Demütigende Leibesvisitationen

Heidi Joos erkämpft Praxisänderung der Luzerner Polizei

Heidi Joos hat sich mit der Luzerner Justiz angelegt – und einen wichtigen Teilsieg errungen. (Bild: ida)

Wenn die Luzerner Polizei jemanden festnimmt, wurde immer eine Leibesvisitation durchgeführt, bei der sich die Personen ausziehen mussten. Diese Praxis verstösst gegen die Menschenrechte. Jetzt ändert sie ihr Vorgehen – dank der ehemaligen Politikerin Heidi Joos.

Wer behauptet, von amtlichen Stellen misshandelt worden zu sein, hat Anspruch darauf, dass diese Vorwürfe vertieft untersucht werden. Im Fall von Heidi Joos hat die Luzerner Staatsanwaltschaft das nur ungenügend gemacht. Zu diesem Schluss kommt das Bundesgericht.

Die ehemalige Politikerin hatte im Mai 2020 mit einer Mahnwache gegen die Corona-Massnahmen demonstriert. In Zusammenhang mit einer Polizeikontrolle wurde sie im Anschluss daran verhaftet (zentralplus berichtete).

Nackt ausziehen: Ist das wirklich nötig?

Auf dem Polizeiposten musste sie sich zuerst oben- und dann untenrum entkleiden. Sie sagt, die Leibesvisitation habe nur dazu gedient, sie zu schikanieren, zu demütigen und zu erniedrigen. Was ist da dran?

Das Bundesgericht sagt klar: Die Polizei darf nur dann Beschuldigte entkleiden, wenn dies im konkreten Einzelfall verhältnismässig, also nötig und zumutbar ist. Bloss: Als die Polizistinnen dazu befragt wurden, verwiesen sie auf eine Dienstanweisung der Luzerner Polizei. Diese besage, dass bei «eingebrachten Personen» grundsätzlich eine Leibesvisitation durchgeführt werde.

Deshalb liege keine Amtsanmassung vor. Die Polizisten hätten gemacht, was ihnen befohlen wurde.

Staatsanwaltschaft übernimmt Narrativ der Polizei

In der Dienstanweisung war keine Rede davon, dass im Einzelfall abgewogen wird, ob ein derartiger Eingriff in die Persönlichkeitsrechte eines Menschen gerechtfertigt ist. Das geht nicht, wie das Bundesgericht klar festhielt. Es sagt, es sei «nicht einsichtig», warum es nicht ausgereicht hätte, die damals 65-jährige Frau über den Kleidern abzutasten, um eine Eigen- oder Fremdgefährdung auszuschliessen.

«Unter diesen Umständen kann keinesfalls davon gesprochen werden, es liege ein klarer Sachverhalt vor.»

Aus dem Urteil des Bundesgerichts

Die Staatsanwaltschaft hat das Verfahren gegen die Polizistinnen mit dem Verweis auf die angebliche Dienstanweisung kurzum eingestellt. Ohne überhaupt zu überprüfen, ob diese tatsächlich existiert und wie sie genau lautet, so das Bundesgericht.

Heidi Joos war 20 Stunden in einer Zelle ohne Tageslicht

Auch beim zweiten Vorwurf von Joos – der Freiheitsberaubung – hat es sich die Staatsanwaltschaft Luzern aus Sicht des Bundesgerichts zu einfach gemacht. Die ehemalige Politikerin war nach ihrer Festnahme nämlich volle 20 Stunden in einer Zelle. Gemäss Bundesgericht ist das «nahe an der Grenze der maximal zulässigen Dauer».

Joos hatte den Eindruck, dass die Polizei sie wegen ihres Engagements für die Grundrechte habe abstrafen wollen. Die Luzerner Polizei wiederum sagt, sie habe die Zeit gebraucht, um eine Befragung der ehemaligen Politikerin vorzubereiten. Wer hat recht?

Das kann keiner beantworten, auch nicht das Bundesgericht. Der Grund: Es ist unklar, wie genau der Fall in der Zeit zwischen 16 und 7 Uhr bearbeitet wurde, während Heidi Joos in der Zelle sass. Die Staatsanwaltschaft Luzern hielt es nicht für nötig, die zuständige Mitarbeiterin bei der Haftleitstelle zu befragen. «Unter diesen Umständen kann keinesfalls davon gesprochen werden, es liege ein klarer Sachverhalt vor», rüffelt das Bundesgericht in seinem Urteil.

Bundesgericht zwingt Staatsanwaltschaft zum Nachbessern

Heisst: Der Fall geht zurück an den Absender. Das Bundesgericht hob die Einstellungsverfügungen gegen zwei der Polizistinnen auf und schickte die Sache zurück ans Kantonsgericht Luzern.

Dieses hatte der Staatsanwaltschaft nämlich zunächst den Rücken gestärkt. Erst auf Druck der Bundesgerichts werden die Vorwürfe nun also nochmals untersucht. Aktuell ist der Fall Heidi Joos bei der Staatsanwaltschaft hängig, weshalb die stellvertretende Oberstaatsanwältin Gisela Jaun inhaltlich noch nicht Stellung nehmen kann.

«Dienstbefehle richten sich nach der Entwicklung der Rechtsprechung. Sie werden daher regelmässig dem neuesten Stand angepasst.»

Stellvertretende Oberstaatsanwältin Gisela Jaun

Sie betont, dass die zuständige Staatsanwaltschaft den Wortlaut des Dienstbefehls der Luzerner Polizei durchaus kannte. Diese werden durch die Oberstaatsanwaltschaft visiert, bevor sie in Kraft treten. Im Verfahren sei das Dokument lediglich nicht formell ediert worden, weil dieses als bekannt vorausgesetzt wurde.

Abtasten reicht in den meisten Fällen völlig aus

Inzwischen ist der Dienstbefehl aber geändert worden. Wie aus einem Bericht der Nationalen Kommission zur Verhütung von Folter hervorgeht, wurde er im Mai 2021 geändert – also gut ein Jahr nach der Festnahme von Heidi Joos.

Zwar müssen weiterhin alle Personen, die festgenommen werden, körperlich durchsucht werden. Dies aus Sicherheitsgründen, damit sie sich selber oder anderen nichts antun können. Neu müssen die Polizistinnen aber je nach Situation entscheiden, ob sie die Person lediglich über der Kleidung abtasten, ob sie sich bis auf die Unterwäsche entkleiden muss oder ob eine Leibesvisitation mit vollständiger Entkleidung in zwei Phasen durchgeführt wird.

Dabei müssen sie abwägen, was im konkreten Fall verhältnismässig ist. Dabei ist unter anderem das Alter zu berücksichtigen. Das Kantonsgericht hat beispielweise letztes Jahr entschieden, dass die Polizei zu weit ging, als sie eine 72-jährige Frau anwies, sich erst oben- und dann untenrum nackt auszuziehen (zentralplus berichtete).

Polizei ist zuständig, die Staatsanwaltschaft visiert

Der Input für die Praxisänderung kam gemäss Gisela Jaun von der Oberstaatsanwaltschaft. «Dienstbefehle richten sich nach der Entwicklung der Rechtsprechung. Sie werden daher regelmässig dem neuesten Stand angepasst, wobei die Zuständigkeit für den Erlass und die Anpassung der Dienstbefehle bei der Polizei liegt», so Jaun.

«Ich finde es skandalös, dass die Verantwortlichen die Praxis nicht längst geändert haben, obwohl sie vom Bundesgericht schon vor Jahren darauf hingewiesen wurden, dass sie rechtswidrig ist.»

Heidi Joos

Heidi Joos fällt es schwer zu glauben, dass sich die Luzerner Polizei am neuesten Stand der Rechtsprechung orientiert. Sie erinnert an einen Fall, der vor vier Jahren schweizweit Schlagzeilen gemacht hat. Damals hatte die Luzerner Polizei im Rahmen einer Aktion gegen Taschendiebstahl ein homosexuelles Paar festgenommen. Einer der beiden musste sich auf dem Posten nackt ausziehen. Obwohl längst feststand, dass er kein Taschendieb war.

Der Betroffene fühlte sich gedemütigt – auch weil der zuständige Polizist ihn duzte und rassistische Äusserungen gemacht haben soll. Und das Bundesgericht gab ihm recht. Es hielt schon damals glasklar fest, dass ein Abtasten über den Kleidern ausgereicht hätte, um Waffen oder andere gefährliche Gegenstände zu finden. Der Grundsatz der Verhältnismässigkeit müsse berücksichtigt werden. Die Leibesvisitation sei widerrechtlich gewesen.

«Posten-Strip» wurde 2017 trotz Urteil nicht abgeschafft

«Luzerner Polizei schafft den Posten-Strip ab», titelte daraufhin der «Blick». Das bewahrheitete sich jedoch nicht. Zwar wurde offenbar das zweistufige Entkleiden eingeführt. Doch der Dienstbefehl bot weiterhin keinen Spielraum für Verhältnismässigkeit. Ausziehen mussten sich weiterhin alle, die in eine Zelle gebracht wurden.

Heidi Joos macht das wütend. «Ich finde es skandalös, dass die Verantwortlichen die Praxis nicht längst geändert haben, obwohl sie vom Bundesgericht schon vor Jahren darauf hingewiesen wurden, dass sie rechtswidrig ist», sagt sie auf Anfrage von zentralplus.

Sie sei stolz, dass ihr Widerstand nun den Praxiswechsel erzwungen habe. Verbunden war dies mit hohen Gerichts- und Anwaltskosten, aber auch einer hohen psychischen Belastung, die solche Prozesse mit sich bringen. Joos sagt: «Wir – ich und auch das damals betroffene Paar – haben einen hohen Preis dafür gezahlt.»

Verwendete Quellen
  • Urteil 6B_1062/2021 des Bundesgerichts
  • Urteil 2N 22 80 / 2N 22 81 des Kantonsgerichts Luzern
  • Urteil 2N 21 4/2N 21 5/2N 21 6/2U 21 2/2U 21 3/2U 21 4 des Kantonsgerichts Luzern
  • Mailkontakt mit Simon Kopp
  • Treffen mit Gisela Jaun und Simon Kopp
  • Telefonat mit Heidi Joos
  • Bericht der Nationalen Kommission zur Verhütung von Folter
  • Urteil 1B_176/2016 des Bundesgerichts von 11. April 2017
  • Artikel in der «Sonntagszeitung», online gefunden auf lu-wahlen.ch
  • Artikel im «Blick»
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7 Kommentare
  • Profilfoto von Eli
    Eli, 03.11.2022, 14:37 Uhr

    Heidi Joos ist eine starke Frau aber leider hatte sie mit solche Unmenschlichkeit zu kämpfen..alles wäre leichter gewesen wenn die Staatsanwaltschaft korrekt gehandelt hätte und nicht immer die Polizei in Schutz nehmen würde. Die Luzerner Polizei erlaubt sich viele Sachen, sogar auch schwangere Frauen grob anpacken, danach wurde das Opfer zum Täter gemacht und beschuldigt wegen Drohung und Gewalt.
    Unverschämtheit was sie sich alles erlauben, weil die Polizei sehr starken Schutz hat, nämlich die Staatsanwaltschaft.
    Danke Heidi Joos für jeden Schritt und Hilfe

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  • Profilfoto von Willi
    Willi, 29.10.2022, 21:34 Uhr

    Danke Heidi Joss👍

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    Bennie B., 29.10.2022, 21:20 Uhr

    In Luzern gilt das Säuhäfeli-Säudeckeli-Prinzip, wie man sieht. Die Staatsanwaltschaft stellt zu Gunsten der Polizei ein Verfahren ein. Das KG deckt die Staatsanwaltschaft und den laut Gesetz amtsmissbräuchlichen Unfug der Luzerner Polizei.

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    Ewatch, 29.10.2022, 15:54 Uhr

    Frau Joos steht dafür eine Entschädigung zu! Was sich die Polizei trotz rechtswidriger Praxis weiterhin erlaubt hat, bewirkte bei der Betroffenen sehr viel Schmach und Leid. Sie ist für alle Kosten zu entschädigen und soll eine aufrichtige Entschuldigung erhalten. Warum tut sich die Behörde grundsätzlich dabei so schwer?

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    Brummbär, 29.10.2022, 15:17 Uhr

    Die Luzerner Polizei kommt einmal mehr schlecht weg und wird auch dieses Mal alles kleinreden mit… „wir pflegen eine offene Fehlerkultur. Werden Fehler begangen, werden diese besprochen. Kritik und Anerkennung nutzen wir als Chance zur Verbesserung“… das reicht schlicht nicht mehr! Müssen wir dafür auf die Strasse und für unsere Rechte demonstrieren? Die sollen endlich die Verantwortung wahrnehmen und sich bei den Betroffenen entschuldigen!

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    schaltjahr, 29.10.2022, 13:31 Uhr

    Herzlichen Dank für Ihren mutigen und sicher auch belastenden Kampf gegen die selbstgefälligen und eigenmächtigen Luzerner Behörden .. 👍

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  • Profilfoto von Beat Bieri
    Beat Bieri, 29.10.2022, 13:19 Uhr

    Ich teile die Ansichten von Heidi Joos zu Corona mitnichten. Doch was ihr hier durch die Luzerner Polizei und Staatsanwaltschaft widerfahren ist, ist unsäglich: Es ist offenkundig, dass in diesem Fall ein solches Vorgehen allein der Erniedrigung und Demütigung dient. Anlass ihrer Festnahme und das anschliessende menschenverachtende Prozedere stehen in keinem Verhältnis, eine Polizei ausser Rand und Band.

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