Integrierte Förderung in Luzerner Volksschulen

Reformbedarf: Neue Generation braucht ihre eigene Schule

Eine Lernumgebung zu schaffen, die konzentriertes Lernen fördert, ist an vielen Schulen eine grosse Herausforderung. (Bild: Diana Drubig)

Die integrative Sonderschulung im Kanton Luzern muss reformiert werden. Denn während die Kinder auf ihre Unterstützung warten, gehen die Schulen in Aufgaben unter. Drei Bildungsfachpersonen erklären, weshalb die Diskussion auch die Frage einer neuen Generation ist.

Sind Kinder im Kindergarten oder in der Volksschule verhaltensauffällig, erhalten sie in der Schule besondere Unterstützung oder Förderung. Mit diesem integrativen Programm möchte der Kanton Kinder im herkömmlichen Schulumfeld unterstützen, anstatt sie direkt in die Sonderschule zu schicken.

In den letzten Jahren ist das System der integrativen Förderung allerdings an den Anschlag gekommen. Das betrifft besonders die Anträge im Bereich der integrativen Sonderschulung. Das sind beispielsweise Verhaltensauffälligkeiten: Wenn ein Kind den Unterricht stört, ständig Einzelbetreuung braucht oder in der Pause seine Kameradinnen stört oder gar angreift.

Will eine Schule finanzielle Unterstützung für die integrative Förderung eines Kindes beantragen, dauert die Abklärung meist lange. Die Wege sind kompliziert und es sind viele Stellen daran beteiligt.

Alles ein wenig kompliziert

Es ist also alles ein wenig kompliziert. Das finden die Schulen, die Beratungsstellen für die verschiedenen Förderbereiche, aber auch der Kanton. Denn bis der Anspruch auf eine Finanzierung abgeklärt ist, wartet das Kind auf die Unterstützung.

«Bei Verhaltensproblematiken ist die Finanzierung von einzelnen Kindern nicht immer der beste Weg.»

Lukas Baeschlin, Geschäftsleiter Formidabel

Und wenn das Geld dann endlich gesprochen wird, stellt sich die Frage, welche Massnahmen umgesetzt werden sollen. Bei Behinderungen ist es einfacher, ein Kind mit individuellen Massnahmen zu unterstützen. Aber eine Verhaltensauffälligkeit hängt auch stark vom Umfeld ab und passende Massnahmen sind daher schwieriger zu finden.

Das System braucht eine neue Richtung

Deswegen hat der Regierungsrat kürzlich positiv auf ein Postulat von SP-Kantonsrat Andy Schneider reagiert und Handlungsbedarf zugestanden. Schneider hat in seinem Postulat auf die komplizierte Situation bei verhaltensauffälligen Kindern hingewiesen und eine Reform des Systems gefordert.

Weil die Schulen aber nicht abwarten können, bis das Geld für die integrative Förderung gesprochen ist, kommt es oft zu kurzfristigen Notfallmassnahmen. Und der Bedarf an solchen Massnahmen hat in den letzten Jahren massiv zugenommen.

«Bei der Umsetzung der Massnahmen sollten ja die Kinder im Zentrum stehen.»

Tamara Celato, Leiterin Fachdienst Integrative Sonderschulung, Bereich Kognitive Entwicklung

Die kantonale Dienststelle Volksschulbildung (DVS) hat aus diesem Grund im Frühling bereits ein Projekt lanciert, um das Fördersystem anzupassen. Dieses Projekt steckt allerdings noch in den Kinderschuhen. In der Zwischenzeit verweist der Regierungsrat auf die bestehenden Massnahmen wie Klassenassistenzen oder Schulinseln, um Verhaltensprobleme zu bewältigen.

Ein Flickenteppich bei der Förderung

Doch die Realität ist auch hier etwas komplizierter. Denn der Spielraum der Schulen ist trotz der Massnahmen nicht sehr gross. Die Stellensituation sei im Bereich der Heilpädagogik angespannt, sagt Tamara Celato vom Fachdienst integrative Sonderschulung (FFS).

«Denn was sind sinnvolle Massnahmen? Wir kommen nicht darum herum, uns grundsätzliche Gedanken zu unserem Schulsystem zu machen und dazu, welche Schule die heutigen und zukünftigen Jugendlichen brauchen.»

Lukas Baeschlin, Geschäftsleiter Formidabel

Die Unterstützungsformen wie Time-Out-Zonen oder Klasseninseln sind wiederum an Personal gebunden und stehen oft nur zwei bis drei Stunden pro Tag zur Verfügung. Zudem besteht die Gefahr, dass Schulen dann wieder zur Trennung der Kinder zurückkehren.

Zuletzt ist auch die Zusammenarbeit mit den Eltern und die Organisation der Massnahmen, des Personals und der involvierten Personen eine Herausforderung. Tamara Celato erinnert zudem: «Bei der Umsetzung der Massnahmen sollten ja die Kinder im Zentrum stehen.»

Die Schulen sollen mehr Verantwortung bekommen

Im Zentrum der Überlegungen steht der wirksame Einsatz der finanziellen Ressourcen. Katrin Birchler von der Dienststelle Volksschulbildung (DVS) sagt, dass es sinnvoller sein könnte, eine ganze Schule zu unterstützen als einzelne Kinder. So könne die Schule selbst entscheiden, wie sie die Unterstützung am besten einsetze und die Struktur in der ganzen Schule viel grundsätzlicher an die Bedürfnisse anpassen.

Dem stimmt auch Lukas Baeschlin zu. Der Geschäftsleiter von Formidabel, einer sonderpädagogischen Schule und Beratungsstelle, findet die Denkrichtung des Kantons grundsätzlich unterstützenswert: «Bei Verhaltensproblematiken ist die Finanzierung von einzelnen Kindern nicht immer der beste Weg. Die Gesamtfinanzierung finde ich sinnvoller, sie ist aber sehr herausfordernd.»

«Die Erwartungen an die Kinder sind heute ganz andere als noch vor 50 Jahren. Es wird heute enorm viel von ihnen verlangt.»

Lukas Baeschlin, Geschäftsleiter Formidabel

Werden nämlich die Schulen gesamthaft unterstützt, wird die Frage nach den Massnahmen noch dringlicher. «Das zieht dann einen ganzen Rattenschwanz nach sich. Denn was sind sinnvolle Massnahmen? Wir kommen nicht darum herum, uns grundsätzliche Gedanken zu unserem Schulsystem zu machen und dazu, welche Schule die heutigen und zukünftigen Jugendlichen brauchen», erklärt er.

Wer sind denn diese Kinder?

Bei Formidabel hat man den Anstieg an Unterstützungsbedarf auch bemerkt: «Der Bedarf an integrativer Sonderschulung ist in den letzten Jahren explodiert», sagt Baeschlin. Die Gründe dafür seien sehr vielfältig.

«Die Schule muss ja letztlich für die Kinder gemacht und nicht die Kinder an die Schule angepasst werden.»

Lukas Baeschlin

Kathrin Bircher von der Dienststelle Volksschulbildung (DVS) sieht die Gründe neben psychischen Problemen vor allem bei der Sozialisierung. Denn heute seien bereits Kindergartenkinder von Verhaltensauffälligkeiten betroffen. Da gebe es Kinder, die noch nie in einer Gruppe gewesen seien und eine Autoritätsperson gehabt hätten. Einige hätten auch sehr schlechte Sprachkompetenzen, da sie viel Zeit vor dem Bildschirm verbringen würden.

Eine neue Generation mit anderen Bedürfnissen

Lukas Baeschlin sieht diesen Anteil der Problematik auch, ergänzt aber: «Die Erwartungen an die Kinder sind heute ganz andere als noch vor 50 Jahren. Es wird heute enorm viel von ihnen verlangt. Und zwar überall: in der Schule, zu Hause, im Freundschaftskreis, in der Beziehung.»

Die Kinder müssten heute sehr früh ein grosses Mass an Selbstständigkeit zeigen, führt Baeschlin aus. Es sei dann keine Überraschung, dass sie diese Situation ausnutzen und sagen würden, was sie wollten und was ihnen nicht passe.

Die Schule müsse ja letztlich für die Kinder gemacht und nicht die Kinder an die Schule angepasst werden. Und man sehe an den Schwierigkeiten, dass sich die Bedürfnisse der Kinder verändert hätten, erinnert er.

Verwendete Quellen
  • Postulat P-652 und Stellungnahme des Regierungsrats
  • Gespräch mit Lukas Baeschlin, Geschäftsführer von Formidabel
  • Gespräch mit Katrin Birchler, Leiterin Dienststelle Volksschulbildung (DVS), Kanton Luzern
  • Telefonat mit Tamara Celato, Leiterin Fachdienst Integrative Sonderschulung, Bereich Kognitive Entwicklung, Kanton Luzern
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1 Kommentar
  • Profilfoto von Karl-Heinz Rubin
    Karl-Heinz Rubin, 10.06.2022, 04:22 Uhr

    Lieber Herr Beaschlin

    Sie haben jederzeit die Möglichkeit vieles richtig zu stellen……
    Freundliche Grüsse
    Karl-Heinz Rubin

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