Kontroverse um Arbeitszeiten

Die Luzerner Mitte und ihr Drang zur Sonntagsarbeit

Mitte-Ständerätin Andrea Gmür ist dafür, dass die Regeln für Sonntagsarbeit im Falle einer Strommangellage flexibilisiert werden. (Bild: zvg)

Ausgerechnet aus dem Kreis der Luzerner Mitte kommen Vorschläge, die am arbeitsfreien Sonntag ritzen. Eine Dozentin der Hochschule Luzern erklärt den Wert der arbeitsfreien Sonn- und Feiertage. Und da ist auch noch die Sache mit den «Schäflifinken».

Andrea Gmür hat gewonnen. Vorläufig jedenfalls. Mitte Dezember hat der Ständerat mit 22 zu 11 Stimmen bei 9 Enthaltungen eine Motion der Luzerner Ständerätin angenommen, mit der das Arbeitsgesetz abgeändert werden soll (zentralplus berichtete).

Eine Mehrheit des Ständerats folgte dem Vorschlag der Mitte-Politikerin, dass eine Energiemangellage als «dringendes Bedürfnis für Nacht- oder Sonntagsarbeit» definiert werden soll. Der Vorstoss von Andrea Gmür will es Unternehmen ermöglichen, dann zu arbeiten, wenn der Energieverbrauch geringer ist als üblich. Also in der Nacht oder am Sonntag.

Zentralschweizer Mitte-Politiker sind für Sonntagsarbeit in der Notlage

Der Vorstoss von Ständerätin Gmür geht nun an den Nationalrat. Kritische Stimmen sind zu erwarten. Selbst der Bundesrat war gegen die Motion Gmür. Das Arbeitsgesetz sei in diesem Bereich schon flexibel genug. Kritik kommt auch von den Gewerkschaften.

Interessant: Die Mitte unterstützte den Antrag der Luzerner Ständerätin für flexiblere Sonntagsarbeit nicht geschlossen. 6 von 13 abstimmenden Mitte-Ständeräten enthielten sich der Stimme. Nebst Andrea Gmür selber stimmten die übrigen Standesvertreter aus den Kantonen Luzern und Zug (Damian Müller, FDP, Peter Hegglin, Mitte, Matthias Michel, FDP) der Motion hingegen allesamt zu.

«Der Sonntag, ich sage es ganz ehrlich, ist auch mir heilig.»

Ständerätin Andrea Gmür

Frage an Ständerätin Gmür: Befürchten Sie nicht, dass der Sonntag als Ruhetag so weiter aufgeweicht wird? «Nein», antwortet Andrea Gmür und verweist auf ihr Votum im Ständerat. Dort betonte Mitte-Ständerätin Gmür, dass diese Flexibilisierung für Nacht- und Sonntagsarbeit nur befristet erfolgen solle. «Überhaupt soll das Sonntagsarbeitsverbot weder unterlaufen noch ausgehöhlt werden. Der Arbeitnehmerschutz ist und bleibt zentral. Der Sonntag, ich sage es ganz ehrlich, ist auch mir heilig.»

Zusatzfrage: Steht die Mitte – als Nachfolgepartei der CVP – in Bezug auf den arbeitsfreien Sonntag nicht in einer speziellen Verantwortung? Antwort Andrea Gmür: «Alle Parteien stehen immer in der Verantwortung. Es geht rein um eine zeitlich befristete Flexibilisierung in einer Ausnahmesituation.»

Die Kritik seitens der Gewerkschaften

Luca Cirigliano, Generalsekretär beim Schweizerischen Gewerkschaftsbund (SGB), spricht in Bezug auf den Vorstoss Gmür von «Symbolpolitik, Salami-Taktik und wohl auch Ideologie». Denn bei einer Strommangellage könnten alle Kantone problemlos solche Bewilligungen geben, wenn die objektiven Gründe dafür vorlägen. Aber so werde das Ganze in der Verordnung «perpetuiert» und der Katalog der «Ausnahmen» künstlich länger gemacht, als dies überhaupt nötig wäre.

In einem Tamedia-Beitrag vom 13. Dezember wurde darauf hingewiesen, dass der Vorstoss von Andrea Gmür breite Zustimmung seitens der Wirtschaft geniesse. Die Luzerner Ständerätin wurde dazu folgendermassen zitiert: «Ich war selber überrascht, wie gross das Bedürfnis ist und wie viel Unterstützung ich von vielen Seiten bekommen habe.»

Der Vorstoss von alt Ständerat Graber

«Frau Gmür ist zu gut vernetzt mit der Wirtschaft, um wirklich überrascht zu sein, wie sie vorgibt», findet hingegen Marcel Budmiger, Geschäftsleiter des Luzerner Gewerkschaftsbundes (LGB). «In der Luzerner CVP/Mitte haben aber Vorstösse für schlechteren Arbeitsschutz Tradition. So beschäftigte uns eine Motion von alt CVP-Ständerat Konrad Graber zu diesem Thema stark. Und in der Stadt Luzern ist Mitte-Stadträtin Franziska Bitzi eine Vorkämpferin für den Sonntagsverkauf.»

Der von Marcel Budmiger erwähnte Vorstoss von alt Ständerat Konrad Graber ist noch immer aktuell. Konrad Graber ist der direkte Amtsvorgänger von Andrea Gmür und mittlerweile schon gut drei Jahre nicht mehr Ständerat.

Seine parlamentarische Initiative mit dem sperrigen Titel «Teilflexibilisierung des Arbeitsgesetzes und Erhalt bewährter Arbeitszeitmodelle» harrt noch immer der Umsetzung. Der Ständerat hat im Juni 2021 die entsprechende Frist bis Mitte 2023 verlängert. Inhaltlich geht es bei der Initiative unter anderem um die Möglichkeit, sogenannt «leitende Angestellte» vom Verbot der Sonntagsarbeit ausnehmen zu können.

«Es ist sehr kurios und spricht für einen Werte-Verlust der Partei. Insbesondere der Sonntag bedeutet der Partei offenbar nichts mehr.»

Luca Cirigliano vom Schweizerischen Gewerkschaftsbund (SGB)

Eine breite Allianz mit der Bezeichnung «Allianz gegen Stress und Gratisarbeit» – darunter auch die Schweizerische Gesellschaft für Arbeitsmedizin – sprach sich nach Einreichung der parlamentarischen Initiative dezidiert gegen das Ansinnen des früheren Luzerner CVP-Ständerats aus. Konrad Graber teilt auf Anfrage mit, dass er sich zu politischen Fragen nicht mehr äussere.

Luca Cirigliano vom Schweizerischen Gewerkschaftsbund (SGB) kritisiert die Mitte als Nachfolgepartei der CVP deutlich: «Es ist sehr kurios und spricht für einen Werte-Verlust der Partei. Insbesondere der Sonntag bedeutet der Partei offenbar nichts mehr. Dafür Deregulierung zulasten der Gesundheit und des Soziallebens der Arbeitnehmenden. Hier wird offenbar für gewisse Arbeitgeber partikuläre Interessenpolitik gemacht.»

Sonntagsarbeit: für Luzerner Mitte ein nationales Thema

Wie beurteilt man bei der Luzerner Mitte den Umstand, dass die genannten Vorstösse aus ihren Reihen stammen? Steht die Mitte aufgrund ihrer Tradition betreffend Sonntagsarbeit nicht in einer besonderen Verantwortung?

Vizepräsidentin Michaela Tschuor antwortet: «Derzeit handelt es sich bei dem von Ständerätin Andrea Gmür eingereichten Vorstoss um ein Thema auf nationaler Ebene. Die Kantonalpartei hat sich dazu bisher noch nicht geäussert, zumal dieses Thema derzeit noch nicht auf kantonaler Ebene präsent ist.»

Menschen als Ressource gedacht

Geäussert hat sich hingegen Silvia Henke, Publizistin und Dozentin an der Hochschule Luzern, und zwar zum Thema «Freie Tage und Feiertage» ganz generell: Dies kürzlich in einem Gastbeitrag mit dem Titel «Heilige Zeit».

Auf Anfrage bestätigt Silvia Henke, dass der gesellschaftliche Konsens über einen allgemein verbindlichen ruhigen und arbeitsfreien Tag in der Woche viele Vorteile in sich birgt. Es möge zwar in einigen Fällen um komplizierte industrielle Produktion gehen, die nicht unterbrochen werden dürfe. «Aber ob dort oder im einfachen Konsumgeschäft: Es sind immer Menschen, welche die Arbeit machen. Wirtschaftsverbände zeichnen gerne Bilder, in welchen Menschen nicht vorkommen.»

Sie seien als Ressource gedacht, wie Maschinen und Rohstoffe. Menschen aber, die Schicht arbeiten, die keine geregelten Feiertage und Sonntage haben, leiden gemäss Henke in der Regel und haben eine schlechtere Gesundheit.

Freizeit ohne Konsum hilft der Gemeinschaft und dem Klima

Und für die Gesellschaft als Ganzes wären aus Sicht von Henke Nacht- und Sonntagsarbeit ein Schritt in die völlig falsche Richtung: «Jeder Tag, an dem wir nicht konsumieren, wäre eine Erholung für die Städte. Alle Freizeit, die ohne Konsum und Auto erfüllt ist, hilft der Gemeinschaft und dem Klima. Es gibt den gemütlichen Sonntag und den geselligen Sonntag, den müssen wir nicht erfinden.»

Es gebe Restaurants, Museen, Kulturhäuser, Sportanlagen und so weiter für Zusammenkünfte am Sonntag. Es werde also schon genug gearbeitet. «Generelle Sonntagsarbeit aber wäre ein Rückschritt in die Zeit, als wir vergessen hatten, dass es auch Ruhe braucht. Heute wissen wir es wieder, oder?», fragt Silvia Henke rhetorisch.

«Der Mensch lebt nicht vom Brot allein»

Die österreichische Literaturwissenschaftlerin Daniela Strigl wies im August dieses Jahres im «Echo der Zeit» von Schweizer Radio SRF auf den Zusammenhang zwischen dem Siegeszug des Kapitalismus und dem «Druck, unter dem heute die Sonntagsruhe steht» hin. Auf Anfrage erklärt Daniela Strigl, dass der Kapitalismus «naturgemäss» an einer menschlichen Arbeitskraft interessiert sei, die rund um die Uhr flexibel und kostengünstig verfügbar sei.

Ein Konflikt entstehe dadurch, dass bürgerlich-kapitalistische Parteien traditionell auch christliche und daher in dieser Frage zumindest gespalten seien. Denn vom christlichen Standpunkt her gelte ja das biblische «Der Mensch lebt nicht vom Brot allein», gibt Daniela Strigl zu bedenken. «Vom dritten Gebot ganz zu schweigen.» Natürlich müssten für gewisse Branchen Ausnahmen gelten. «Der Vorstoss von Frau Gmür geht aber wohl bewusst darüber hinaus.»

Die Sache mit den Schäflifinken

Daniela Strigl zitiert in ihrem neuen Buch «Gedankenspiele über die Faulheit» aus dem 1880 erschienenen Werk «Das Recht auf Faulheit» von Paul Lafargue. Dieser erinnere an den mittelalterlichen Reichtum an freien Tagen und werfe der damaligen Arbeiterbewegung vor, im Kampf um freie Zeit zu wenig radikal zu sein. In Österreich hätten sich schon vor einiger Zeit die Gegner der «Sonntagsindienstnahme» zusammengeschlossen.

Im bereits erwähnten Tamedia-Text wird auch die Direktorin des Schweizer Detailhandelsverbandes zitiert, die in Unterstützung der Motion Gmür vor möglicher Panik im Falle eines Energiemangels warnt. Leere Regale wie zu Beginn der Pandemie könnten sich demnach wiederholen, «etwa wenn plötzlich jeder einen warmen Schal, Wollsocken und Schäflifinken will (…).»

Dazu Daniela Strigl lakonisch: «Ich rätsle noch, was ‹ Schäflifinken›  sein könnten. Jedenfalls etwas, das ganz dringend sonntags zur Hand sein muss.»

Stadträtin Franziska Bitzi (Mitte) und die Sonntagsarbeit

Der Luzerner Gewerkschafter Marcel Budmiger bezeichnet die Luzerner Mitte-Stadträtin Franziska Bitzi als eine Vorkämpferin für die Sonntagsverkäufe. Im Januar dieses Jahres äusserte sich Franziska Bitzi in der Luzerner Zeitung erfreut über einen Vorstoss des Luzerner Regierungsrats Fabian Peter (FDP), den dieser mit Mitgliedern anderer Kantonsregierungen eingereicht hatte. Ziel dieses Vorstosses war es, die Läden in Innenstädten auch sonntags öffnen zu dürfen.

Angesprochen auf die Kritik von Gewerkschafter Budmiger verweist Stadträtin Franziska Bitzi unter anderem auf den Verein Metropolitankonferenz Zürich, der im Frühling 2022 eine Lockerung des Arbeitsgesetzes angeregt hatte. Franziska Bitzi schreibt dazu: «Es geht dabei nicht darum, flächendeckend Sonntagsverkäufe zu ermöglichen. Die Städte und Gemeinden sollen aber die Möglichkeit erhalten, gezielt und bedürfnisgerecht bestimmte Gebiete für den Städtetourismus attraktiver zu machen und die Orte auch am Sonntag zu beleben.»

Aus Sicht des Stadtrats sei es wichtig, dass die Kantone damit den Sonntagsverkauf lediglich ermöglichen, nicht aber gegen den Willen einer Stadt verordnen könnten.

Der Luzerner SP-Präsident David Roth hält dagegen. Die SP sei gegen eine Ausweitung der Öffnungszeiten auf den Sonntag. «Die CVP vergisst hier die Angestellten und die kleinen Läden. Das Verkaufsvolumen wird nicht steigen. Vielmehr wird der Verkauf auf sieben statt auf sechs Tage verteilt. Das ist für kleinere Läden nicht bewältigbar.» Coop habe keine Mühe, mit drei statt mit zehn Leuten im Laden zu sein und könne so kosteneffizient offen halten. Ein kleinerer Laden hingegen werde mit den längeren Öffnungszeiten auf dem gleichen Umsatz verbleiben.

Verwendete Quellen
  • Schriftlicher Austausch mit: Andrea Gmür, Ständerätin, Mitte, LU / Schweizerischer Gewerkschaftsbund (SGB) / Marcel Budmiger, Geschäftsleiter Luzerner Gewerkschaftsbund (LGB) / Michaela Tschuor , Vizepräsidentin Mitte Kanton Luzern / Silvia Henke, Dozentin Hochschule Luzern / Daniela Strigl, Literaturwissenschaftlerin, Wien / Franziska Bitzi, Stadträtin Luzern, Mitte / David Roth, Präsident SP Kanton Luzern / Eidg. Parlamentsdienste, Bern
  • Motion Gmür-Schönenberger Andrea, 22.3921, Verlauf der Debatte
  • Parlamentarische Initiative Graber Konrad, 16.414
  • Tamedia-Artikel vom 13.12.22, «Wenn die Energie ausgeht, solls Nacht-und Sonntagsarbeit richten»
  • Radio SRF, Echo der Zeit, vom 21. August 22, «Faulheit ist ein Zustand der Freiheit»
  • Infosperber vom 8.12.22, Silvia Henke, «Kontertext: Heilige Zeit»
9 Kommentare
Apple Store IconGoogle Play Store Icon