Eine etwas andere Reportage von der Tagwache

«Die spinnen doch – aber lustig ist es schon»

zentralplus-Redaktor Marc Sieger stürzte sich zum ersten mal an der Tagwache ins Getümmel. (Bild: msi)

zentralplus-Reporter Marc Sieger kommt aus der Ostschweiz und hat die Lozärner Fasnacht noch nie erlebt. Wir schicken ihn daher am SchmuDo früh morgens an die Tagwache. Eine Reportage aus einem etwas anderen Blickwinkel.

Eingequetscht zwischen einem Affen, einem Samurai und irgendetwas, das einfach nur farbig ist und glitzert, stehe ich im Bus von Adligenswil nach Luzern. Der Bus ist zum Brechen voll, die Strassen sind aber leer – beinahe. Zwischen Verkehrshaus und Luzernerhof überholen wir einen Wagen, blinkend und leuchtend, aus den Lautsprechern erklingt laute Partymusik. Zwei grölende Gestalten mitten auf der Strasse prosten dem Bus fröhlich zu.

Es ist dieser erste Moment, der mich amüsiert. Und aber auch klar werden lässt, wie die Fasnacht in Luzern einfach alle Regeln aus den Fugen hebt. Morgens um halb fünf angeheitert einen leuchtenden und lärmenden Bollerwagen über eine Haupstrasse zu ziehen würde in der Ostschweiz, wo ich herkomme, höchstens die Polizei und hässige Anwohner auf den Plan rufen – Fasnacht hin oder her.

Fasnacht in der Ostschweiz: Gibts nicht – und wenn, dann wüst

Vor Kurzem bin ich aus St. Gallen in die Heimat meiner Partnerin nach Luzern gezogen. Die Lozärner Fasnacht kenne ich nur aus Erzählungen und von Videos. Generell ist die fünfte Jahrezeit in der Ostschweiz kein grosses Thema.

Es gibt wohl einige kleine Inseln im Rheintal und im Fürstenland, wo wenige Gemeinden versuchen, eine Fasnachtstradition am Leben zu halten. Ansonsten besteht die Fasnacht aber hauptsächlich aus Lärm, schlechten Kostümen und sehr betrunkenen Menschen, die einem auf aggressivste Art und Weise versuchen, jede Kleider- und Körperöffnung mit Konfetti zu füllen. Die Fasnacht dauert jeweils kurz. Für einen Maskenball oder einen Umzug kommen die Fasnächtler jeweils aus den Löchern gekrochen – nur, um nach dem Motto «Wehe, wenn sie losgelassen!» für einige Stunden wüst umherzutoben. So zumindest habe ich es jeweils wahrgenommen.

Das Mysterium erleben

Die fünfte Jahreszeit hat mich daher auch nie besonders gereizt. In der Ostschweiz machte ich lieber einen Bogen um die betrunkenen Massen. Und so wie mir geht es vielen anderen: In der Ostschweiz ist Fasnacht eher eine Randerscheinung.

Die fünfte Jahreszeit in Luzern schien mir dabei immer ein Mysterium zu sein, mit den ganzen Zünften, Fritschis, Knall hier, Knall dort, Traditionen über Traditionen und festgelegtes mehrtägiges Dauerprogramm. Wie kann so ein Unfug so grosse Massen dazu bewegen, für mehrere Tage im kollektiven Wahn alle Regeln über Bord zu werfen und gar städtische Infrastruktur und die Wirtschaft teilweise zum Erliegen zu bringen? Ich will es erleben und stürze mich am Schmutzigen Donnerstag frühmorgens ins Getümmel.

Vögel zwitschern, Knall, hoch die Tassen

Mit dem Nötigsten kostümiert stehe ich also an der Bushaltestelle und warte. Immer mehr Leute kommen dazu: Familien, Teenager, Alte, Junge, die einen aus dem Bett, die anderen kommen direkt aus dem Ausgang. Selten habe ich mich, wie ich in Neonfarben und Perücke auf den Bus warte, so deplatziert und gleichzeitig so dazugehörig gefühlt.

In Luzern angekommen, brauche ich zunächst einen Moment, um mich zu orientieren. Überall stehen Leute ums Seebecken herum und warten auf den Urknall und die Ankunft der Fritschi-Familie. Ja, ich habe mich im Vorfeld etwas schlaugemacht, wie der ungefähre Ablauf aussieht. Zunächst sehe ich noch einige Kaffeebecher in den Händen der Wartenden, sie wechseln jedoch schnell zu Bier, Wein und Schnaps über, wie mir scheint. Die Stimmung wirkt aber noch verhalten, beinahe andächtig. Man schaut aufs Wasser hinaus, wünscht sich einen guten Morgen, quatscht etwas darüber, ob es nun regnen wird und wie das Kostüm an den Knien zwickt. In den Bäumen an der Seepromenade zwitschern die Vögel ein erstes Liedchen über den bemalten Köpfen. Dann erscheint auf dem See das Schiff – und es geht plötzlich schnell.

Feuerwerk. Urknall. Hoch die Tassen. «Ach du Sch …», denke ich mir. Wo bin ich da nur reingeraten? Nach der Ruhe folgt der Sturm, aber mit Holdrio. Mir scheint, als ob um mich herum alles explodiert. Und wegen der vielen Guuggenmusik und den Menschen, die nun gegen den Kapellplatz streben, brauche ich einen Moment, um mich zu orientieren.

Alles friedlich, nur Dornröschen schläft – an der Bushaltestelle

Ich fange mich aber schnell wieder und lasse mich von der Menge mittreiben und von der Stimmung anstecken. Ich bin positiv überrascht. Kommen so viele Menschen für ein Fest auf einem Haufen zusammen, kann es gerne und schnell passieren, dass die Stimmung kippt. Hier ist es aber trotz des Gewusel und Getümmel freudig und friedlich. Ich sehe eine alte Frau im Rollstuhl, aufwendig kostümiert und mit breitem Lachen im Gesicht ihre Runden drehen, Kinder, die umherwuseln und Böller anzünden und alle möglichen Leute, die gemeinsam feiern. Amüsiert nehme ich auch die paar wenigen Touristen war, die mit ihren Koffern auf dem Weg zum Bahnhof sind und überrumpelt und beinahe etwas verstört das bunte Treiben beobachten.

Ich sehe aber auch einen Astronauten in den See kotzen, eine Giraffe und ein vemeintliches SWAT-Team-Mitglied in einer Ecke zusammen weisses Pulver schnüffeln und ein Dornröschen, das zusammengesunken an der Bushaltestelle liegt und definitiv nicht mehr wachzukriegen ist.

Alle Regeln über Bord

Den Fötzeliregen hingegen sehe ich nur aus der Ferne. Ich bin auf dem Weg zum Kapellplatz irgendwo steckengeblieben und komme kaum voran. Als die letzten Fötzeli auf dem Boden angekommen sind und sich die Menge etwas lichtet, ziehe ich durch die Gassen, schaue mir dort eine Guuggenmusik an, höre da mal zu und bleibe dort mal stehen, um das bunte Treiben zu beobachten.

Für meinen Geschmack hat es etwas zu viele Leute, obwohl mir ein Cowboy versichert: «Also dieses Jahr ist es gar nicht so schlimm». Die Wahrnehmung ist nunmal subjektiv.

Gottseidank fahren nicht auch noch Autos und Busse. Amüsiert betrachte ich, wie der Zugang vom Bahnhof her einfach mit einem Linenbus blockiert wurde. Das gefällt mir. «Die wollen Fasnacht machen? Dann stell 'nen Bus auf die Strasse!» – Morgenverkehr? Arbeit? Who cares. Da frohlockt der kleine Anarchist in mir drinnen.

Ein Linienbus blockiert den Verkehr am Schmutzigen Donnerstag auf der Seebrücke.

Das ist es denn auch, was mir an der Luzerner Fasnacht am besten gefällt. Alles muss sich unterordnen. Regeln und Formalitäten, die in der Schweiz so hochgehalten werden, treten auser Kraft. Selbst wenn das heisst, dass nach der Fasnacht erst einmal alle krank sind und nicht arbeiten können, wie mir erklärt wurde. So what. Es ist halt Fasnacht.

Positiv überrascht, aber fürs Erste reichts

Zwei Stunden später ziehe ich mich dann in die Redaktion zurück. Länger hätte ich es nun auch nicht ausgehalten – zu viele Menschen und zu laut. So ganz kann ich da auch nicht aus meiner Haut.

Mein Fazit: Ich bin positiv überrascht. Ich hätte erwartet, dass mir das Fasnachtstreiben weniger behagt. Zumal es mir bisher sehr fremd war. Nun, die fünfte Jahreszeit ist ja noch jung und dauert noch einige Tage lang. Ein entgültiges Fazit erlaube ich mir, wenn sie durch ist. Nach der Tagwache kann ich aber sagen: «Die spinnen schon etwas – aber lustig es halt doch irgendwie.»

Verwendete Quellen
  • Augenschein vor Ort
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2 Kommentare
  • Profilfoto von André Georges Engetschwiler
    André Georges Engetschwiler, 10.02.2024, 21:49 Uhr

    Sehr gut geschrieben. Dem fehlt Nachtdienst Ausdauer und das schönste hat er nicht erlebt : vom 21h bis 24h in der Altstadt. Schade, dort trifft man hautnah alle Grinden.

    Schreibt doch mal über die Wedtschweiz ikl. Wallis. So schön, so unbekannt, weniger festif aber von grosser Eigenständigkeit und schönster Landschaft. Auch bestes Wetter und wirtschaftlichem Aufschwung seit 40 J.
    Ich?
    Ein Luzerner der seit 50 J.in Lausanne lebt, aber nicht mehr von dieser Gegend fortgeht jedoch immer an die Fasnacht kommt.

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  • Profilfoto von Pille 07
    Pille 07, 10.02.2024, 10:10 Uhr

    Für das das erste mal gut gemacht

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