Projekt «(H)Auszeit»

Wo Mamas und Papas wieder stabil werden können

Sévérine Bächtold Sidler ist die Projektinitiantin von Hauszeit. (Bild: zvg) (Bild: zvg)

Stressgeplagte Eltern aus der ganzen Deutschschweiz kommen in einem Surseer Altbau zur Ruhe. «Hauszeit» nennt sich das aussergewöhnliche Projekt. Ein Gespräch mit Initiantin Sévérine Bächtold Sidler über Beweggründe, Nachahmer und Pläne für die Zukunft.

Frisch gefilzte Fliegenpilze werden abgeräumt und ein dampfendes Mango-Tofu-Curry mit knackigem Rüeblisalat wird aufgetischt. Die Gespräche sind angeregt – am Nachmittag stehen Atemtherapie und Yoga an –, die Atmosphäre ist herzlich. Und das trotz oder gerade wegen der schwierigen Umstände, die alle Anwesenden hierher geführt haben, in der landesweit ersten WG für burnoutgefährdete Eltern, in einem Altbau mitten im Städtli Sursee. Schmerzhafte Trennungen, langwierige Krankheiten, chronische Schlaflosigkeit – alles das und noch mehr sitzt hier am ausladenden Esstisch. 

So ähnlich könnte es sich am Mühleplatz 1 in Sursee zutragen. Weil Hauszeit – so nennt sich dieses ungewöhnliche Projekt – aber auf den Datenschutz sämtlicher Gäste pocht, blieb uns ein Einblick ins Innere von Hauszeit mit Herz für erschöpfte Eltern verwehrt. Immerhin gibt uns ein Musterwochenplan Einblicke in die vielfältigen Aktivitäten. Ausserdem gibt Projektinitiantin Sévérine Bächtold Sidler freimütig Auskunft – dies allerdings in einem unlängst eröffneten Café in Sursee.

Niederschwelliges Angebot läuft «leider» sehr gut

«Wer nicht zu sich schaut, kann auch nicht zu anderen schauen», erklärt Bächtold Sidler den Grundgedanken hinter dem Projekt. Eine «instabile Mama oder ein instabiler Papa» hätten weitreichende Auswirkungen auf die ganze Familie. Und darum will man in Sursee genau hier ansetzen: Bis zu fünf Gäste können hier gleichzeitig zur Ruhe kommen, sich während maximal 6 Wochen aufladen, sortieren – und wieder wappnen für die Rückkehr in den Alltag. Um sich einen Platz zu sichern, braucht es lediglich einen Telefonanruf – und etwas Glück. 

Denn das Auszeit-Haus ist oft ausgebucht, «es läuft sehr gut», so Bächtold Sidler, «leider!» – Zaubern andernorts volle Zimmer den Betreiber ein Lächeln ins Gesicht, so sind es bei Hauszeit eher Sorgenfalten. Hinter der grossen Nachfrage stecken riesiger Leidensdruck bei den Eltern und ein generelles Gesellschaftsproblem.

Dreh- und Angelpunkt der Hauszeit: Der Esstisch. (Bild: zvg)

Orientierungslosigkeit, Depressionen, Burnout. Eine Welt, die immer schneller dreht, Anforderungen von aussen und an sich selbst, die allenthalben anwachsen, verstärkt durch die Schönfärberei auf Social Media – mit den Resultaten dieser Entwicklung sieht sich Bächtold Sidler immer wieder konfrontiert. Nicht zuletzt auch in der eigenen Praxis – denn die ausgebildete Kindergärtnerin aus Sursee ist nicht nur Initiantin und Geschäftsführerin von Hauszeit und alleinerziehende Mutter von fünf Kindern (eines davon ein Pflegekind) und Kinderbuchautorin und Yogainstruktorin und Craniosacral-Therapeutin, sondern auch selbstständiger Coach und Traumatherapeutin. 

Projekt mit langem Vorlauf

Ein erstes Konzept für Hauszeit verfasste Bächtold Sidler deshalb schon fast vor einer Dekade. Aus der Schublade zog sie dieses aber erst wieder vor gut zweieinhalb Jahren. Nach einem erneuten herzzerreissenden Fall in ihrer Praxis war die Gewissheit gereift: Jetzt ist genug! Jetzt muss gehandelt werden! Und so entstand mit viel Herzblut und Aufwand Hauszeit, jenes Elternhaus, welches bereits seit mehr als einem halben Jahr Gäste aus der ganzen Deutschschweiz empfängt – «von der klammen alleinerziehenden Mutter bis zur Managerin», so Bächtold Sidler. Und auch zwei «Papas» hätten hier auch schon eine Verschnaufpause einlegen können. 

Betroffenheit mobilisiert

Nicht nur gestresste Eltern haben sich seither für das Angebot interessiert, sondern auch solche, die darin eine lukrative Geschäftsidee erkannt haben wollen. Erinnert sich Bächtold Sidler an solche Fälle, dann muss sie unweigerlich schmunzeln. Denn als Businessmodell taugt Hauszeit herzlich wenig. Zum einen sind die veranschlagten Tarife von 350 bis 1100 Franken pro Woche (je nach Einkommen) sehr tief. Zum anderen sind für Tagesstruktur und psychologische Betreuung insgesamt rund 40 Helferinnen und Helfer im Einsatz. Allesamt ehrenamtlich. «Wenn ich das potenziellen Nachahmern erkläre, verfliegt ihr Interesse ziemlich schnell.» 

Dabei kommt Hilfe zuweilen auch von ziemlich weit her. Zum Team gehört etwa auch eine Pensionärin aus der Ostschweiz, die jeden Monat gleich für ein paar Tage nacheinander für das leibliche Wohl in der Auszeit-Haus sorgt. «Nicht zuletzt aus persönlicher Betroffenheit», weiss Bächtold Sidler. Nur zu viele Helferinnen und Helfer hätten sich in ähnlichen Situationen wiedergefunden wie die ausgebrannten Eltern, hätten gerne auf ein solches Angebot zurückgegriffen. Das erklärt auch, warum trotz der teils anspruchsvollen Arbeit zum Nulltarif bisher kaum Leute abgesprungen sind.

Gesucht: Stabile Finanzierung

Auch wenn dieser grosse Helfereinsatz Bächtold Sidler einmal mehr vor Augen geführt hat, dass es auch in der heutigen Zeit keinesfalls an guten Menschen fehlt, so möchte sie sich auf die lange Dauer mit Hauszeit nicht von Spende zu Spende hangeln und auch die Arbeit der Helfer mit mehr als einem kräftigen Händedruck gefolgt von einem herzlichen Dankeschön vergüten. Den mit bis zu 75'000 Franken dotierten Zukunftspreis der Luzerner Kantonalbank würde die 45-jährige Surseerin deshalb liebend gern in Empfang nehmen. Die Chancen dazu stehen nicht schlecht. Mit aktuell fast 800 Stimmen steht das Projekt Hauszeit derzeit an zweiter Stelle.

Farben im Dachgarten der Hauszeit. (Bild: zvg)

Aber auch sonst seien Investoren «sehr willkommen». Diese Mittel könnten denn auch einen weiteren Zukunftstraum Realität werden lassen: Ein Haus, in dem Eltern samt Kindern für eine begrenzte Zeit Unterschlupf finden. Bächtold Sidler ist sich sicher: Auch danach ist die Nachfrage gross.   

Verwendete Quellen
  • Gespräch mit Sévérine Bächtold Sidler
  • Website von Hauszeit
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3 Kommentare
  • Profilfoto von Karl-Heinz Rubin
    Karl-Heinz Rubin, 21.05.2023, 05:42 Uhr

    Ein sicher sehr gute Sache.
    Gut zu wissen wäre und dies wurde im Artikel nicht erwähnt:
    Wer bezahlt den Lohnausfall der Eltern und wer übernimmt die Betreuung der Kinder wenn ein Elternteil sich eine Auszeit nimmt.
    Und warum werden Eltern von Kindern mit Handicap nicht erwähnt.
    Gerade solche Eltern sollten besonders erwähnt zu werden.

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    • Profilfoto von Marie-Françoise Arouet
      Marie-Françoise Arouet, 22.05.2023, 13:31 Uhr

      Was Sie je jetzt getan haben. Danke.

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  • Profilfoto von Richard Ephraim Scholl
    Richard Ephraim Scholl, 20.05.2023, 19:38 Uhr

    Mamas und Papas. Ein neudeutscher Plural, der sicher nicht an Primarschulen gelehrt wird. Woher haben unsere Medienschaffend*innen den Drang, sich der deutschen Sprache zu schämen? (Mütter und Väter gibts tschendermässig nicht mehr, nicht wahr?)

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