Stress, Ehrgeiz und Geschlechtsidentität

Zuger Psychiater so stark ausgelastet wie noch nie

Immer mehr Jugendliche und junge Erwachsene müssen sich wegen psychischen Problemen behandeln lassen. Jörg Leeners, Chefarzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie, erlebt die Jugend teils übermotiviert. (Bild: zvg)

Die Psychiatrien in Zug, Uri und Schwyz verzeichnen im Jahr 2022 eine Rekordzahl an ambulanten Patienten, vor allem Junge sind stark betroffen. Ein Chefarzt erklärt, womit diese zu kämpfen haben.

Noch nie mussten sich so viele Zuger, Urnerinnen und Schwyzer in psychiatrische Behandlung begeben wie im Jahr 2022. Das zeigen neueste Zahlen von Triaplus. Die AG ist zuständig für die psychiatrische Grundversorgung in den Kantonen Zug, Schwyz und Uri.

Insbesondere die Kinder- und Jugendpsychiatrie sei stark ausgelastet. «Früher hatten wir pro Regionalstelle zwei Notfälle pro Monat, heute sind es zwei pro Woche», sagt Jörg Leeners, Chefarzt der Kinder- und Jugendpsychiatrie Uri, Schwyz und Zug. Teilweise seien diese Notfälle lebensbedrohlich. Das habe Folgen: Die Ärzte hätten nicht akute Abklärungen, etwa für ADHS oder Autismus, zurückstellen müssen. Mehr als verzehnfacht hätten sich die Wartezeiten in der Psychiatrie. Teilweise betrügen diese neun Monate.

«Ich erlebe die Jugendlichen motiviert und ehrgeizig, fast zu motiviert. Das kann für die Jugendlichen zu viel werden.»

Jörg Leeners, Chefarzt der Kinder- und Jugendpsychiatrie Uri, Schwyz und Zug

Mädchen sind besonders betroffen

Bemerkenswert sei insbesondere der Anstieg an Behandlungen bei Mädchen. Das entspricht der gesamtschweizerischen Entwicklung. Psychische Probleme bei Mädchen und jungen Frauen waren im Jahr 2021 in der Schweiz erstmals die häufigste Ursache für eine Hospitalisierung. «Jungs reagieren häufiger mit aggressivem Verhalten, Mädchen schlucken Probleme eher herunter und werden dadurch stiller, depressiver», erklärt Leeners.

Leeners gibt allerdings zu bedenken: «Aggressiv ist quasi die männliche Form, depressiv zu sein.» Offenbar führt dies aber seltener zu einer Hospitalisierung. «Die Emotionen hinauszulassen ist besser, als diese zu internalisieren», findet Leeners.

Der gesteigerte Behandlungsbedarf bei jungen Personen komme auch daher, dass diese heute offener über psychische Gesundheit reden würden. Das sei aber ein zweischneidiges Schwert: «Einerseits ist es gut, dass man darüber sprechen kann», sagt Leeners. Andererseits könne dies dazu führen, dass man sich in einer Blase verfangen würde, in der es nur noch um das psychische Leiden gehe. «Es gibt beispielsweise Chatgruppen für magersüchtige Mädchen. Zum Teil helfen sich die Betroffenen damit nicht. Im Gegenteil. Es kann ein Wettkampf werden, wer die Dünnste ist.»

«Ich habe noch nie eine plausible Erklärung gesehen, weshalb die Belastung auch nach Ende der Pandemiemassnahmen noch immer so hoch ist.»

Jörg Leeners, Chefarzt der Kinder- und Jugendpsychiatrie

Psychische Krankheiten seien auch konjunkturabhängig, erklärt Leeners. Derzeit stelle er fest, dass die Thematik rund um Geschlechtsidentität sehr aktuell sei. «Man ist nicht cool, wenn man nicht nur hetero oder nur homosexuell ist.» Er sehe Jugendliche, die sich in einer Blase sehr damit beschäftigen würden. «Dann kann das eine Wichtigkeit erzeugen, die vielleicht zu viel ist. Somit müssen wir in Gesprächen ergründen, was der Grund für die intensive Auseinandersetzung mit diesem Thema ist. So kann sich dahinter etwa eine Depression verstecken.»

Stationärer Bereich ist auch 2023 stark ausgelastet

Medienberichte haben während der Pandemie die psychische Gesundheit stark thematisiert. Die Belastung war für Jugendliche und junge Erwachsene während der Pandemie gross. Dementsprechend habe Jörg Leeners gedacht, dass die Belastung nach Ende der Pandemiemassnahmen wieder dem Trend von vor der Pandemie folgen werde. Doch er hat sich getäuscht: «Auch andere Chefärzte bestätigen mir: Dies ist nicht der Fall.» Ebenso im stationären Bereich sei die Auslastung – über alle Altersgruppen hinweg – im Jahr 2023 «konstant hoch».

Weshalb die Belastung auch über ein Jahr nach Ende der Pandemiemassnahmen anhaltend hoch ist, kann sich Leeners nicht erklären. «Es gibt Forscher, die sich mit dieser Frage beschäftigen. Ich habe aber noch nie eine plausible Erklärung gesehen, weshalb die Belastung noch immer so hoch ist.»

Psychische Krankheiten stiegen während der Pandemie also sprunghaft an. Davor gab es während zwei Jahrzehnten ebenfalls einen konstanten Anstieg. Die grundsätzlich steigende Belastung kann laut Leeners verschiedene Gründe haben. «Die Jugendlichen wollen alles gut machen. Sie wollen im Beruf und in der Schule erfolgreich sein. Dieser Perfektionismus belastet die Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Gleichzeitig gibt es viele Ängste, etwa bezüglich des Klimawandels.» Leeners erlebe die Jugendlichen «motiviert und ehrgeizig, fast zu motiviert», wie er im Gespräch sagt. «Das kann für die Jugendlichen zu viel werden.»

Wartelisten sind noch immer deutlich länger als vor der Pandemie

Immerhin: Es gibt Signale, wonach sich die Situation in der psychiatrischen Grundversorgung langsam zu entspannen beginnt. Die Wartelisten werden kürzer. Je nach Standort müssen Betroffene aber immer noch mindestens vier Wochen, maximal sechs Monate auf einen Termin warten. Vor der Pandemie waren es üblicherweise zwei bis drei Wochen.

Durch Entscheide des Zuger Verwaltungsgerichts wurde publik, dass die Klinik am Zugersee in zwei Fällen die formellen Vorgaben für eine Zwangsmedikation nicht einhielt.
Die Klinik Zugersee behandelt seit diesem Jahr auch Jugendliche ab 16 Jahren. (Bild: Andreas Busslinger)

In der ambulanten Erwachsenenpsychiatrie sowie in der Kinder- und Jugendpsychiatrie konnte Triaplus im vergangenen Jahr Stellen aufstocken. Keine einzige offene Stelle gebe es derzeit in der Kinder- und Jugendpsychiatrie, sagt Leeners. Eine Seltenheit, so der Chefarzt. «Wir sind im Schweizer Vergleich so ziemlich die Einzigen, die alle Stellen besetzt haben.» Neu werden ab diesem Jahr in der Klinik Zugersee zudem auch Jugendliche ab 16 Jahren behandelt.

Ein Pilotprojekt in der Erwachsenenpsychiatrie startet in diesen Tagen. «Integrierte Unterstützung nach wiederholten Klinikaufenthalten», kurz Intuk, heisst das Projekt. Das Ziel: verhindern, dass Betroffene wieder in die Klinik kommen müssen. «Es ist für alle Beteiligten besser, wenn es weniger stationäre Aufenthalte gibt», so Leeners. Ein Team wird ehemalige Betroffene nach dem Klinikaufenthalt direkt betreuen. Oftmals zu Hause bei den ehemaligen Patienten. Neben einem Arzt, einem Sozialarbeiter und einer Pflegefachfrau besteht das Team auch aus sogenannten «Peers». Das sind ehemalige Betroffene, die ähnliche Situationen bereits durchlebt haben. «Dadurch sind diese sehr glaubhaft», sagt Jörg Leeners.

Verwendete Quellen
  • Telefonat mit Jörg Leeners, Chefarzt der Kinder- und Jugendpsychiatrie
  • Schriftlicher Austausch mit der Kommunikationsstelle
  • Onlineartikel zum Jahresbericht
  • Medienmitteilung
  • Medienmitteilung des Bundesamts für Statistik, Dezember 2022
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2 Kommentare
  • Profilfoto von Brummbär
    Brummbär, 03.06.2023, 12:42 Uhr

    Die plausible Erklärung findet der Chefarzt vielleicht nicht in der Psychologie/Psychiatrie, da lohnt sich ein Blick in die Soziologie. Corona hin oder her, die Beschleunigung des sozialen Wandels bringt zwar ganz viele Freiheiten für uns, wirkt aber auch als Triebfeder zur Erhöhung des Lebenstempos. Wir haben sehr viele Wahlfreiheiten, müssen Entscheidungen fällen und die Erwartungen an uns sind hoch. Viele können sich darin nicht mehr orientieren; die Freiheit hat ihren Preis! Gerade Mädchen, die perfektionistisch ausgerichtet sind, leiden besonders darunter.

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  • Profilfoto von Marie-Françoise Arouet
    Marie-Françoise Arouet, 01.06.2023, 12:42 Uhr

    Psychiatrische Bahandlungen wegen „Geschlechtsidentität“ seien „konjunkturabhängig“ und boomten zur Zeit wegen der Blasen, in denen solches Zeug verhandelt wird. Man müsste die Leute, die solche Theorien verbreiten und sogar propagieren voll dafür verantwortlich machen, juristisch verfolgen und zur Kasse (Krankenkasse) bitten.

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