Über die Notenabschaffung in Luzern

Rektor: «Noten erzeugen unnötig und viel Druck»

David Schuler, Rektor der Stadtluzerner Volksschule. (Bild: zvg)

Für viele Primarschüler wird das neue Schuljahr das erste ohne Prüfungsnoten. Der Rektor der städtischen Volksschule beantwortet im Interview drängende Fragen – und stellt sich der Kritik.

zentralplus: David Schuler, bald beginnt das neue Schuljahr. Für viele Primarschüler ist es erstmals ein Schuljahr ohne Prüfungsnoten (zentralplus berichtete). Was wird sich für die Kinder verändern?

David Schuler: Einige Primarschulen kennen schon heute Beurtei­lungs­formen ohne Prüfungsnoten. Während des Semesters werden wir die Schülerinnen zwar nicht mehr benoten, ihre Leistung jedoch werden wir immer noch beurteilen und bewerten.

zentralplus: Was erhoffen Sie sich von der Reform?

Schuler: Wir erhoffen uns, dass die Kinder reflektierter und nachhaltiger lernen. Es wird künftig mehr sogenannte Reflexionsgespräche zwischen Lehrperson und Schüler geben. Mit der Weiterentwicklung der Beurteilung und diesen Gesprächen soll das Kind besser erfahren, was es gelernt hat. Es soll auch genauer erfahren, was noch fehlt und wie es das Lernen optimieren kann.

«Mit dem Erhalt der Note nach einer Prüfung wird der Lern­prozess abrupt abgeschlossen.

zentralplus: Wie kam es überhaupt dazu, dass die städtischen Volksschulen die Prüfungsnoten abschaffen?

Schuler: Es ist keine Reform, wir entwickeln die Lern- und Beurteilungskultur weiter. Es gibt drei Gründe für die Einführung des neuen Bewertungssystems. In erster Linie haben sich viele Lehrpersonen eine Weiterentwicklung der Beurteilung gewünscht. Ein weiter Grund ist der Lehrplan 21, der zu einer neuen Beurteilungsform drängt. Zudem hat eine Schulevaluation vor einigen Jahren gezeigt, dass die städtischen Schulen sehr unterschiedlich bewerten. Im Sinne der Chancengerechtigkeit wollen wir daher eine gemeinsame Weiterentwicklung vornehmen.

zentralplus: Welche Vorteile bietet das neue Beurteilungssystem gegenüber den bekannten Noten?

Schuler: Die Noten haben einen grossen Nachteil: Mit deren Erhalt nach einer Prüfung wird der Lern­prozess abrupt abgeschlossen. Wenn ein Schüler ein Mathematikthema nur genügend verstanden hat, erhält dieser heute die Note 4. Mehr lässt sich daraus nicht herauslesen. Es braucht daher mehr Beurteilung im Dialog. Man muss hinter diese Leistung schauen. Was kann die Schülerin besser machen? Was trägt zum Erfolg bei? Solche Fragen können Noten nicht beantworten.

zentralplus: Welche weiteren Gründe gibt es noch?

Schuler: Beispielsweise erzeugen die Noten unnötig und viel Druck. Diesen wollen wir im Lern­prozess minimieren. Noten verleiten zudem dazu, lediglich für eine gute Note zu lernen. Das verhindert einen nachhaltigen Lernprozess.

zentralplus: Wie genau funktioniert das neue Beurteilungssystem?

Schuler: Wir beurteilen nach wie vor Leistungen. Anstelle von Noten kommunizieren wir Leistungen und Lernentwicklung regelmässig mit entsprechenden Instrumenten. Diese Formen sollen für Lernende und Eltern verständlich, attraktiv und motivierend sein. Es ist nicht so, dass alle Schulen zur Beurteilung von Leistungen Kriterienraster mit Kategorien «noch nicht erreicht» bis «übertroffen» einsetzen werden. Das wurde in den Medien zwar so dargestellt.

Klar ist: Das Unterrichtsteam bespricht zusammen die Leistungen des Schülers. Verschiedene Leistungen des Kindes werden berücksichtigt: schriftliche, mündliche. Auch handelnde Leistungen, etwa bei einem Vortrag, oder auch erschaffene Produkte werden beurteilt. Am Schluss des Semesters erhalten Schülerinnen noch immer Semesternoten. Das ist ein bisschen ein Zielkonflikt, zu diesen Semesternoten sind wir aber verpflichtet.

zentralplus: Wie überzeugen Sie die Eltern vom Wechsel zum neuen Beurteilungssystem?

Schuler: Die Erfahrung in den Schulen, die bereits das neue Beurteilungssystem anwenden, zeigt: Es braucht viel Kommunikation und Aufklärungsarbeit. Es braucht regelmässigen Kontakt mit den Eltern auch während des Schuljahrs. Wir müssen erklären, dass Schüler ohne Noten langfristig motivierter sind. Das wissen wir aus der Literatur und aus der Wissenschaft. Die Aufklärungsarbeit braucht es, weil die Eltern noch mit Noten sozialisiert wurden. Oftmals haben diese zwar auch negative Erfahrungen gemacht. Dennoch wollen viele Eltern daran festhalten, weil sie nicht wissen, wie das neue System funktioniert.

zentralplus: Gibt es Bedenken, dass die neuen Beurteilungsformen zu diffusen oder subjektiven Bewertungen führen könnten?

Schuler: Nein, im Gegenteil. Wir sind überzeugt, dass das neue System objektiver und ganzheitlicher beurteilt als die klassischen Schulnoten. Denn diese sind auch stark subjektiv. Verschiedene Perspektiven aus dem Unterrichtsteam sorgen für eine ausgewogenere Beurteilung von Leistungen und Lernentwicklungen.

«Wir wollen keine Smileys oder ‹Sünneli›.»

zentralplus: Viele fragen sich: Wie werden die Leistungen – etwa von einem vierstufigen Kriterienraster – in eine Notenskala von 1 bis 6 am Ende des Semesters übersetzt?

Schuler: Ich verstehe, dass das irritiert. Wie bereits erwähnt: Der Kriterienraster ist nur eine Möglichkeit der Beurteilung. Diese angesprochene «Übersetzung» muss also gar nicht gemacht werden. Der erwähnte vierstufige Kriterienraster entspräche nur einer anderen Kodierung der bereits bekannten Schulnoten. Die Nachteile der Schulnoten wären damit nicht behoben. Gleiches gilt für andere Formen, wie eine Bewertung mit Smileys oder Symbolen. Wir wollen keine Smileys oder «Sünneli».

zentralplus: Vonseiten der Stadt Basel hiess es gegenüber zentralplus, dass der mit Noten verknüpfte Leistungsgedanken wichtig sei (zentralplus berichtete). Die Stadt hat die Noten daher vor einigen Jahren neu auf breiter Basis eingeführt. Zwar kritisieren viele Experten die Schulnoten. Es heisst aber auch, dass diese in den Jahren des Übertritts als Ansporn für bessere Leistungen dienen können. Wie sehen Sie das?

Schuler: Ich halte es für bemerkenswert, wieso Menschen annehmen, Noten würden als Ansporn dienen. Dahinter ist ein eigenartiges Menschenbild. Wir glauben nicht, dass der Mensch nur lernen will, wenn er dafür etwas bekommt.

«Es wird einen Mehraufwand für Lehrpersonen geben bei der Einführung.»

zentralplus: Mit dem neuen System werden an sogenannten «Beurteilungskonferenzen» die Leistungen in klassische Noten übersetzt. Rückmeldungen zeigen, dass das einen Mehraufwand für Lehrpersonen bedeutet. Der Grund: Wenn Eltern wissen wollen, wo ihre Kinder stehen, kann man sich nicht mehr auf die Noten stützen. Daher müsse die Lehrperson viel aufmerksamer sein im Alltag, mehr individualisierte Bewertungen sind erforderlich. Teilen Sie diese Bedenken?

Schuler: Es wird einen Mehraufwand für Lehrpersonen geben bei der Einführung. Dazu müssen wir stehen. Langfristig wird sich die Rolle der Lehrperson aber grundsätzlich verändern. Die Lehrpersonen werden je länger, je mehr vom Wissensvermittler zum Schuler von Kompetenzen und zum Lerncoach. Die Aufgabe eines Lerncoachs ist auch, die Eltern und das Kind über die Leistung zu informieren. Will heissen: Vermehrter Dialog mit Eltern und Schulkind wird ein integraler Bestandteil des Berufs.

zentralplus: Mittlerweile sind zwei Monate seit der Bekanntgabe der Notenabschaffung vergangen. Lokalmedien haben seither unzählige Artikel publiziert. Wie haben Sie die Zeit erlebt?

Schuler: Es war turbulent. Es gab viele Medienanfragen. Ich habe eine interessierte Öffentlichkeit erlebt. Das freut uns.

zentralplus: Haben Sie Kritik einstecken müssen?

Schuler: Die Änderung des Beurteilungssystems wirft Fragen auf. Solche Fragen zeigen uns, dass noch einiges zu tun ist.

zentralplus: Überraschte Sie der Medienrummel?

Schuler: Nein, es hat mich nicht überrascht (überlegt). Wobei, ein wenig schon. Vor allem, weil in den Medien vieles verkürzt dargestellt wurde. Das hat mich irritiert. Politiker haben dann auf Basis dieser Medienberichte Vorstösse eingereicht. Das Ganze zeigt aber: Wir haben den Nerv der Zeit getroffen.

zentralplus: Sie sprechen es an: Die Schulnoten wurden gar zum Politikum – sogar auf Kantonsebene (zentralplus berichtete). Erstaunte Sie das?

«Es ist eigenartig, dass gerade die liberale Partei dieselbe Lösung für alle fordert.»

Schuler: Nein. Für die Irritation in der Öffentlichkeit habe ich Verständnis. Wie gesagt: Die Erwachsenen wurden mit Schulnoten sozialisiert. Aus deren Sicht wird mit der Reform eine Grundfeste angetastet. Was mich hingegen irritiert, sind gewisse Zuschreibungen. Etwa, dass die Abschaffung der Schulnoten zu schlechteren Leistungen führt. Oder dass die Schulnoten die «Währung der Schule» seien.

zentralplus: Beeinflussen die Vorstösse die Arbeit der Volksschule?

Schuler: Die Vorstösse geben Hinweise darauf, dass wir die Kommunikation verbessern müssen. Aber die Entwicklung in den Schulen beeinflusst das nicht sehr. Unsere Schulen sind an einer Weiterentwicklung der Beurteilung interessiert und grossmehrheitlich mit dem eingeschlagenen Weg einverstanden.

zentralplus: Die FDP kritisierte das Vorgehen der städtischen Volksschulen. Sie finden, eine Reform wie die Abschaffung der Schulnoten solle eine Volksschule nicht im Alleingang machen. Was sagen Sie dazu?

Schuler: Wir machen keinen Alleingang. Es ist eigenartig, dass gerade die liberale Partei dieselbe Lösung für alle fordert. Wir sind in gutem Kontakt mit dem Kanton und der Pädagogischen Hochschule.

Verwendete Quellen
  • Telefonat mit David Schuler, Rektor städtische Volksschule
  • Medienarchiv zentralplus

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