Wer wohnt denn hier?

Wo Schweine und Schafe glücklich sind – und Menschen auch

Jessica Antusch kümmert sich um die Tiere der Stiftung Felsentor. (Bild: wia)

Die Tiere, die bei der Stiftung Felsentor auf der Rigi leben, landen zumeist unverhofft dort. Nicht nur ihnen geht es so. Auch die Verantwortliche dieser Tierschutzstelle, Jessica Antusch, plante diesen Lebensweg nicht.

Es ist der schönste Empfang, den man sich überhaupt vorstellen kann. Zwar hat Jessica Antusch im Vorfeld angetönt, dass sie die zentralplus-Redaktorin bei der Bergbahnstation Romiti-Felsentor abholen würde. Dass im Empfangskomitee auch eine liebesbedürftige Sennenhündin und drei Geissen sind, kommt jedoch überraschend. Oder etwa doch nicht? Immerhin ist Jessica die Tier-Verantwortliche der Stiftung Felsentor. Der viertelstündige Wanderweg vom Seminarhaus zur Bahnstation eignet sich prima für einen Morgenspaziergang. Die Aussicht von der Rigi in Richtung Zentralschweizer Alpen ist gewaltig.

Die Stiftung Felsentor ist vor allem als weltoffenes Zen-Zentrum bekannt, das Seminare und offene Meditationen anbietet. Doch beherbergt der Ort seit 2005 auch eine eigene Tierschutzstelle. Sie wurde bis 2022 von der Franziskanernonne Schwester Theresia geführt.

Ehemalige Nutztiere leben hier ihr bestes Leben

Die drei Geissen laufen frei, schnuppern hier und dort, erklettern den Rigi-typischen Nagelfluh und knabbern voller Wonne an Efeuranken und Brombeersträuchern. Die Tiere leben hier ein glückliches Leben. Das war nicht immer so. Fast alle Tiere, die beim Felsentor leben, haben eine Vorgeschichte als Nutztiere. Hier leben ausrangierte Legehennen, seltene Engadiner Schafe, denen der Schlachthof drohte, ein Geissbock, der etwas zu gut ist im Ausbrechen und zwei Kupferhalsziegen, die der vormalige Halter nicht mehr zur Zucht wollte, nachdem sie Fehlgeburten erlitten hatten.

Es gehe beim Lebenshof nicht darum zu zeigen, welche schlimmen Dinge den Tieren zuvor passiert waren, betont Jessica. «Vielmehr zeigen wir den Menschen, was mit den Tieren passiert, wenn sie eben artgerecht gehalten werden. Ich beobachte immer wieder, wie sehr das die Menschen berührt.» Der zentralplus-Journalistin sollte es nicht anders ergehen.

Auch Nala, die freundliche Berner Sennenhündin, kam eher unverhofft zum Felsentor. «Ihr Vorbesitzer ist plötzlich gestorben, und auch diejenige Person, die sich nachher um Nala kümmerte, starb wenig später. Eigentlich wollte ich einen etwas kleineren Hund, doch verliebte ich mich sofort in sie, als ich sie zum ersten Mal sah.» Einen Hund braucht es hier insbesondere zur Abschreckung des Fuchses. Erst vor kurzem ist es ihm – mitten am helllichten Tag – gelungen, eine grosse Ente zu stehlen.

Die Kupferhalsziege kennt den Weg durchs Felsentor auswendig. (Bild: wia)

Corona und ein Bandscheibenvorfall lotsten sie auf die Rigi

Unverhofft kam auch Jessica Antusch zu ihrer Stelle als Tierverantwortliche der Felsentor-Gemeinschaft. Die Ergotherapeutin arbeitete zuvor in Deutschland in einer ambulanten Praxis insbesondere mit Kindern. Im Jahr 2020 entschied sie sich für einen Tapetenwechsel.

«Ich hatte einen Zeitungsartikel über Schwester Theresia gelesen, welche die Tierschutzstelle damals leitete. Daraufhin beschloss ich, hier ein dreimonatiges Volontariat zu absolvieren.» Was sie auch tat. Eigentlich sollte der Aufenthalt im Felsentor für sie den Auftakt zu einer Workaway-Reise mit mehreren Arbeitsaufenthalten bilden.

Wer wohnt denn hier?

In unserer losen Serie «Wer wohnt denn hier?» blickt zentralplus hinter verschlossene Türen oder Zäune von aussergewöhnlichen Häusern in Luzern und Zug. Vorgestellt werden jene Personen, die im Innern wohnen.

Doch das Leben tat, was es am besten kann: Nämlich unerwartete Wendungen einbauen. Da Corona das Reisen schwierig machte, wurden aus drei ganze acht Monate Aufenthalt am Felsentor. Während eines Volontariats im Anschluss in Italien erlitt sie einen Bandscheibenvorfall und konnte eine weitere Stelle in Italien nicht antreten.

«Im Winter 2021/2022 wandte ich mich an die Stiftung Felsentor. Ich fragte, ob man erneut Hilfe brauchen könnte, erklärte aber auch meine gesundheitliche Situation.» Tatsächlich suchte die Gemeinschaft in dieser Zeit nach Hilfe. «Im Laufe des Winters hat mich Schwester Theresia unerwartet gefragt, ob ich mir vorstellen könnte, ihre Nachfolge anzutreten, da die Nonne zwischenzeitlich das Rentenalter erreicht hatte.

Das Seminarhaus der Stiftung Felsentor. Im Hintergrund ragt der namensgebende Fels empor. (Bild: wia)

«Mögen alle Wesen glücklich sein»

«Klar gibt es auch hier Arbeiten, die sehr körperlich sind. Doch das funktioniert, da wir eine Gemeinschaft sind und die Arbeiten aufteilen können», sagt Jessica. Das Kümmern um die Tiere ist Teil der Zen-Seminare. «Zen und Tiere, wir sehen das als Eins. Dazu passt auch unser Leitspruch: Mögen alle Wesen glücklich sein.» Aus diesem Grund wird im Felsentor vegan gekocht – mit Lebensmitteln, die zum grössten Teil auf dem Biohof Frohmatte 300 Meter unterhalb angebaut werden. «Im Sommer wird das Essen mit Eseln hierhoch transportiert, im Winter mit der Rigibahn», erzählt Jessica.

«Ich komme ursprünglich aus dem Allgäu, bin also mit viel Butter und Käse aufgewachsen. Entsprechend überrascht war ich anfänglich, dass mir das Essen hier so gut schmeckt», sagt die 37-Jährige.

Jessicas Tagesablauf richtet sich nach dem Sonnenlicht. «Im Moment geht sie um 7.15 Uhr auf. Bevor ich mich also um die Tiere kümmere, gehe ich zur Meditation. Diese beginnt um 6.30 Uhr und dauert eine halbe Stunde. Danach lasse ich die Tiere raus.» Jessica und ihre Kollegin Melanie Rathgeb, die sich ebenfalls um die Tiere kümmert, leben etwas abgelegen, fünf Minuten unterhalb des Seminarhauses und des Zendos, wo die Gemeinschaft täglich mehrmals meditiert. Den steilen Naturweg nimmt Jessica täglich einige Male unter die Füsse.

Zwischen Meditation und Tierversorgung

Um 8 Uhr wird gefrühstückt, um 9 Uhr beginnt das Samu, die Arbeitsmeditation. Die Tiere werden gefüttert, die Tränken mit frischem Wasser gefüllt, die Ställe geputzt. Jessica hilft mit, leitet aber auch Seminargäste an, die sich für diese Schichten gemeldet haben.

Später folgt eine längere Mittagspause, in der Jessica auch Büroarbeiten erledigt. Ab 15.30 Uhr kümmert sie sich erneut um die Tiere. «Wenn die Sonne zur Essenszeit untergeht, gehe ich später zum Nachtessen oder bereite mir selber etwas im Haus zu. Eigentlich findet zwischen 19.30 und 20.30 Uhr noch eine Meditation statt, diese mache ich im Moment jedoch nicht mit.» Die Tage sind anstrengend, abends ist sie oft sehr müde.

Jessicas Holzhäuschen steht mitten im Tiergehege. Auf dem Weg dorthin liegt Anjuli und grunzt zufrieden, ohne den Kopf zu heben. Das Mini-Pig-Weibchen ist seit kurzem die ranghöchste der vier Schweine. Samson, der 18-jährige Eber, hat sein Amt altershalber abgegeben. Bei unserem Besuch liegt er in der Ecke eines grossen Stalls, ein Huhn leistet ihm Gesellschaft. Nur das Ohr des dunkelgrauen Tiers ragt hervor, die Schnauze liegt tief verborgen im Stroh. «Samson reagiert immer, wenn man in die Nähe kommt», sagt Jessica. Und tatsächlich. Als wir zu ihm gehen, ist ein subtiles «Chuik» zu hören. Auch, wenn man ihm über die Haut fährt, die sich anfühlt wie handgeschöpftes Papier, grunzt er leise vor sich hin, ohne aufzusehen.

«Viele wissen das nicht, aber Schweine würden nie in ihr eigenes Nest machen. Ihr Geschäft erledigen sie immer andernorts. Nur ist das bei Nutztieren nicht möglich, weil sie dafür keinen Platz haben», sagt Jessica.

Jessica Antusch und ihre liebesbedürftigen Engadiner Schafe. (Bild: wia)

Schafe mit grossem Streichelbedürfnis

Etwas weiter oberhalb stehen einige riesige Engadiner Schafe. Einmal im Jahr werden sie geschoren. Noch ist es nicht so weit, die Schafe sind äusserst voluminös. Als wir das Gehege betreten, kommen sie näher. Sie wollen gestreichelt werden, das wird schnell klar, als eines der Schafe den Kopf an den Oberschenkel der Journalistin legt. Es dauert, bis man sich mit den Fingern durch die dicke Wolle gebohrt hat. Das Schaf schliesst die Augen halb, geniesst. Ist. Ein Zustand, der ansteckend wirkt.

«Einer der schönsten Momente für mich bisher war jener, als ich letzthin ein verletztes Huhn untersuchte. Ich setzte mich mit ihm vor meine Hütte und kontrollierte seine Verletzung.» Jessica erzählt weiter: «Das Huhn begann, sich zu entspannen. Irgendwann habe ich den Atem des Huhns an mir gespürt. Und so sassen wir und haben gemeinsam geatmet.»

Beim Felsentor, da laufe die Zeit anders, sagt Jessica nachdenklich. Auf die Frage, ob sie denn schneller oder langsamer vergehe, sagt sie: «Sowohl als auch.»

Verwendete Quellen
  • Reportage auf der Tierschutzstelle Felsentor
  • Website Stiftung Felsentor
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