Emmen: Von der Aggloproblemgemeinde zum «Kleinberlin»?
In Emmen und dem angrenzenden Luzern-Reussbühl entsteht eine neue Stadt: «Luzern-Nord». Verantwortliche vergleichen die Aktivitäten rund um den Seetalplatz gerne mit «Zürich-Nord», vereinzelt gar mit Berlin nach dem Mauerfall. Sicher ist nur: Behörden, der Kanton als Landeigentümer – und die Baufirma Losinger-Marazzi, welche das grosse Geschäft wittert, stehen in den Startlöchern. Interessenkonflikte sind nicht ausgeschlossen.
Analogien zu «Zürich-Nord» gibt es durchaus: Ähnlich wie Emmen galt auch Oerlikon lange als hässlicher Industriestandort mit einem ähnlich negativ beladenen Image wie Emmen. Nach dem Ende der Schwerindustrie stellte sich die Frage nach der Nutzung der Fabrikareale. Heute, rund 20 Jahre später, ist Oerlikon fast nicht mehr wiederzuerkennen und gilt mit seinen modernen Neubauten beim Mittelstand als begehrter Wohnort.
In «Luzern-Nord» könnte etwas Ähnliches passieren. «Wenn keine Immobilienkrise eintritt, ist das schon vorstellbar», sagt der Zürcher Architekt Andreas Sonderegger. Er erinnert sich: «Zirka 1990 begann in Zürich die Planung des neuen Stadtteils. Man sprach davon, für die nächsten 30 Jahre zu planen. Bereits 15 Jahre später war alles gebaut!»
Sechsspurige Autobahn kontraproduktiv als Stadtzentrum
Der Architekt und Städteplaner ist Teilhaber des Zürcher Architekturbüros pool-architekten. Dieses überzeugte 2008 die Luzerner Behörden mit seiner Idee des grossen Kreisels und des Rundverkehrs am Seetalplatz. Dieses Projekt bildet die Basis für alle nachfolgenden Planungsschritte. «Wir fanden damals, dass eine sechsspurige Autobahn kontraproduktiv ist an einem Ort, wo ein neuer Stadtteil entsteht, und haben ein Konzept entwickelt, wo Langsamverkehr und Fussgänger ebenfalls ihren Platz erhalten», sagt Sonderegger.
Rund um den Seetalplatz sind diverse Bauprojekte in der Pipeline. Am weitesten fortgeschritten ist das Projekt von Losinger-Marazzi für einen Neubau im Bahnhofquartier. Ebenfalls weit fortgeschritten ist der von einem privaten Investor geplante Neubau inklusive Ausbau des Kinokomplexes Maxx/Monosuisse am Seetalplatz Nord.
Weitere Grossprojekte, für die aber erst Projekte ausgearbeitet werden müssen, sind der geplante Neubau der kantonalen Verwaltung für rund 1’000 Angestellte im Gebiet Reussegg/Bahnhofplatz Süd. Geplant ist ausserdem ebenfalls auf Land des Kantons eine neue Wohnüberbauung im Gebiet Reussegg/Kleine Emme; für dieses Projekt interessiert sich Losinger-Marazzi und will dem Kanton das Land abkaufen.
Auf Luzerner Stadtgebiet soll ausserdem an der Rotenstrasse und im Reusszopf das «Reussbühlquai» entstehen, mit einem langen Wohnriegelbau, der die dahinter liegenden Häuser vom Verkehr abschirmt. Heute befinden sich dort viele Häuser von privaten Eigentümern, zumeist aus dem 19. Jahrhundert, die teilweise in bedenklichem Zustand sind. Die Besitzer investierten in den letzten Jahren oft nicht mehr in die Renovation. Ein Verkauf an einen Investor wäre weitaus lukrativer.
Wenigstens in der Verkehrsfrage tut sich jetzt etwas: In den nächsten Jahren realisiert der Kanton die Neugestaltung der Verkehrsführung und die Arbeiten für den Hochwasserschutz an der Kleinen Emme. Parallel dazu sind rund um den Platz diverse Bauprojekte in der Pipeline (siehe Infobox). Bereits beschlossen ist ausserdem, dass die Kunsthochschule 2016 ins Viscosi-Areal zieht. Emmen wird auf einen Schlag zu einem Hochschulstandort mit kultureller Urbanität. Eine enorme Aufwertung.
Droht sonst ein Potsdamer Platz?
Aus architektonischer Sicht macht die Planung durch ein städtebauliches Leitbild Sinn (siehe Ende des Artikels). Ansonsten könnte die gleiche Sache passieren wie beim Potsdamer Platz in Berlin. «Dieses Negativ-Beispiel wird oft angeführt im Städtebau», sagt Andreas Sonderegger. Der Platz war einst das Tor nach Berlin – wie der Seetalplatz das Tor nach Luzern. Nach der Wiedervereinigung 1991 sollte die Brache in Berlin wieder belebt werden. «Man erstellte schöne Masterpläne, doch es kam alles ganz anders», weiss Sonderegger.
Grosse Firmen wie Mercedes sicherten sich die Filetstücke des Platzes, engagierten berühmte Architekten. Jeder Architekt baute in seinem Stil und nach seinem Gusto. Das Ergebnis ist ein heterogenes Durcheinander von Gebäuden ohne jeden Bezug zueinander, Glaspaläste stehen neben Backsteinhochhäusern.
Lukrative Bauaufträge winken
Luzern und Emmen sind nicht Berlin, mag man einwenden. Doch auch am Seetalplatz geht es um viel Geld und lukrative Bauaufträge. Interessierte Baufirmen stehen schon in den Startlöchern, allen voran die Firma Losinger-Marazzi, die seit einiger Zeit ein Büro in Luzern hat.
Für die «Projektentwicklung Luzern» zuständig ist Daniel Bühlmann. Der ehemalige Emmer Gemeinderat und abgewählte SVP-Regierungsrat ist bestens vernetzt. Er erhielt an der Infotagung des Gemeinderats Emmen und des einflussreichen Gemeindeverbands «LuzernPlus» am Dreikönigstag eine Plattform für einen Gratiswerbeauftritt. Losinger-Marazzi gehört zum mächtigen französischen Industriekonzern Bouygues mit einem Jahresumsatz 2012 von zehn Milliarden Euro.
Daniel Bühlmann durfte es zum Beispiel als «nicht zielführend» kritisieren, wenn man im städtebaulichen Leitbild die Materialisierungen von Fassaden definiere oder die Grundflächen von Hochhäusern vorschreibe. Als kritischen Punkt nannte er auch den Kostenteiler für die Gestaltung der öffentlichen Plätze. Bühlmann: «Die Rahmenbedingungen müssen einen Bau zulassen, der rentabel ist, das geht oft vergessen.»
Der Gemeinderat Emmen sieht keinen Interessenkonflikt zwischen der heutigen und der früheren politischen Tätigkeit des Bau-Lobbyisten. «Herr Bühlmann kennt die Situation vor Ort und ist gut vernetzt», sagt Gemeinderat Josef Schmidli. Vor seinem Engagement für Losinger-Marazzi war Bühlmann beim Emmer Bauunternehmen Brun tätig.
Dennoch: Stört es die Behörden nicht, dass ein Bauunternehmen so viel Einfluss auf die Stadtentwicklung nehmen könnte? Nein. Wenn ein Unternehmen viele Baufelder kaufe, könne er höchstens bestimmen, wie rasch die Bauprojekte umgesetzt würden, sagt der CVP-Gemeinderat. «Wie die Gebäude aussehen, bestimmt er aber nicht alleine.» Schmidli weist darauf hin, dass auch andere Unternehmen in den Startlöchern stehen, weil grosse Flächen in den nächsten Jahren baureif werden.
«Wir sind Entwickler, keine Investoren»
Daniel Bühlmann selber stapelt tief, als ihn zentral+ kontaktiert. «Wir sind nur die Entwickler von Arealen und nicht die Investoren. Losinger-Marazzi will kein eigenes Immobilien-Portfolio entwickeln, das wird oft miteinander verwechselt», sagt er zu zentral+. Gleichzeitig räumt er ein, dass Losinger-Marazzi in Emmen durchaus aktiv sei. «Wir sind daran, uns Land zu sichern.» Sein Arbeitgeber sei sehr interessiert, verschiedene Areale im Gebiet zu erwerben. «Wir bebauen sie und übergeben sie schlüsselfertig dem Investor. Interessenten werden die üblichen institutionellen Anleger wie Pensionskassen sein», sagt der Ex-Politiker.
Am weitestens fortgeschritten ist ein Entwicklungs-Auftrag im Gebiet des Bahnhofquartiers Emmen. Geplant ist dort eine Überbauung mit Büros und einer Geschossfläche von 20’000 Quadratmetern. Das Areal an der Seetalstrasse gehört einer Privatperson. In den nächsten Wochen wird sich Bühlmann mit Behördenvertretern von Emmen und des Kantons Luzern treffen, um über den Bebauungsplan zu verhandeln. «Wir rechnen damit, frühestens 2016 mit dem Bau loslegen zu können», sagt er.
Baufirma will Kanton Land abkaufen
Am Land des Kantons im Gebiet Reussegg/Kleine Emme, wo der Kanton eine Wohnüberbauung plant, ist Losinger-Marazzi ebenfalls interessiert. Dort warte man auf den Bebauungsplan und auf den Zeitpunkt, wenn der Kanton «sein Land zum Verkauf ausschreibt». Bühlmann rechnet auch hier bereits mit Terminen, Ende 2014 oder Anfang 2015. Für die Wohnüberbauung am Emmenufer wird der Kanton voraussichtlich einen Wettbewerb ausschreiben.
Auf einem anderen Landstück prüft der Kanton die Realisierung seines neuen Verwaltungszentrums. Beim Kanton gibt man sich dazu bedeckt: «Eine verwaltungsinterne Projektorganisation trifft momentan vorbereitende Abklärungen. Für konkrete Informationen zum Zentralen Verwaltungsgebäude ist es noch zu früh», sagt Andreas Töns, Informationschef des Kantons Luzern.
Der Appetit der Tochterfirma des multinationalen Konzerns Bouygues ist aber grösser. Er erstreckt sich auch auf die Entwicklungsareale auf der anderen Flussseite in Luzern-Reussbühl. Konkret geht es um ein Grundstück der CKW im Gebiet «Reussbühl West». Dort steht unter anderem eine Shedhalle, über deren Erhalt noch nicht entschieden ist. Man warte auf die Bebauungspläne der Stadt Luzern, sagt Bühlmann.
Trotz Bauboom überschaubare Kostensteigerung
Im Gebiet Reussbühl Ost/Reussbühlquai hingegen sei man noch nicht aktiv geworden, sagt Daniel Bühlmann. Der Grund: Die Eigentumsverhältnisse sind dort etwas komplizierter und sehr heterogen. Die teilweise alten Liegenschaften gehören verschiedenen privaten Besitzern. «Diese müsste man zuerst unter ein gemeinsames Dach bringen», sagt der Projektleiter von Losinger-Marazzi.
Hat der angekündigte Bauboom die Immobilienpreise in Emmen bereits steigen lassen? Daniel von Arx, Mediensprecher der Luzerner Kantonalbank: «Die Entwicklung der Immobilienpreise in Emmen in den letzten fünf Jahren unterscheidet sich nicht von derjenigen mit vergleichbaren Gemeinden in der Region.» Emmen gehört zur Region Agglomeration Luzern, zusammen mit 17 anderen Gemeinden. Die Zahlen für 2013 liegen noch nicht vor.
2012 zahlte man aber in Emmen für Eigentumswohnungen rund 5’000 bis 5’500 Franken pro Quadratmeter. Damit liegt Emmen in der Mitte der Preisskala im Kanton Luzern. Teurer sind zum Beispiel Ebikon oder Rothenburg, am teuersten Luzern und die Seegemeinden.
Doch auch wenn Emmen günstiger ist als Nachbargemeinden, gab es eine deutliche Preissteigerung: 2011 und 2010 zahlte man in Emmen noch 4’500 bis 5’000 Franken pro Quadratmeter. Also 10 bis 20 Prozent weniger.
Städtebauliches Leitbild definiert Zukunft |
Das Leitbild wurde an den so genannten Dreikönigsgesprächen in Emmen der interessierten Öffentlichkeit vorgestellt. Der bezeichnende Titel lautet: «Wie baut man eine moderne Stadt?» Ein solches Leitbild ist laut Architekt Andreas Sonderegger, der im städtebaulichen Begleitgremium mitwirkte, ein Novum. «Es ist ein Zwischenglied zwischen dem bereits beschlossenen behördenverbindlichen Masterplan für das Entwicklungsgebiet und den noch festzulegenden Bebauungsplänen für die einzelnen Areale.» Das Leitbild will einen Wildwuchs verhindern und eine optische Einheit oder städtebauliche Gesamtsicht gewährleisten. Das wird nicht allen gefallen, vor allem nicht den Grundeigentümern und Investoren. Diese wollen bekanntlich möglichst wenig müssen und möglichst viel selber bestimmen. Dem Vernehmen nach wird vor allem darüber diskutiert, wer die Bäume und geplanten städtischen Plätze bezahlen soll, nicht die städteplanerischen Themen stehen im Zentrum. Dass es überhaupt Bäume gibt, musste dem Kanton als Baumeister der neuen Verkehrsführung mühsam abgerungen werden. Der Standort jedes Baums wurde genau definiert, weil so viele verschiedene ober- und unterirdische Projekte laufen. Allein sieben Brücken entstehen in den nächsten drei Jahren am Seetalplatz, die ganze Gegend wird also umgepflügt. Behandlung in Emmen und LuzernIm neuen «Stadtzentrum» sollen gemäss dem städtebaulichen Leitbild präzise gesetzte Hochhäuser optische Akzente setzen. Auf einem zweiten Areal «Wohnen am Fluss im Reussegg» wird eine Bebauung mit drei hufeisenförmigen Gebäuden definiert. Ein dritter Bebauungsvorschlag wird unter dem Titel «Lebendiges Stadtquartier Reussbühl» beschrieben. Im Freiraumkonzept werden «angenehme Strassenräume, breite Gehbereiche, Baumreihen» gefordert. Definiert werden aber auch die Materialisierung der Fassaden und die maximalen Gebäudehöhen. Das Leitbild enthält ein Freiraumkonzept, ein Nachhaltigkeitskonzept und ein Beleuchtungskonzept. Das Leitbild wird, wie auch der Masterplan, nicht öffentlich aufgelegt. Es bildet aber behördenintern die Grundlage für die folgenden Bebauungspläne. Erst gegen diese sind dann auch Einsprachen möglich. «Ich bin zuversichtlich, dass das Leitbild positiv zur Kenntnis genommen wird», sagt der Emmer Baudirektor Josef Schmidli (CVP). Zu reden geben könnten laut Schmidli allenfalls die energetischen Vorschriften. Auch der Luzerner Stadtrat wird das Leitbild in diesen Tagen behandeln. Voraussichtlich im März wird es dann in der Luzerner Baukommission behandelt und den Parlamenten beider Ortschaften vorgelegt. |