Luzerner Justiz stellt Ermittlungen ein

Fall Emmen: Experte bezweifelt, dass Täter unauffällig bleibt

Jérôme Endrass sagt, die Hoffnung, den Täter eines Tages zu schnappen, sei nicht unbegründet.

(Bild: Screenshot SRF)

Die Akte im Fall Emmen wird vorläufig geschlossen. Der Täter bleibt auf freiem Fuss. Zurück bleibt eine brutale Tat, die fassungslos macht. Das Mitleid mit dem Opfer wird abnehmen, sagt ein Professor. Und der Fall verneble das Bild auf die wahren Bedrohungen.

Die Ermittlungen im Fall Emmen werden eingestellt. Diese Woche hat die Luzerner Staatsanwaltschaft mitgeteilt, dass keine neuen Ermittlungsansätze mehr vorliegen (zentralplus berichtete). Was bedeutet dieser Entscheid für das Opfer? Und wie geht die Gesellschaft damit um, dass Täter auf freiem Fuss bleiben? Jérôme Endrass (47), Professor für forensische Psychologie und Stabschef des Zürcher Amts für Justizvollzug, nimmt im Interview Stellung.

zentralplus: Jérôme Endrass, die Ermittlungen im Fall Emmen werden eingestellt. Der Täter bleibt auf freiem Fuss. Was bedeutet diese Nachricht für das Opfer?

Jérôme Endrass: Das Ohnmachtsgefühl ist bei Direktbetroffenen sehr zentral. Die Reaktionen können unberechenbar sein. Die Emotionen sind dann schwer zu kontrollieren. So ist es zum Beispiel denkbar, dass das Opfer sich noch hilfloser fühlt und überall Gefahren wittert.

zentralplus: Diese schockierende Tat macht immer noch ratlos.

Endrass: Häufig reagieren die Bevölkerung und das Umfeld zunächst mit Mitleid. Man kann jetzt nur hoffen, dass dieses anhält. Ich beobachte jedoch oft, dass das Verständnis für die Leiden der Opfer mit der Zeit sinkt. Es gibt eine kurzfristige Solidarisierung mit dem Opfer. Wenn es aber etwa um finanzielle Entschädigungen geht, sind alle zurückhaltend. Und auch bei juristischen Prozessen ist die Stellung des Opfers nicht besonders gut, etwa was die Übernahme von Prozesskosten betrifft.

zentralplus: Was löst das Einstellen der Ermittlungen bei der breiten Bevölkerung aus?

Endrass: Entscheidend ist, wie kommuniziert wird. Im Fall Emmen handelt es sich um eine aussergewöhnlich schwere Tat. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein solches Ereignis wieder eintritt, ist gering. Und das, obwohl der Täter frei herumläuft und jederzeit wieder zuschlagen könnte.

«Dass sich Menschen rascher bedroht fühlen, hat also vor allem mit dem Zeitgeist zu tun.»

zentralplus: Dass der Täter frei herumläuft, wirkt doch für viele bedrohlich?

Endrass: Man muss unterscheiden zwischen der echten und der wahrgenommenen Bedrohung. Die Kriminalität in der Schweiz ist rückläufig oder auf einem tiefen Niveau stabil geblieben. Grundsätzlich kann man sich sicher fühlen. Allerdings ist die Toleranz gegenüber Straftaten sinkend. Dass sich Menschen rascher bedroht fühlen, hat also vor allem mit dem Zeitgeist zu tun und weniger damit, ob ein Straftäter mehr oder weniger gefasst wird.

zentralplus: Ist es richtig, die Ermittlungen einzustellen?

Endrass: Das kann ich nicht beurteilen. Die Staatsanwaltschaft hat viel investiert. Jetzt ist man zum Schluss gekommen, dass neue Ermittlungen nichts mehr bringen. Die Ermittlungen haben sicherlich Millionen gekostet. Die Ressourcen sind endlich. Mit dieser Realität ist man tagtäglich konfrontiert und es ist auch nicht zynisch, die Finanzen als Faktor miteinzubeziehen. Geld spielt eine Rolle. Wegen dem Fall Emmen blieben andere Fälle liegen. Dasselbe sieht man übrigens auch in der Terrorismusbekämpfung. Hätte man unendliche Ressourcen und könnte man alle potenziellen Täter stetig beobachten, würde das Risiko eines Anschlags minimiert. In der Realität leben wir jedoch damit, dass wir eine Abwägung vornehmen und dadurch auch ein gewisses Risiko in Kauf nehmen müssen.

zentralplus: Trotzdem muss man festhalten: Die Ermittlungen waren nicht erfolgreich, man ist gescheitert.

Endrass: Den Täter zu fassen, ist natürlich ein Ziel von Ermittlungen. Ein zweites Ziel ist jedoch auch das generelle Zeichen, dass man Straftaten nicht akzeptiert. In diesem Fall ist dieser Aspekt sehr wichtig. Der Aufwand, den man betrieben hat, war riesig – ich denke an die DNA-Massentests oder die Handyauswertungen. Die Leute nehmen das so wahr. Auch wenn ein Täter auf freiem Fuss bleibt, entsteht kein Bild einer chancenlosen Justiz.

«Dass ein Täter nach einer so brutalen Tat in normale, unauffällige Verhältnisse zurückkehrt, halte ich für ausgeschlossen.»

zentralplus: Die Hoffnung, den Täter doch noch zu fassen, lebt jedoch weiter.

Endrass: Absolut und nicht unbegründet, auch wenn man aktiv nicht mehr viel machen kann. Die DNA-Spuren hat man ja und es kann durchaus sein, dass der Täter bei einem anderen Delikt seine DNA wieder hinterlässt. Dass ein Täter nach einer so brutalen Tat in normale, unauffällige Verhältnisse zurückkehrt, halte ich für ausgeschlossen.

zentralplus: Hoffnungen macht man sich auch wegen einer Gesetzesanpassung, die mehr Rückschlüsse von der DNA auf das Aussehen zulassen soll.

Endrass: Da bin ich eher skeptisch. Technisch stösst man irgendwann an eine Grenze. Und jedes neue System bringt neue Fehlerquellen.

zentralplus: Was bleibt vom Fall zurück?

Endrass: Ich habe selten von einem solch brutalen Fall gehört. Aber alle Emotionen, die dieser Fall auslöst, decken sich nicht mit der realen Gefahr. Es ist tragisch und ich verstehe, wenn speziell bei Frauen Ängste entstehen. Trotzdem muss man bedenken, dass der grösste Teil der sexuellen Übergriffe und Nötigungen innerhalb einer Beziehung stattfinden. Dort ist die Gefahr viel höher.

Der Fall Emmen

Ein Unbekannter hatte am 21. Juli 2015 bei Emmen an der Reuss eine 26-jährige Frau vom Velo gerissen und in einem nahen Waldstück vergewaltigt. Die Frau erlitt bei dem Überfall schwerste Verletzungen. Ihre Arme und Beine waren laut Behörden nach der Tat gelähmt.

Wer der Täter ist, ist nicht bekannt. Die Ermittler konnten aber unter anderem an den Kleidern des Opfers die mutmassliche DNA des Täters sicherstellen. Zudem soll der Täter nach der Vergewaltigung gegenüber dem Opfer seinen angeblichen Vornamen mit Aaron oder Aron angegeben haben.

Der Fall löste eine der aufwendigsten Ermittlungsaktionen im Kanton Luzern aus. Knapp 10’000 Personendaten wurden überprüft. Die Polizei erhob Tausende Handynummern, die zur Tatzeit im Gebiet des Tatortes aktiv waren. Fast 400 Männer wurden zu einem Massen-DNA-Test geladen. Es wurde eine Belohnung von 20’000 Franken ausgesetzt.

Nebst dem möglichen Namen gab die Polizei weitere Eigenschaften des Täters bekannt: 170 bis 180 Zentimeter gross, 19 bis 25 Jahre alt, eher dunkle Hautfarbe, schwarzbraune, kurze, gekrauste Haare, Raucher. Der Täter sprach gebrochenes Deutsch.

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