellen, dass dieses negative Klischee über unser Quartier ungeheuer hartnäckig ist. Gerade kürzlich machte ich eine Führung mit einer Schulklasse durchs Quartier. Und was passierte am Schluss in der Fragerunde? Ausgerechnet der Lehrer fragt mich, wie das denn sei mit der Kriminalität hier. Diese Bilder sind einfach nicht aus den Köpfen der Menschen zu kriegen.

Alex Willener: Wobei ich das schon auch anders miterlebe. Gerade bei Studierenden ist die Baselstrasse eine beliebte Ausgangsmeile. Ich frage dann manchmal auch, ob sie sich sicher fühlen. Aber niemand von ihnen hat diesbezüglich Bedenken.

Urs Häner: Das stimmt sicher für manche Kreise, da ist unser Quartier attraktiver geworden. Doch gerade der mediale Mainstream beschreibt die Baselstrasse immer noch als Ghetto. Schau dir den Luzerner «Tatort» über den Drogenhandel an. Natürlich spielte dieser in der Baselstrasse. Und als wäre das für unser Image nicht schon schädlich genug, haben sie sogar extra zusätzlichen Abfall an die Baselstrasse geschleift, damit die Strasse schäbiger aussieht. Wir haben eine Arbeitsgruppe bei Babel für Sauberkeit und Sicherheit, in der wir uns überlegen, wie wir gegen Littering vorgehen. Und dann kommt der «Tatort» und stellt uns zusätzlichen Müll hin – den sie am Schluss haben stehenlassen. So ist es schwierig, gegen diese Klischees anzukommen.

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