Internationales Projekt am «Fumetto»

Die Russin und der schnelle Schweizer

Olga 1

Was passiert, wenn sich zwei fremde Menschen aus völlig verschiedenen Kulturen Comic-Zeichnungen hin- und herschicken? Olga Lavrenteva aus St. Petersburg und Pierre Wazem aus Genf haben genau das ausprobiert. Entstanden sind spannende Comics mit verwirrenden Geschichten. zentral+ traf die beiden in Luzern zu einem Gespräch über Kunst, Krieg und Leidenschaft.

Der eine ist Stammgast am Fumetto, die andere zum ersten Mal in ihrem Leben in Luzern. Pierre Wazem, 45-jähriger Familienvater und Comic-Künstler aus Genf spricht vor allem Französisch, Olga Lavrenteva, 29-jährige Designerin und Zeichnerin aus St. Petersburg, spricht Russisch und etwas Englisch. Beide haben Hunger. Keine einfache Ausgangslage für ein Gespräch – oder doch?

zentral+: Wie konnten Sie zusammen arbeiten, wenn Sie Tausende von Kilometer voneinander entfernt leben?

Olga Lavrenteva: Wir haben einander Briefe mit Zeichnungen geschickt. So tauschten wir Ideen aus und entdeckten, was der andere für einen Zeichnungsstil hat, das war sehr spannend.

zentral+: Können Sie den Stil von Pierre Wazem beschreiben?

Lavrenteva: Sie lacht. Ich versuche es. Pierre hat einen sehr expressiven Stil, ich nehme an, dass er sehr schnell zeichnet.

zentral+: Stimmt’s?

Pierre Wazem: Stimmt genau, ich habe eine schnelle Feder.

Lavrenteva: Und hinter seinen Strichen sind sehr viele Gefühle und Emotionen spürbar. Und es steckt sehr viel Energie darin, das sieht man sofort.

zentral+: Pierre Wazem, wie würden Sie Olgas Art zu zeichnen beschreiben?

Pierre Wazem: Während ich mehr mit Bleistift und Kugelschreiber arbeite, setzt Olga Fotos, Texte, Zeichnungen und Zeitungsartikel zu Collagen zusammen. Ihre Arbeiten sind vielleicht etwas weniger leicht als meine, dafür sind sie sehr poetisch.

zentral+: Auf Olgas Bildern sieht man Panzer, Explosionen, Gräber und Krieg. Ist es nicht problematisch, sich in Russland so politisch zu äussern?

Lavrenteva: Geplant war das nicht, ich habe Pierre einfach aus meinem Leben erzählt. Für mich ist es zur Zeit unmöglich, diese Themen in Russland auszublenden. Ein Freund von mir kämpfte bei den prorussischen Milizen in der Ukraine und kam dabei ums Leben. Er ging als Freiwilliger und verteidigte Menschen im Osten vor der ukrainischen Armee. Das habe ich in Zeichnungen zum Ausdruck gebracht.

zentral+: Die politische Situation in Russland ist angespannt, hier im Westen wird die mangelnde Pressefreiheit kritisiert. Können Sie als Künstlerin komplett frei arbeiten und zeigen, was Sie wollen?

Lavrenteva: Ich finde, wir sind ziemlich frei. Es gibt gewisse Themen, die heikel sind, das stimmt.

zentral+: Homosexualität?

Lavrenteva: Genau, darüber zu schreiben oder zu zeichnen dürfte schwierig sein.

zentral+: Da müssen Sie die Finger davon lassen?

Lavrenteva: Sie zögert einen Moment. Es ist nicht ein Thema, das mich als Künstlerin interessiert.

«Luzern hat fast zu viel Schönheit pro Quadratmeter.»
Olga Lavrenteva, russische Comic-Zeichnerin

zentral+: Was hat Sie beide am Anfang beim anderen am meisten erstaunt, als die ersten Zeichnungen ausgetauscht wurden?

Wazem: Ich war verblüfft, dass wir trotz verschiedener Stile so viel Gemeinsames haben. Die Art, wie sie ihre Gefühle zum Ausdruck bringt, ist im Grunde der meinen sehr ähnlich. Und so hat sich mit der Zeit eine Art Brieffreundschaft entwickelt.

Lavrenteva: Es ist lustig, heute schicken sich die Menschen fast nur noch Kurzinformationen in Form von SMS zu, wir haben es für einmal fast etwas altmodisch gemacht, indem wir uns gezeichnete Briefe verschickten. Eine viel langsamere und tiefgründigere Form der Kommunikation.

zentral+: Pierre, auf einer Zeichnung geht es um einen Mann, der eine Treppe runtergefallen ist, eine schwangere Frau und ein Baby – was hat das alles für einen Zusammenhang?

Vielschichtiges Comic-Projekt

Das Fumetto zeigt in einer Gruppenausstellung das Projekt «Pas de deux», bei dem sieben Zeichnerinnen und Zeichner aus Russland und der Schweiz zu je zwei Paaren und einem Trio zusammengeführt wurden. Die Künstler, die sich im Vorfeld nicht kannten, haben während eines Jahres zusammengearbeitet. Aufgabe war es, ein individuelles «Pas de deux» aufs (zeichnerische) Parkett zu legen und trotz weiter Distanzen, sprachlicher Barrieren und kultureller Unterschiede eine künstlerische Auseinandersetzung zu führen. Die Arbeiten sind in der ehemaligen Kapelle an der Rössligasse 12 ausgestellt.

Olga Lavrenteva (1986) lebt in St. Petersburg. Sie studierte Grafik und Design und arbeitet heute als selbstständige Grafikerin und Comic-Zeichnerin.

Pierre Wazem (1970) lebt und arbeitet in Genf. Nach einem abgebrochenen Kunststudium fing er an, Comics zu zeichnen. Wazem hat mehrere Auszeichnungen gewonnen und bisher über zwanzig Comic-Bücher publiziert.

Wazem: Es geht um einen Freund, der vor ein paar Jahren so gestorben ist, die Treppe befand sich bei der Geburtsstation, in der Jahre später meine Frau unser Baby gebar. Die Zeichnung soll einen Zusammenhang zwischen Geburt und Tod herstellen.

zentral+: Nun sind Sie beide in Luzern – wie gefällt es Ihnen hier?

Lavrenteva: Ich bin zum ersten Mal hier und muss sagen: Luzern ist wie ein Märchen, es hat etwas Unwahres.

zentral+: Unwahr?

Lavrenteva: Die Stadt ist so klein und so schön. Es hat fast zu viel Schönheit pro Quadratmeter! Sie lacht schallend. Ich bin seit zwei Tagen hier und jeden Abend todmüde, weil ich so viele schöne Menschen und Sachen gesehen habe.

Wazem: Ich habe Olga letzten Herbst in St. Petersburg besucht. Ich war mit meiner Frau und unserem Baby da. Uns hat die Stadt sehr gut gefallen, die natürlich viel grösser und weitläufiger ist als Luzern. Die Stadt ist nicht überall schön und sympathisch, aber wir könnten uns sogar vorstellen, dort zu leben. Die politisch schwierige Situation würde mich nicht davon abhalten, schliesslich ist die Schweiz auch kein Paradies. Man denke etwa an kriminelle Banker und Steuerhinterzieher.

zentral+: Sind russische Comics eigentlich anders als in Mitteleuropa?

Wazem: Wir haben hier eine lange Geschichte der Comic-Kultur, die Russen sind davon wenig beeinflusst. Darum gehen sie völlig frisch und unvoreingenommen ans Werk, was sehr spannend ist. Zudem haben sie ihre eigene Kunstgeschichte und Künstler, von denen sie beeinflusst sind. Es läuft sehr viel über grafische Gestaltung. Dieses Projekt und die Begegnung war sicher für beide bereichernd.

zentral+: Bald geht es los mit dem Fumetto. Freuen Sie sich auf die Ausstellungen?

Wazem: Ich komme seit vielen Jahren jedes Mal hierher, es ist ein sehr interessantes Festival.

Lavrenteva: Ich bin wie gesagt das erste Mal hier und habe noch nicht viel von der Ausstellung gesehen. Aber alle sind am Aufstellen und unheimlich beschäftigt. Ich bin sehr gespannt. Aber jetzt gehen wir erstmal was essen.


Ein Teil der zeichnerischen Brieffreundschaft wurde uns zur Verfügung gestellt:

 

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