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Leben wir in besonderen Zeiten?

Die Normalität war früher auch nicht besser

Anlässlich des 1. August machte sich Michael Töngi Gedanken zu Normalität und Umbruch. (Bild: Emanuel Ammon / AURA)

Vieles ist in den letzten zwei Jahren über uns gekommen. Wir, aber noch viel mehr andere Menschen, erlebten Veränderungen und Herausforderungen, wie sie bis dahin nicht vorstellbar waren. Der Luzerner Grünen-Nationalrat Michael Töngi hat sich dazu an der 1. Augustfeier in Horw Gedanken gemacht.

Als ich in den 1980er-Jahren in die Kantonsschule ging, da schien mir ganz vieles gefestigt zu sein. Es gab den Westen und den Osten, da war eine Mauer dazwischen und das war nicht gottgegeben, aber doch ganz ähnlich. Ich hatte Brieffreundinnen hinter dieser Mauer und besuchte 1988/89 diese Menschen in der DDR. Ich kannte die Nöte und den Ärger über das Regime, ich habe den friedlichen Aufstand nah mitbekommen, aber ehrlich gesagt: Ich war baff und überrumpelt, als die Mauer fiel.

Das war mein erstes politisches Erlebnis, das zeigte, dass sich die Welt in ihren Grundfesten verändern konnte. Und dass unser Denken da manchmal nicht nachkommt, auch wenn in hundert Talkshows im Voraus darüber diskutiert worden ist.

Tatsächlich, wie besonders sind die Zeiten, in denen wir leben?

Und interessanterweise hat sich diese Erfahrung, dass Unvorstellbares geschieht, immer wieder wiederholt: Ich konnte mir den schlimmen Krieg auf dem Boden von Jugoslawien schlicht nicht vorstellen. Viele andere auch nicht, gescheite Kommentatoren sprachen gar von einer Unmöglichkeit, weil doch die Wirtschaft in den verschiedenen Republiken so verflochten war.

Oder wie war das mit dem Fast-Zusammenbruch der UBS 2008? Als Linker war ich diesen Banken immer skeptisch gegenüber, aber ich hielt es für unmöglich, dass sie aufgrund einer falschen Strategie und viel zu riskanten Geschäften derart in Schwierigkeiten geraten könnten.

Trotz Pandemie-Übung – Corona überrumpelte uns alle

Das Gleiche gilt für die Corona-Zeit: Wir wussten, dass eine Pandemie die grösste Bedrohung für die Schweiz ist. Das stand in jedem Lehrbüchlein und der Bund hat 2014 auch eine Pandemie-Übung durchgeführt. Und trotzdem: Wer war darauf gefasst? Wer musste nicht tief einatmen und sich neu orientieren?

Ja, und was am 24. Februar geschah, das hat uns auch überrumpelt. Da war zwar irgendwo im Donbass seit Jahren ein Krieg, aber viele von uns konnten sich nicht vorstellen, dass so nah ein so gewalttätiger Krieg stattfinden würde. Obwohl dieses Beispiel vielleicht gerade deshalb so überraschend war, weil es einem Modell aus dem 19. oder 20. Jahrhundert folgte. Ein plumper, völkerrechtswidriger Angriffskrieg zur Vergrösserung des Territoriums des Angreifers.

Normalität und Umbruchzeiten im Wechsel

Die Normalität hat also immer wieder Brüche erlebt. Könnte ich noch meinen Grossvater mit Jahrgang 1882 befragen, so würde er von turbulenten und schwierigen Zeiten erzählen, die er bis zu seinem Tod 1957 erlebt hatte. Immer wieder mussten wir in Umbruchzeiten, in glücklichen wie schwierigen, wieder eine Normalität finden. Das heisst, die Gesellschaft musste sich in wichtigen Fragen einigen, wie sie miteinander umgeht. Wie Ereignisse gedeutet werden, selbstverständlich in allen Farben und Schattierungen und bei aller Zurückhaltung beim Begriff der Normalität.

Natürlich – die Zeit, in der man lebt, ist immer speziell, denn sie ist die einzige Realität. Aber es ist nicht falsch, diese Zeit auch einzuordnen, damit man nicht vor Schrecken oder vor Lust ins Pathetische und Grosse abgleitet und dort auch hängen bleibt. Das haben wir in den letzten Monaten in vielfacher Ausführung erlebt: Neutralität neu denken! Ein neues Verhältnis zu Europa! Eine Einbindung in ein Militärbündnis! Und, und, und.

Die Schweizer Neutralität hat keine Kontinuität

Einige Politiker haben sich in den grossen Gesten nur so überschlagen. Dabei haben sie vergessen: Die Schweizer Politik hat die Neutralität schon oft geschmeidig den Realitäten – manchmal auch fragwürdigen wirtschaftlichen Interessen – angepasst. Sie hat keine Kontinuität, die irgendwo bei Marignano angefangen hat und stets gleich geblieben ist. Und um unser Verhältnis zu Europa ringen wir jetzt doch schon einige Jahre.

Freudige wie auch schlimme Grossereignisse sollen uns wachrütteln und einige grundsätzliche Fragestellungen in Erinnerung rufen. Wichtig ist aber, dass es dann rasch wieder in die konkrete Umsetzung geht, zum Beispiel gerade bei unserem Verhältnis zu Europa. Und wenn ich mir hier die Diskussion anschaue, habe ich nicht den Eindruck, dass wir in diesem konkreten Thema vorwärtskommen.

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Dieser Blog soll den Politikerinnen und Politikern aus den Kantonen Zug und Luzern Gelegenheit geben, ihre Sicht der Dinge darzustellen. Es wird wöchentlich Bezug genommen zur aktuellen politischen Landschaft Zentralschweiz. Die Meinung von Bloggern und Gastautoren muss nicht mit jener der Redaktion übereinstimmen.
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2 Kommentare
  • Profilfoto von mebinger
    mebinger, 04.08.2022, 12:09 Uhr

    So naiv kann echt nur ein Linksgerichteter Politiker rede, wir mutierten zu einem polizeistaatlichen Bevormundung- und Überwachungsstaat. Der Staat behandelt seine Bürger wie urteilsunfähige Kleinkinder. Georg Orwell hat schon vor 60 Jahren gewarnt das die linke Politik , genau dies anstrebt. Kein Wunder, das ein Grüner die Realität negiert

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    • Profilfoto von Albus
      Albus, 04.08.2022, 12:47 Uhr

      Ah ja, Verdingung und Zwangssterilisation waren also keine Bevormundung?

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