Wut, Tränen, Rührung – So reagierte Luzern auf die Leichen-Aktion
Ein Jahr lang legten sich am Ende jedes Monats in Luzern Menschen unter Leichentüchern auf den Boden. Eine Geschmacklosigkeit, fanden die einen. Bei anderen löste die Aktion der Künstlerin Beatrice Fleischlin positive Reaktionen aus. Nun blickt das Team von «Just one Minute» zurück – auf bewegende Momente.
Menschliche Körper unter weissen Tüchern liegen in der Nähe des Wassers – fein säuberlich aufgereiht. Dieses Bild ist einem letztes Jahr in Luzern öfters begegnet. Nun ist die Aktion, die in der Bevölkerung und der Presse stark polarisierte, abgeschlossen.
Am 30. April vergangenen Jahres wurde «Just one Minute», ein Projekt der Künstlerin und Theaterschaffenden Beatrice Fleischlin, in Luzern uraufgeführt. Von da an legte sich jeden Monat einmal – von weissen Laken bedeckt – für eine Stunde eine Gruppe von Leuten auf den Asphalt.
Mittels eines Plakates wurden die Passanten eingeladen, eine Minute an jene zu denken, welche auf dem Weg in eine bessere Zukunft ihr Leben verloren haben, oder gerade unterwegs sind, um nie anzukommen.
Glücklichstes Land, Flüchtende auf dem Mittelmeer
Beatrice Fleischlin, vergangenes Jahr Associated Artist im Südpol Luzern, lancierte die Aktion in Zusammenarbeit mit Marco Liembd und dem Südpol-Team. Ebenfalls immer mit dabei war der Fotograf Roberto Conciatori.
Zum Projekt inspiriert hatte Fleischlin im April 2015 die Gleichzeitigkeit zweier Neuigkeiten. Zum einen die Ernennung der Schweiz zum glücklichsten Land der Welt durch den «World Happiness Report», zum anderen die Flüchtlingskatastrophe am 19. April im Mittelmeer, bei welcher wieder Hunderte von Menschen ums Leben kamen. Diese beiden Punkte verbindet deshalb auch das Plakat:
Im Südpol zu sehen
Die unzähligen Bilder, die Roberto Conciatori über das ganze Jahr hinweg geschossen hat, werden nun im Südpol gezeigt. Die Ausstellung im Foyer ist bis zum 19. Juni während den Öffnungszeiten des Südpols zugänglich. Conciatori arbeitet als Berufsfotograf, hatte sich jedoch von Beginn weg dazu bereit erklärt, die Aktion unentgeltlich zu unterstützen. «Meine Fähigkeiten für eine gute Sache zur Verfügung zu stellen, war mir dieses Mal definitiv wichtiger», sagt er.
Nicht nur die Bilder von Conciatori und Tonaufnahmen, auch eine Mappe voll mit Dokumenten findet sich in der Ausstellung. Alle Reaktionen, von Seiten der Presse und der Behörden, wurden gesammelt und geordnet. Und es sind nicht wenige.
Die erste Aktion fand noch ohne Bewilligung statt. Dies führte nicht nur bei der Polizei und der Stadt zu Unmut, auch im Südpol selbst gab es Aufruhr. Nicht alle waren damit einverstanden, dass sich das Kulturhaus und das Team mit einer «illegalen» Aktion in der Öffentlichkeit in den Fokus stellte.
Politisch aktiv durch Kunst
Bei der Vernissage am Montag, 13. Juni, im Südpol bedankte sich Fleischlin in intimer Runde bei allen Beteiligten. Und besonders bei Benjamin Jafari, welcher den Abend mit einer Performance abrundete.
Jafari studierte Politikwissenschaften und internationale Beziehungen im Iran, bevor er 2007 aus politischen Gründen in die Schweiz floh. Hier kam er in Berührung mit der Theater-, Film- und Tanzwelt und wirkt kontinuierlich in künstlerischen Projekten mit, beispielsweise bei Rimini Protokoll. Dass Jafari an der Vernissage auftrat, ist der neuen Dramaturgin des Südpols, Mona De Weerdt, zu verdanken. Sie hatte den Iraner in Zürich bei einem Theaterprojekt kennengelernt.
«Rohstoffe nimmt die Schweiz gerne von anderen Ländern, aber nicht die Menschen.»
Benjamin Jafari
Jafaris Performance im Südpol ist sehr persönlich. Er liest ein Gedicht und tanzt zu einem Lied des iranischen Hip-Hoppers Shahin Najafi, auf welchen in seinem Heimatland ein Kopfgeld von 100’000 Dollar ausgesetzt wurde – wegen Gotteslästerung. «Rohstoffe nimmt die Schweiz gerne von anderen Ländern, aber nicht die Menschen», sagt Jafari in seinen Texten.
Durch das Wissen, dass Jafari selbst tatsächlich in dieser Situation war, liegt die Performance schwer im Magen. «Theater gibt mir eine Möglichkeit, politisch aktiv zu sein, meine Meinung zu sagen und die Leute damit zu erreichen», so Jafari.
Passend kreisen die Gespräche bald nach der Performance um persönliche Erlebnisse bei der Aktion, um die aktuelle Situation der Flüchtlingskrise, um Terror und Politik.
Bei jedem Wetter
Bei der Aktion mit den Leichentüchern selbst waren jedoch vor allem die Passanten auf das Thema Flucht zurückgeworfen. Viele der Teilnehmer hingegen gaben zu, während des Liegens eine Stunde lang gar nicht an die Flüchtlinge gedacht zu haben. Viele nahmen sich die Zeit, einfach mal in Ruhe die Gedanken schweifen zu lassen, oder zu meditieren. Je nach Witterung war das mehr oder weniger angenehm. Denn der harte Kern war bei Wind und Wetter – bei Regen und Kälte – vor Ort.
Elf Mal fand die aufwühlende Aktion in Luzern statt. Und einmal jeweils in Basel, Zürich, Bern und Berlin – in Zusammenarbeit mit dort ansässigen Theatern. Fleischlin selbst lag oft selbst mit unter den Tüchern. «Am Anfang hatte ich ein etwas mulmiges Gefühl, den Passanten so wehrlos ausgesetzt zu sein», gibt sie zu. Und das, obwohl sie wusste, dass immer jemand in der Nähe war, der beobachtete, dass den Liegenden nichts passierte.
Tränen und Liebesbriefchen
Über das ganze Jahr hinweg erlebten die Organisatoren und Freiwilligen unzählige ganz unteschiedliche Reaktionen von Passanten. Natürlich gab es viele Sprüche wie: «Muss das denn sein? Kunst soll das sein?» Aber es waren auch ganz viele schöne und bewegende Begegnungen darunter, erzählt Fleischlin.
Einmal sei eine Frau sehr lange stehengeblieben. So lange, dass Fleischlin sich dazu entschied, zu ihr hinzugehen. «Da sah ich, dass sie vollkommen aufgelöst war. Sie weinte richtig heftig.» Beim Gespräch habe die Frau etwas gesagt, das für die Künstlerin dem Ziel der Aktion sehr nahe kommt. «Sie sagte, dass wir damit ihrer Hilflosigkeit der ganzen Situation gegenüber ein Bild gegeben haben.»
Auch zentralplus hat sich die Aktion im vergangenen Jahr genauer angeschaut und dabei vor allem die teilweise extremen Reaktionen der Passanten studiert (zum Artikel).
«Die Frau sagte, dass wir ihrer Hilflosigkeit ein Bild gegeben haben.»
Beatrice Fleischlin
Marco Liembd war fast jedes Mal vor Ort und hat dabei zahlreiche ganz unterschiedliche Reaktionen von Passanten erlebt. «Eines der seltsamsten Gespräche hatte ich mit einer Person, die sich gar nicht wohl fühlte mit diesem Bild. In der Schweiz sei auch alles teuer und auch wir könnten uns längst nicht mehr alles leisten.» Bei dieser Person habe die Aktion wohl andere Assoziationen ausgelöst.
Asiatische Touristen seien wohl nicht besonders gewöhnt an diese Art von Kunst, oder diese Art von öffentlichen Aktionen. Immer wieder habe er sich über die sehr verwunderten Gesichter amüsiert. «Ich glaube auch, erkannt zu haben, wenn Menschen, die geflüchtet sind, vorbeikamen», sagt Liembd. Diese seien oft wie angewurzelt stehengeblieben und offensichtlich sehr bewegt gewesen.
Als schönstes Erlebnis nennt Liembd einen Zettel, welchen eine junge Frau den Liegenden hinlegte. «Ich finde es toll, was ihr gemacht habt. Geniale Performance. Danke», steht darin. Mit einem Herzchen.
Eine Aktion ohne Absender
«Eigentlich war es ja kein Aufwand», sagt Fleischlin und ergänzt: «Es braucht ein paar Leute, welche sich einmal im Monat eine Stunde Zeit nehmen. Und Leintücher.» Ganz wenig Mittel nur, doch die Aktion an sich, das Bild, welches entsteht, gewinnt eine grosse Eigendynamik. «Die Leute machen Fotos, ärgern oder freuen sich – und sie erzählen ihren Familien und Freunden davon.» So enstehen Diskussionen zum Thema zwischen Menschen, die die Aktion teilweise gar nicht persönlich gesehen haben.
Dass die Aktion so viele Reaktionen auslöste – auch in der Presse –, ist für Fleischlin einfach zu erklären. «Es war mir wichtig, dass es keinen Absender gibt. Das heisst, dass niemand die Leute anspricht, keine Partei, keine Organisation dahintersteht und beispielsweise Flyer verteilt.» Denn so könnten die Passanten die Aktion nicht gleich einordnen und in eine Schublade stecken. «Es bleibt damit eine Zäsur im Alltag, eine Irritation auf dem Weg durch die Stadt.» Und das rege zum Nachdenken an.