Das sagen Zuger und Luzerner Politiker vor den Bundesratswahlen
Auch Luzerner und Zuger reden bei den kommenden Bundesratswahlen ein Wörtchen mit. Sie erklären gegenüber zentralplus, wie sie zur Zauberformel stehen und mögliche Ansprüche auf einen Sitz im Bundesrat begründen.
Am Mittwochvormittag finden die Bundesratswahlen statt. Wer für die nächsten vier Jahre in der Landesregierung Einsitz nehmen darf, ist dabei wie schon früher umstritten. Es gibt Spekulationen um wilde Kandidaturen und darum, welche Partei Anspruch auf wie viele Sitze hat.
Rahel Estermann ist seit Januar dieses Jahres Generalsekretärin der Grünen Schweiz. Die Luzerner Kantonsrätin ist damit auch passende Ansprechpartnerin, da die Grünen mit dem Freiburger Nationalrat Gerhard Andrey ebenfalls einen Kandidaten stellen (zentralplus berichtete). zentralplus will von ihr wissen, was darüber entscheidet, ob eine Partei Anspruch hat auf einen Sitz in der Landesregierung.
Estermann verweist auf die Geschichte: «Zu den identitätsstiftenden Merkmalen unseres politischen Systems gehört die Konkordanz.» Es gehe darum, die relevanten Kräfte einzubinden und jeweils gemeinsam einen Konsens auszuhandeln. «Die Konkordanz war – zusammen mit dem Referendumsrecht – ein Mittel gegen die Herrschaft der freisinnigen Eliten im 19. Jahrhundert. Beide Mittel führten dazu, das politische System demokratischer zu machen.» Dieses System habe die Schweiz über die vergangenen knapp 150 Jahre geprägt. «Kaum jemand in der Schweiz möchte ein System von Regierung und Opposition; kaum jemand möchte die direkte Demokratie beschneiden.»
«Weniger Zauber, mehr Demokratie»
Die Konkordanz sei ein Element der starken, direktdemokratischen Schweizer Demokratie, das darauf abziele, eine möglichst grosse Breite der politischen Kräfte und Ansichten der Wähler einzubinden. «Im Zeitalter der Erfindung der ‹Zauberformel› waren 85 Prozent der Wähler und Wählerinnen in der Regierung vertreten, inzwischen sind es noch knapp 75 Prozent. Während der vergangenen Legislatur waren es noch einige Prozente weniger», sagt Estermann. Es seien also kaum je so viele Wähler und Wählerinnen nicht in der Regierung eingebunden gewesen wie in der heutigen Zeit. «Aus unserer Sicht hat die ‹Zauberformel› ausgezaubert – für uns ist klar: weniger Zauber, mehr Demokratie.»
«Eine Nichtwiederwahl eines Bundesratsmitglieds sollte kein Tabu sein, sondern als legitime demokratische Entscheidung anerkannt werden.»
Rahel Estermann, Generalsekretärin der Grünen Schweiz und Luzerner Kantonsrätin
Fast bei jeder Bundesratswahl wird mittlerweile darüber diskutiert und gestritten, aufgrund welcher Kriterien einer Partei ein Sitz in der Landesregierung zustehen soll. Für Rahel Estermann ist klar: «Die Wählerstärke scheint uns dafür das beste Mittel zu sein.» Dies – oder auch weitere Aspekte – fix zu definieren, erachtet Rahel Estermann aber nicht als zielführend. «Geschriebene Regeln bringen uns der Stärkung der Konkordanzdemokratie wohl kaum näher, dafür sind die Entscheide zu vielschichtig.»
Auch Regierungsräte schaffen Wiederwahl nicht immer
Rahel Estermann kommt auf einen weiteren Punkt zu sprechen: «Eine Nichtwiederwahl eines Bundesratsmitglieds sollte kein Tabu sein, sondern als legitime demokratische Entscheidung anerkannt werden.» Schliesslich würden auch kantonale oder kommunale Exekutivmitglieder manchmal nicht wiedergewählt.
«Auch das Argument der ‹Stabilität› sticht hier nicht.» Denn im Bundesrat komme es ebenso oft zu Departementswechseln, was de facto einer Neubesetzung der jeweiligen Departementsspitze entspreche. «Hier mehr Spielräume zu schaffen für häufigere parteipolitische Veränderungen, würde auch das Machtkartell weniger hart machen – dieses Machtkartell, das heute aufgrund der Interessenlage fast jegliche Stärkung der Konkordanz verunmöglicht und Bundesräte und Bundesrätinnen sich an ihre Ämter klammern lässt», sagt Estermann.
Pfister will keinen Sprengkandidaten
Es war vorab der Zuger Nationalrat und Mitte-Präsident Gerhard Pfister, der in den vergangenen Wochen immer und immer wiederholt hatte, die Abwahl eines amtierenden Bundesrats komme nicht infrage. In der «Arena» vom SRF am vergangenen Freitag sprach der Politbeobachter Michael Hermann in diesem Zusammenhang von einem «Mantra». Mitte-Präsident Pfister habe dies so schon früh immer wieder dargelegt. Und jetzt komme er da einfach nicht mehr heraus.
Die Frage geht deshalb an den Mitte-Präsidenten Gerhard Pfister: Wie beurteile er das Ganze? Pfister schreibt, er habe sich in den vergangenen Wochen derart ausführlich und häufig in den Medien geäussert, dass sich genug Zitierfähiges finden lasse. «Und etwas Neues fällt mir dazu beim besten Willen nicht mehr ein.»
In der Tat: Pfister kam in den vergangenen Wochen in den Medien sehr oft zu Wort. So erklärte er beispielsweise am 23. November gegenüber dem «Tages-Anzeiger», dass er für die Berset-Nachfolge keinen Sprengkandidaten wolle, auch nicht sich selbst. «Wir können nicht allen Ernstes einen amtierenden Bundesrat attackieren, wenn der Abstand zwischen der FDP und uns 0,2 Prozent Wähleranteil und ein paar ‹Sitzli› beträgt.» Er finde taktische Spielchen, die zur Abwahl von Bundesräten führen würden, nicht richtig. «Das ist respektlos gegenüber den Institutionen.»
Rücktritt als «elegantere Möglichkeit»
Auf Nachfrage äussert sich Pfister dann doch noch kurz zum Hinweis von Rahel Estermann, wonach ja auch Regierungsräte manchmal abgewählt würden: «Das eine sind Volkswahlen, das andere nicht. Mit Gründen», sagt Pfister.
Sarah Bütikofer, Politikwissenschaftlerin an der Universität Zürich, ergänzt: «Wahlen in Regierungsrat und Bundesrat kann man definitiv nicht direkt vergleichen.» Das System in der Schweiz funktioniere nur deshalb – «mehr schlecht als recht» –, weil es zu einem grossen Teil auf Verlässlichkeit und Vertrauen in die jeweils anderen Akteure zählen könne. «Zentral ist aber, dass der Parteienproporz beim Bundesrat zwingend schon vor der Wahl zwischen den Parteien verhandelt werden sollte.» Dies jedenfalls dann, wenn man unschöne Manöver und Instabilitäten verhindern möchte. Zwar komme auch bei Regierungsratswahlen das Angebot zumeist durch Absprachen unter den Parteien zustande. Aber das Ganze sei hier jeweils weniger definitiv; das Volk habe immer das letzte Wort.
«Wahlen haben immer das Risiko, dass amtierende Ratsmitglieder abgewählt werden können.»
Peter Hegglin, Ständerat Kanton Zug (Mitte)
Trotzdem hält die Politikwissenschaftlerin Sarah Bütikofer fest: «Tabu ist relativ: Es gab bisher vier Abwahlen von Bundesräten, davon zwei in den vergangenen 20 Jahren. Ein erfolgreich eingefädelter Rücktritt eines amtierenden Bundesrats aus einer Partei, deren Anspruch infrage gestellt wird, würde aber selbstverständlich den anderen Parteien eine viel elegantere Möglichkeit bieten, eigene Machtgelüste zu demonstrieren, als eine plump orchestrierte Abwahl.» Sarah Bütikofer gibt zudem zu bedenken: «Das heutige System gibt einfach den etablierten Parteien sehr viel Macht, und jene Parteien, die nicht dabei sind (Grüne und GLP), haben das Nachsehen.»
Wahlen beinhalten immer ein Risiko
Peter Hegglin ist zwar nicht Mitglied des nationalen Mitte-Präsidiums. Der frühere Zuger Regierungsrat hat aber seit 2015 Einsitz im Ständerat und hat in dieser Funktion mittlerweile schon diverse Bundesratswahlen miterlebt. Zweimal handelte es sich um Gesamterneuerungswahlen, dazu kamen mehrere Ersatzwahlen. Was meint Peter Hegglin zum Einwand von Rahel Estermann, dass es auf kantonaler und kommunaler Ebene ja auch hin und wieder zur Abwahl von Mitgliedern der Exekutive komme?
«Wahlen haben immer das Risiko, dass amtierende Ratsmitglieder abgewählt werden können», antwortet Hegglin. «Wollten wir das verhindern, dürften keine Wahlen durchgeführt werden.» Rahel Estermann hatte zudem darauf hingewiesen, dass es jeweils bei einem Departementswechsel eines Bundesrats ebenfalls zu einer Neubesetzung der Departementsspitze komme. Dazu sagt Peter Hegglin: «Ein Departementswechsel verursacht Bewegung. Eine Veränderung ist nicht per se schlecht, es kann auch Chancen eröffnen. Nur sollte ein solcher Wechsel nicht zu oft stattfinden.»
«Von Zauberformel steht nichts in der Verfassung»
«Zauberformel und Konkordanz sind ein politisches Konstrukt, keine formelle Regel», sagt der Politikwissenschaftler Georg Lutz von der Universität Lausanne. «Alle Interpretationen, was das genau heisst, sind darum rein politischer Natur und haben keine formale Relevanz.» Lutz verweist auf die Verfassung und auf das Parlamentsgesetz: «Von Zauberformel, Konkordanz oder Proporz steht nichts in der Verfassung oder im Parlamentsgesetz.»
Lutz findet, man solle nicht mehr von einer «Zauberformel» reden. Dieses Konstrukt stamme aus einer Zeit, als es drei grosse Parteien (CVP, FDP und SP) mit je 20 bis 25 Prozent Stimmenanteil im Nationalrat gab und zusätzlich eine Partei (SVP) mit 10 bis 15 Prozent. «Jetzt gibt es nur noch eine grosse Partei, die rein rechnerisch Anspruch auf zwei Sitze hat: die SVP.» Alle Übrigen seien kleinere Parteien; diese hätten noch einen sicheren Anspruch auf maximal einen Sitz.
Was soll als Berechnungsbasis dienen?
«Wenn man der Meinung ist, die Schweiz solle eine Konkordanzregierung aufrechterhalten – was verfassungsmässig nicht vorgegeben, aber immerhin Konsens bei allen Parteien ist –, dann sollte man der Logik folgen, dass die Parteien entsprechend ihren Kräfteverhältnissen vertreten sein müssen«, sagt Georg Lutz. «Die Kräfteverhältnisse werden meiner Ansicht nach am besten durch die Stimmenanteile bei den Nationalratswahlen abgebildet.» Alle anderen Grössen seien «verzerrt» durch Wahlsysteme. Dies betreffe insbesondere auch den Ständerat.
Es gebe immer wieder Diskussionen, was als Berechnungsbasis zu nehmen sei, wenn man proportional Sitze verteilen wolle, so Lutz weiter. «Ich habe schon alles gehört: Wähleranteil Nationalrat, Sitzanteil Nationalrat – Partei oder Fraktion –, Sitzanteil Vereinigte Bundesversammlung oder irgendwie auch noch die Miteinberechnung der Kantonsregierungen.» Zusätzlich höre man auch, dass dies für Blöcke gelten solle – was ja nicht besonders klar definiert sei. «Dann kann man sich auch noch darüber streiten, welche Formel man für die Berechnung der Sitzverteilung nehmen soll. Da gibt es ebenfalls verschiedene Möglichkeiten.»
«Man sollte die Diskussion viel politischer führen»
Es sei wenig überraschend, dass die Parteien jeweils jene Kriterien und Varianten nutzen würden, die ihnen gerade am besten passen würden. Es finde ein Kampf um die Deutungshoheit statt, was denn nun die «richtige» Variante sei. «SVP und FDP interpretieren die Zauberformel immer noch so, dass gestützt auf die Wähleranteile im Nationalrat die drei stärksten Parteien zwei Sitze und die viertstärkste Partei einen haben sollen. Praktischerweise kann man damit die SVP/FDP-Mehrheit im Bundesrat begründen.» Mathematisch sei dieses Modell hingegen nicht mehr begründbar.
Lutz’ Fazit: «All die Diskussionen über proportionale Verteilungen sind relevant für Politik und Medien, mehr nicht. Praktisch ist einzig von Bedeutung, für welche Interpretation es eine Mehrheit in der Bundesversammlung gibt. Oder noch simpler: Es braucht für jede Wahl in den Bundesrat das absolute Mehr, unabhängig davon, was zu Zauberformel und Konkordanz alles gesagt und geschrieben wird.» Lutz vertritt den Standpunkt, dass man in dieser Argumentationslogik die Diskussion über die Zusammensetzung des Bundesrats viel politischer führen sollte – und nicht über mathematische Modelle.
- Schriftlicher Austausch mit Rahel Estermann, Generalsekretärin Grüne Schweiz und Luzerner Kantonsrätin
- Schriftlicher Austausch mit Gerhard Pfister, Präsident Mitte Schweiz und Nationalrat des Kantons Zug
- Schriftlicher Austausch mit Peter Hegglin, Ständerat Mitte Kanton Zug
- Schriftlicher Austausch mit Sarah Bütikofer, Politikwissenschaftlerin Universität Zürich
- Schriftlicher Austausch mit Georg Lutz, Politikwissenschaftler Universität Lausanne
- «Arena» vom SRF, Sendung vom 8. Dezember 2023
- Artikel im «Tages-Anzeiger» vom 23. November 2023