Beinahe verschmitzt lugt das stattliche Gebäude über sattgrünen Bäumen und Büschen hervor. Von der Bushaltestelle aus windet sich eine Strasse durch Wiesen und Rebstuden hinauf zum mehr als hundertjährigen Kloster St. Anna auf dem Gerlisberg. Von der Stadt aus gesehen thront das Heim der Kapuzinerinnen erhaben am Waldrand, abgesondert vom übrigen Wohnquartier. Doch oben angekommen, wartet kein pompöser Eingang, keine mächtige Pforte. Eine Doppeltüre aus Holz markiert den Weg hinein. zentralplus drückt auf die Klingel.
Gewandet in die bekannte braune Kutte öffnet Schwester Maria Raphael Märtens die Tür. Sie leitet das Kloster. 2020 wählten sie ihre Mitschwestern zur Frau Mutter. Ihr Blick ist wach und konzentriert,der Händedruck bleibt zaghaft. Die Mundwinkel deuten beinahe unmerklich ein Lächeln an. Im Eingang des Klosters steht ein Jackenständer, daran hängt ein einzelner Kleiderhaken. Viele Besucher hätten sie nicht, wie sie später erzählen wird. Zehn Kapuzinerinnen und sechzehn geflüchtete Ukrainerinnen wohnen zurzeit im Haus. Von den Nonnen stammen fünf aus einer Mission in Tansania. Sechs Angestellte kümmern sich um Garten, Gebäude und Buchhaltung.
Weitherum gesucht, in Luzern gefunden
Mit ruhiger Stimme sprechend, erzählt Schwester Maria von ihrem Lieblingsraum im Kloster: vom Kreuzgang im Erdgeschoss. Massive Türen reihen sich dort an der einen Seite. Auf der anderen öffnen Fenster den Blick in den Innenhof. Jedes dritte Fenster des Gangs hat im oberen Teil eine Glasmalerei. Sie zeigen bedrückende Szenen aus dem Leben von Jesus.
Als Schwester Maria vor 20 Jahren zu den Luzerner Kapuzinerinnen kam, war sie froh um die farbigen Anhaltspunkte. Sie nutzte sie zur Orientierung, um sich im Wirrwarr der zahlreichen Gänge und Türen nicht zu verirren. Auch heute noch bleiben ihre Augen für kleine Bruchteile von Sekunden an jedem Bild hängen, wenn sie daran vorbeigeht. Auf der ebenerdigen Etage finden sich zudem der Eingang zur Kirche sowie nebst anderen Zimmern der Esssaal, die Küche und das Sitzungszimmer. In den oberen Stockwerken liegen die Kammern der Bewohnerinnen sowie auch die Pflegestation – momentan unbelegt.
Ihr sei es früh klar gewesen, dass sie Nonne werden wolle, erzählt Schwester Maria. 1985 in Magdeburg geboren, suchte sie noch nicht einmal 20-jährig nach einem passenden Ort für ihre Berufung. In Deutschland, in Österreich und in der Schweiz – nirgends schien es ihr so richtig zu passen. Bis sie 2004 nach Luzern kam.
«Ich fühlte mich, als sei ich zu Hause angekommen», sagt sie. Als sie die Kutte überzog, sorgte das in ihrem familiären zu Hause aber für einigen Zoff. Darauf befragt, umreisst sie, für einmal etwas schneller sprechend, ihre Geschichte wie folgt: «Die Familie war evangelisch, ich wollte katholisch werden. Und das in einem Pfarrershaus.» Die Wogen hätten sich aber längst wieder geglättet, wie sie nach einer kleinen Pause hinzufügt.
Der pragmatische Blick in die Zukunft
Mit ihren 39 Jahren zählt Schwester Maria klar zu den jüngeren Kapuzinerinnen im St. Anna. Die Überalterung sei natürlich ein Problem auf dem Gerlisberg. Wenn ältere Nonnen pflegebedürftig werden, könne das im Alltag die anderen Kapuzinerinnen etwas herausfordern. Momentan sei keine Schwester auf grössere Hilfe angewiesen. Ein paar bräuchten bei gewissen Handgriffen etwas Unterstützung, aber das meisterten sie intern.
Vor Kurzem ist eine Schwester verschieden, welche zuletzt von der Spitex betreut wurde. An einer Säule im Kreuzgang klebt ein laminiertes Schild, das den Pflegefachkräften den Weg zu den Betten beschildert. Obwohl die Spitex zurzeit nicht auf den Gerlisberg muss, bleibt das Schildchen vorsorglich an seinem Platz.
Überall ist es still – ausser im inneren Chor
Die Ruhe, mit welcher Schwester Maria von sich selbst und dem Klosterleben erzählt, greift auf ihre Zuhörer über. Das liegt zum Teil auch am Kloster selbst. Es herrscht eine sonderbare, meditative Stille. Nirgendwo sind Schritte zu hören oder das Rascheln von Kleidung.
Im Kreuzgang hängt ein grosses, düsteres Gemälde, welches Schwester Maria einige Minuten lang betrachtet. Im Rahmen steht mit grossen Lettern «Silentium». Doch bei aller Liebe zur Schallabsenz, ein Thema lässt Schwester Maria aus sich heraus treten. Es ist der Gesang ihrer Mitschwestern aus Tansania während der gemeinsamen Messen. «Wenn sie singen, bin ich im Himmel», erzählt sie pointiert kurz, aber mit leuchtenden Augen. Dabei reckt sie die Hände zum Gesicht und lächelt selig.
Einzig im inneren Chor, wo die Schwestern einen Teil ihrer täglichen Gebete halten, ist es laut. Es klingt, als würde in der Nähe ein Bach rauschen. Doch Fenster sind keine geöffnet. «Das ist die Heizung», sagt Schwester Maria. Seit 1498 haben die Kapuzinerinnen in Luzern ein Kloster. Nach einigen Umzügen innerhalb der Stadt kamen sie 1904 auf den Gerlisberg. Das Gebäude wurde zwar in der Zwischenzeit saniert, aber einiges ist bereits wieder in die Jahre gekommen.
Säckeweise Hostien im Regal
Neben dem ursprünglichen Bau findet sich in einem Nebengebäude die Hostienbäckerei des Klosters – gemäss Schwester Maria der Stolz des Hauses. Die Plätzchen aus Wasser und Weizenmehl werden hier gebacken, ausgestanzt und gesegnet. In den Regalen an der Wand am Eingang stapeln sich die Hostien säckeweise. Über dreihundert Gemeinden würden sie beliefern, sagt Schwester Maria. Die Bäckerei dürfte einigen bekannt sein. Das Kloster bietet Führungen an, welche oft von Schulklassen besucht werden.
Auf dem grossen Umschwung rund um das Kloster gibt es nebst der Bäckerei und dem Friedhof einen Garten. «Gemüse, Kräuter und Blumen», fasst Schwester Maria die Bepflanzung zusammen. Sogar eine eigene Floristin haben die Kapuzinerinnen angestellt. Zurzeit ist der Garten noch eingewintert. Bis der Schnee auf dem Pilatus im Hintergrund vergangen sein wird, spriessen die Blumen.
Ein Einbruch zur Adventszeit
Soweit sich Schwester Maria erinnern kann, wurde das Nonnenleben auf dem Gerlisberg in den letzten zwanzig Jahren genau einmal von einem ausserordentlichen Ereignis ins Wanken gebracht. Während alle Schwestern in der Kirche bei einer Adventsmesse sassen, kletterten Einbrecher über die Klostermauern. Sie versuchten, den Schrank im Büro der damaligen Leiterin aufzubrechen und die Kasse zu stehlen.
Gemäss Schwester Maria war es wohl jemand aus dem Kloster selbst. «Die Türen der normalen Kammern und des Büros der Frau Mutter sind nicht zu unterscheiden. Aber die Diebe wussten genau, wo sie suchen müssen.» Der Schrank liess sich nicht öffnen, die Einbrecher zogen mit leeren Händen unbemerkt wieder ab. Bis heute wüssten sie nicht, wer es gewesen sei.
Die Tante wartet
Zum Schluss erzählt Schwester Maria von ihrem nächsten Termin: Ihre Tante aus Deutschland warte, wie sie sagt. Seit ihrem Eintritt in das Kloster vor zwanzig Jahren haben sie sich nicht gesehen. Die Tante werde ihr vom Tod ihrer Grosseltern erzählen, welche kürzlich verstorben sind. Die Eingangstür fällt ins Schloss, Vögel zwitschern in einem nahestehenden Baum.