Kolumne

Warum mich meine intimste Akte zum Grübeln bringt

Was wohl Isa jetzt wieder umtreibt? (Bild: Mike Bislin)

Es gibt Momente im Leben, in denen weiss man nicht so genau, warum man verletzt reagiert. Vermutlich, weil einem Verdrängtes aus der Vergangenheit überkommt. Was eine Patientenakte damit zu tun hat, lest ihr in der neuen Kolumne von Isabelle Dahinden.

Eigentlich fühl ich mich ziemlich erwachsen. Ich hab einen Job, eine Wohnung, ein Bankkonto, besitze mehr Champagner- und Weingläser als normale Trinkgläser. Alles ganz normal so weit. Und ja, bald steigt eine kleine Fete: Meine erste vollkommen ergraute Haarsträhne bahnt sich an!

Und doch fühle ich mich manchmal hilflos. Wenn die Emotionen überkochen, alles raus muss an Wut, Trauer und Schmerz – oder ich einfach in einer Situation die Reissleine ziehe. Und ich später dann denke: «Hätt' ich doch mal nicht so überreagiert. Tu' doch nicht so hypersensibel.»

Auf der Suche nach diesem inneren Kind

Ist das dieses innere Kind von mir, von dem so viele erzählen? In den letzten Monaten werde ich immer wieder damit konfrontiert. Ein Theaterstudent, der sich in seiner Ausbildung mit diesem inneren Kind beschäftigt. Eine Paartherapeutin, die mir letztens bei einem Interview erklärte, inwiefern uns dieses innere Kind beim Dating in die Quere kommt.

Ich fand diesen psychologischen Ansatz dieses inneren Kindes immer überbewertet. Klar: Die Kindheit prägt uns. Und davon geht dieses psychologische Modell ja auch aus. Dass Erfahrungen – gute und schlechte –, die ich als dreijähriges Mädchen gemacht habe, mich prägen. Unterbewusst, auch heute noch.

Nur: wozu?

Dennoch war mir das zu simpel. Meine Kindheit war super. Ich wuchs in einem grossen Holzhaus auf, mit einem riesigen, wilden Garten drum herum, in einem Kaff am Rande Luzerns. Mit den liebevollsten Eltern und einem Büsi. Nebenan gabs Schafe und ein Gehege mit Rehen. Bald schon gab ich ihnen allen Namen, zupfte für sie Gras ab.

Etwas älter – aber immer noch Kind – rauchten wir Nielen, dealten mit Diddle-Blättern auf dem Pausenhof und gründeten unseren eigenen Detektivclub. Wir tranken Himbeersirup aus Champagnergläsern, klauten die Stöckelschuhe unserer Mütter und nutzten den steilen Kieshang vor der Kirche als Catwalk. Wozu mich da mit diesem inneren Kind befassen, wenn doch alles so gut war?

Die Patientenakte zum Mitnehmen

Bis dann neulich die Praxisassistentin meines Hausarztes meine Patientenakte auf den Tisch vor mir knallte und meinte, die sei für mich. «Mer hend ez äbe alles digital.» Ob ich die einfach dalassen könne, fragte ich. «Zum heinäh», erwiderte diese.

Später bei der Bushaltestelle dieses trostlosen Kaffs packte ich also diese gelbe, gut zwei Zentimeter dicke Akte aus. 28 Jahre meines Lebens – zumindest ein Teil meines Lebens, der wohl nicht immer so rosig war. Eine chronische Krankheit, die mir gerade wieder seit Monaten üble Schmerzen im rechten Knie bereitet. Ich seh darin Briefe meines Hausarztes an Rheumatologinnen, Kardiologen und andere Spezialistinnen, ob er denn «dieses Mädchen», diese dreijährige Isabelle, an ihn überweisen könne. Röntgenbilder, Post-Its mit dem Gekritzel von Ärzten.

Vieles verdrängt

Sie schreiben da von einem Mädchen, «grazil, etwas schüchtern», dass eine wechselhaft, stark ausgeprägte Entzündung in ihrem einen Knie hat. Morgens nicht laufen kann. Ein Mädchen, dass scheinbar ungezähmt war. Sich von Ärzten nicht untersuchen lassen wollte, nicht angefasst werden und auch diese verdammten Medikamente nicht mehr schlucken wollte.

Es war eine juvenile Arthritis, vermutlich ausgelöst durch einen blöden Unfall, in Sekunden passiert und doch das Leben geprägt. Ich erinnere mich vage an Arzt- und Spitalbesuche, Knieschienen, Salben, Sirup und Physiotherapeuten. Ein Programm, auf das ich gelinde gesagt nicht ganz so Bock hatte. Jahre später, dazwischen lagen auch ein paar ruhige, schmerzlose Jahre, haben die Ärztinnen das juvenil dann gestrichen. Die Krankheit blieb. Und sie bleibt.

Ich verstaute die gelbe Akte wieder in der Tasche. Das meiste, was drin steht, habe ich verdrängt. Oder irgendwie verdreht. Ich dachte immer, ich sei älter gewesen als das Ganze begann. Aber 3-jährig? Was hat das damals mit diesem jungen Mädchen gemacht?

Vielleicht, vielleicht gibts da doch einen Grund, mich mit diesem inneren Kind mal auseinanderzusetzen, denke ich. Ein Buch dazu hab ich mir jedenfalls gekauft. Doch das habe ich jetzt mal im Bücherregal untergebracht. Die Patientenakte hab ich ebenfalls verstaut. Zuerst muss sich ein wenig Staub ansammeln.

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1 Kommentar
  • Profilfoto von tore
    tore, 14.05.2022, 11:37 Uhr

    Dranbleiben Isa – es lohnt isch 😉

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