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«Mama, wo liegt Estland?» Homescooling statt Nationalrat

Mein Corona-Tagebuch: Heute von Manuela Weichelt-Picard

Bei den jüngeren Schülern ist der Support der Eltern gefragt. (Bild: Manuela Weichelt-Picard)

Fernunterricht mit Kindern zu Hause statt Session in Bern – Haushalten, Kochen und Unkraut jäten statt Kommissions- und Parteisitzungen. In der Corona-Krise sind Fähigkeiten gefragt, über die ich nur bedingt verfüge. Ich gebe aber mein Bestes und versuche, die «ausserordentlich Lage» mit Humor zu meistern.

Mein Liebes Corona-Tagebuch,

Lese ich da richtig? Da entscheidet das Büro des Parlamentes am 15. März doch tatsächlich, die dritte Woche der eidgenössischen Session wegen Corona abzusagen. Ich bin irritiert. Das Parlament macht sich selbst handlungsunfähig. Was ist das für ein Staats- und Demokratieverständnis in dieser ausserordentlichen Lage?

Es hätten wichtige Themen auf der Traktandenliste gestanden: Überbrückungsleistung für ältere Arbeitslose, das CO2 Gesetz, die Pflegeinitiative. Dass dazu auch noch die Kommissionssitzungen komplett gestrichen wurden, ist schlicht nicht nachvollziehbar. Es gibt in Bundesbern und sogar im Bundeshaus Möglichkeiten, Sitzungen unter Einhaltung der Hygiene- und Abstandsregeln durchzuführen.  

Immerhin: Die Ratsbüros und die Verwaltungsdelegation haben am vergangenen Donnerstag, 26. März, beschlossen, Anfang Mai in den geräumigen Hallen der «Bernexpo» eine ausserordentliche Session durchzuführen. Diese wird der nachträglichen Genehmigung der vom Bundesrat beschlossenen Nachtragskredite gewidmet.

Schule wird neu gedacht

Doch was erzähle ich hier überhaupt? Reden wir doch von der Welt, wie sie sich derzeit gestaltet; von der Alternative, die da heisst: zu Hause bleiben, den Alltag organisieren, das ganze private und berufliche Leben umkrempeln. Improvisieren.

Bei uns läuft es derzeit so: Mein Mann bietet für ein gewerblich-industrielles Bildungszentrum Coachings für Gewerbeschüler an; virtuell oder physisch mit der gebotenen sozialen Distanz. Unsere 16 -jährige Tochter Mia*, Gymnasiastin, arbeitet mal alleine, mal im Team, mal virtuell, mal reell, mal mit, mal ohne Lehrperson fleissig durch den aktuellen Schulstoff. Unsere 11-jährige Tochter Sophie*, 5. Klasse Primarschule, gibt selbstverständlich ebenfalls ihr Bestes und arrangiert sich so gut es geht, mit der ungewöhnlichen Situation.

Zur Autorin

Manuela Weichelt-Picard (Alternative – die Grünen) wurde 2019 als erste Zugerin in den Nationalrat gewählt. Von 2007 bis 2018 führte sie als Regierungsrätin die Direktion des Innern. Die diplomierte Krankenschwester und Sozialarbeiterin verfügt über einen Master in Public Health, ist verheiratet und Mutter von zwei Töchtern.

Schule per Computer ist bei den jüngeren Jahrgängen aber nur beschränkt machbar. Support und Begleitung von uns Eltern ist gefragt. Doch Kompliment! Mit jedem Tag gewinnt der digitalisierte Unterricht dank dem riesigen Engagement der Lehrerschaft und den lernwilligen Schülerinnen an Dynamik. Schule wird gerade neu gedacht.

Und Solidarität ist hoch im Kurs. Unsere vierköpfige Familie zum Beispiel hat sich gleich nach Schulschliessung mit einer anderen Familie zu einem Tandem formiert: zwei Tage pro Woche kommen der 7-jährige Sohn und die 11-jährige Tochter in unserer «Obhut», drei Tage pro Woche darf unsere 11-jährige zur «Gastfamilie». Rückblick auf den ersten unvergesslichen Tag:

Beginn noch vor dem offiziellem Schulunterricht

Noch bevor ich meine morgendliche Pilates-Session abgeschlossen habe, sitzt meine jüngere Tochter um 7.45 Uhr bereits fleissig am Laptop und liest die Aufgabenstellung ihrer Lehrerin, die gestern Nacht in «Teams» ankam. «Aber der Schulunterricht würde doch offiziell erst um 8.15 Uhr anfangen», kommentiere ich mit einem Schmunzeln. «Kümmere Dich um Deine eigenen Sachen», kommt es spitz zurück. Hoppla! Das fängt ja gut an.

In Corona-Zeiten wird auch mal eine 35-jährige Nähmaschine aus dem Keller geholt. (Bild: Manuela Weichelt-Picard)

Wenig später stehen auch schon unsere beiden Gastkinder vor der Tür. Herzlich willkommen Ladina* und Domenic*. Ab sofort wird geschrieben, gerechnet, gelesen. Doch was ist denn in Mia gefahren? Die transportiert plötzlich sämtliche Pfannen aus der Küche und baut sie kopfüber in ihrem Zimmer auf. «Du fängst jetzt aber nicht an zu kochen», erkundige ich mich. «Sicher nicht. Der Musiklehrer hat uns damit beauftragt, ein Schlagzeugset zu kreieren.»

«Mama, wo liegt Estland?», fragt Sophie. Ich fange schon mit einer geographischen Erklärung an, hole dann aber kurzentschlossen die Weltkarte, und klebe sie an die Wohnzimmerwand. Auch Domenic hat von der Lehrerin schon einen Auftrag gefasst und soll in einem kurzen Aufsatz schreiben, wie ihm das Homeschooling gefällt. «Mir gefelt es», schreibt er nicht sonderlich motiviert auf sein Blatt Papier und lehnt sich zurück. Er möchte lieber Mathe machen.

Als ich ihn aufforderte, die Aussage noch zu begründen, gibt er sich einen Ruck und ergänzt: «Tas mir cheine Schule haben Aber Fernunterricht. Das wir nicht so früh Aufschten müsen Das ich hab Bur+ Videos Hab schauen könen». Zur Information: PUR+ ist ein echt gut gemachtes Entdeckermagazin im Kinder- und Jugendprogramm des ZDF. Jede Folge behandelt ein spezifisches Thema. Derzeit geht es – wer hätte das gedacht? – vor allem um Corona.

Omelette zum Zmittag, die mehr schlecht gelingt

Jetzt noch ein paar von den geliebten Matheübungen und das Geld im Portemonnaie der «Gasteltern» zählen. Schon ist es Mittag – die nächste Herausforderung für mich. Denn ich muss gestehen: ich bin ein absolutes Anti-Koch-Talent und habe diese Aufgabe bis jetzt immer gerne meinem talentierten Mann überlassen. Jetzt, in der Krise, muss auch diese geliebte Gewohnheit über Bord geworfen werden und ist Umdenken gefragt. Frohgemut stelle ich mich an den Kochherd und versuche mich bei der Kreation einer laktose- und glutenfreien Omelette, die mehr schlecht als recht gelingt und auch nicht wirklich schmeckt.

Die frisch genähten Textilhaarbänder. (Bild: Manuela Weichelt-Picard)

Und was läuft am Nachmittag? Die beiden 11-Jährigen schnüren sich ihre Turnschuhe und drehen eine Joggingrunde. In der Zwischenzeit steige ich den Keller und hole schon mal meine 35-jährige Bernina-Nähmaschine aus der Versenkung. Denn, die beiden jüngeren Mädchen wollen Scrunchies, also Textilhaarbänder, nähen.

Eine gute Gelegenheit, um mit meinem Gastsohn in der inzwischen zum Selbstbedienungsladen umfunktionierten Quartiergärtnerei ein paar schöne Tulpenzwiebeln zu besorgen. Kaum dort angekommen, klingt das Handy: die Mädels kommen mit der Nähmaschine nicht klar. Irgendetwas klemmt. Also zurück. Als auch dieses Problem gelöst ist, setzen wir feinsäuberlich die Zwiebeln in die Erde. Dabei eliminieren wir auch gleich das Unkraut, das sich in den Beeten ausgebreitet hat.

Am Abend bin ich fix und fertig. Doch bevor ich todmüde ins Bett sinke, bearbeite ich noch die 100 Mails, die geduldig im Posteingang warten.

*Namen geändert

Ebenfalls ein Projekt des Tages: Frisch gesetzte Tulpen. (Bild: Manuela Weichelt-Picard)
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Im Corona-Tagebuch erzählen Zentralschweizer, wie sie den Shutdown erleben, welche Auswirkungen dieser auf ihr Privatleben und ihren Beruf haben und wie sie persönlich damit umgehen.
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